Romeo und Iulia

Der siebenbürgische Sachs blieb früher gerne unter seinesgleichen. Darunter litt sein Genpool. Es setzte sich im deutschsprachigen Siebenbürgen einst nur zäh die Erkenntnis durch, dass man sich zum Zwecke der Vermehrung tunlichst außerhalb eines Radius von 60 Kilometern rund ums Heimatdorf nach einem Partner oder einer Partnerin umschauen sollte – es sei denn, man betrachtete Kinder mit sechs Fingern als willkommene zusätzliche Hand, die umso ordentlicher zupacken konnte.


Selbst Eingeheiratete von der anderen, genauso sächsischen, aber eben „falschen“ Straßenseite im selben Dorf sollen, so hört man es heute noch, einst nur brummend in den Kreis der Familie aufgenommen worden sein. So klein und überschaubar war die Welt damals. Wahlspruch war: „Mer wealle bleïwe, wåt mer sen!“


Sie waren Siedler jenseits der Wälder, wahrhafte, wehrhafte Hinterwäldler. Zu erklären ist hier ansonsten vorläufig nur, dass „Sachse“ einst ein Sammelbegriff für Wagemutige war, die das damalige mächtige ungarische Königreich im frühen Mittelalter aus dem Westen anwarb, um das karpatische Land hinter den Wäldern zu kolonisieren und zu verteidigen.


Im moselfränkischen Raum, anderen inzwischen als deutsch zu bezeichnenden Gebieten, dem heutigen Luxemburg, Flandern, den nördlichen Niederlanden erlagen Unerschrockene dieser Versuchung, die unter dem anzuerkennenden Wohlwollen des ungarischen Königs keine übrige Aldelsherrschaft kannte, mit etlichen Privilegien lockte (unter anderem: freie Richter- und Pfarrerwahl, Gerichtsbarkeit nach eigenem Gewohnheitsrecht, Zollfreiheit, freie Märkte). Aus dem heutigen Leipzig, Chemnitz, Dresden, Zwickau, auch nicht aus Hoyerswerda, kamen jene frühen Siedler ganz überwiegend nicht.


Zur weiteren Herkunftsherleitung der siebenbürgischen Sachsen verlässt der unbedarfte preußische Chronist sich hier sicherheitshalber weiterhin auf die Sebstdarstellung des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, der müsste es ja am besten wissen, nicht wahr:


„Die Niederlassung der Siebenbürger Sachsen, der ältesten deutschen Siedler auf dem Territorium des heutigen Rumänien (sic), im ‚Lande jenseits der Wälder‘ (terra ultrasilvana), erfolgte im 12. Jahrhundert im Zuge der deutschen Ostkolonisation. Die ersten ‚deutschen Gäste‘, die in der Hermannstädter Provinz angesiedelt wurden, folgten dem Ruf des ungarischen Königs Geysa II (1141 - 1161) zum Schutz der Grenzen gegen Mongolen- und Tatareneinfälle und zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes.“ 


Lassen wir mal beiseite, was „deutsch“ oder „sächsisch“ damals wirklich bedeutet haben mag. In der einschlägigen Literatur findet sich der Hinweis darauf, dass als „Sachse“ einst jeder galt, der sich mit Bergbau auskannte. Jener gelangte in Sachsen tatsächlich zu früher Blüte. Und edle Erze, das damals wichtige Salz sowie Metalle waren in Siebenbürgen gleichfalls zu bergen; das wussten schon die alten Römer, als sie die auf diesen Schätzen sitzenden Daker unterwarfen, jene Namensgeber für die rumänische Automarke Dacia. Unter den frühen Kolonisten in Siebenbürgen befanden sich jedenfalls neben Bauern und Handwerkern tatsächlich auch Bergleute.


„Schutz“ ist hier jedoch das wesentliche Stichwort. Die Zeiten und Sitten waren rau, die Bedrohungen vielfältig. Die „Sachsen“, wo immer sie auch hergekommen sein mochten, waren eindeutig Wehrsiedler. Daher das reiche und beeindruckende architektonische Erbe der sächsischen Kirchenburgen – ausgeklügelter Festungsanlagen, in die die Dorfgemeinschaft sich zurückziehen konnte, wenn sich mal wieder ein Einfall der periodisch marodierenden fremden Horden ankündigte.


Von der – hoffentlich – sicheren Feste gingen dann gewollte Feuer- und Rauchbotschaften weit ins Land. Im besten Fall breiteten sie sich schneller aus als die ruchlosen Invasoren. Im schlechtesten ging hingegen die Kirchenburg selbst in Feuer und Rauch auf, weil die Belagerer Stroh, Holz oder was sonst immer brennbar war, aufschichteten, anzündeten, die Eingeschlossenen ausräucherten.


Zur Sicherung des  gemeinsamen Überlebens in Friedens- wie Kriegszeiten herrschte in den sächischen Dörfern ein rigides Regime, dem man sich zum Nutzen Aller tunlichst zu unterwerfen hatte, vom rechtzeitigen Bestellen des Ackers in untereinander abzustimmender Dreifelderwirtschaft bis hin zum Arbeitseinsatz beim Bau neuer Häuser, dem eigenen Scherflein zum Überlebensproviant in der Kirchenburg und natürlich dem regelmäßigen Kirchgang.


Dies alles wurde vorgeschrieben, festgehalten, nachvollzogen, mit Sanktionen belegt, falls jemand nicht spurte, stiekum eine Speckseite beiseiteschaffte, bei einem Begräbnis nicht half. Soziale Kontrolle war überlebensnotwendig. Sie garantierte Zusammenhalt und Nachbarschaftshilfe. Im Zeichen des Kreuzes, zu Füßen der Kirchenburg.


Nun ist es ja nicht so, dass Siebenbürgen, das geografische Herz des heutigen Rumäniens, nur von Sachsen urbar gemacht, entwickelt und verteidigt worden wäre. Viele Völkerschaften hatten daran Anteil. Die Magyaren, die Ungarisch sprechenden Szekler. Die Landler auch, einst als unerwünschte Protestanten aus dem habsburgisch-katholischen Österreich nach Südosten abgeschoben. Dann die Zipser und wie sie noch alle hießen und heißen – man verliert da schnell den Überblick.


Jenseits Siebenbürgens wurde nördlich, südlich, westlich und östlich von diesem Landstrich innerhalb der heutigen rumänischen Grenzen fleißig geschafft, oft gedarbt und erduldet. Und vor allem lebten und arbeiteten im heutigen Rumänien natürlich immer Rumänen, selbstverständlich auch in Siebenbürgen, und zwar nicht zu knapp – auch wenn sie dort manchmal knappgehalten wurden. Im sächsischen Hermannstadt wurden sie zum Beispiel eine Zeitlang nicht geduldet, nicht mal als Gesinde.


Das rumänische Nationalbewusstsein entwickelte sich spät, aber umso heftiger. Die „nationale Erweckung“ Rumäniens seit dem 19. Jahrhundert mit all ihren nachwirkenden, auch territorialen Ansprüchen entzieht sich dem gesicherten Urteilsvermögen des Autors. Tatsache ist: Etwa 90 Prozent der Bevölkerung Rumäniens sind Rumänen. Das sollte nicht überraschen. Von den verbleibenden zehn Prozent machen die heute noch innerhalb der blau-gelb-rot markierten Grenzen der Republik Rumänien ansässigen Sachsen nach sowjetischer Deportation und Exodus in die Bundesrepublik Deutschland eine venachlässigbare Minderheit aus.


Sie werden in diesem Blog aus einer Nischenwahrnehmung heraus überproportional gewürdigt. Dem deshalb nicht ganz unvoreingenommenen Verfasser fiel das Thema „Mischehe“ auf: Ein Sachse freit eine Rumänin oder andersherum. Von den heute üblichen anderen Kombinationen, Spielarten und freigewählten sexuellen Orientierungen oder Geschlechtern soll hier nicht die Rede sein. Die sächsische Flagge zeigt sieben Türme und nur die Farben Rot und Blau, keine Regenbogenstreifen.


Siebenbürgen war kein „Melting pot“. Verschiedene Nationalitäten – Rumänen, Deutsche (nicht nur Sachsen), Ungarn (oder Szekler) – lebten schiedlich-friedlich nebeneinander, schlugen sich gegenseitig immerhin (mit einigen allerdings dann äußerst blutigen Ausnahmen) überwiegend nicht die Köpfe ein. Durchdrungen haben ihre Kulturen einander natürlich, sprachlich sowieso. Der Sachse nennt seinen Vater „Tata“, der Rumäne eine reifere Dame „Tanti“. Direkt gewünscht war das alles nicht, es hat sich halt so ergeben – Menschen sind Menschen. Von „Multikulti“ war aber eigentlich nie ausdrücklich die Rede.


Schon gar nicht beim Heiraten. Viele Romeo- und Julia-Dramen dürften in Siebenbürgen ungeschrieben geblieben sein. Wie die Liebe in Kleingroßdorf and beyond triumphierte, soll hier jedoch einen Ehrenplatz finden.


 

Ion Iliescu lächelt, immer noch. Der erste nach der Wende demokratisch gewählte Präsident Rumäniens, der für sein breites Grinsen bekannt war, ist zwar seit August 2025 tot, hier und dort im Land wird man aber dennoch an ihn erinnert. Auf den Straßen Rumäniens sind noch ein paar Exemplare des alten Dacia 1310 unterwegs, den die Einheimischen „Iliescus Lächeln“ tauften.


Eines dieser letzten Modelle aus rumänischer Produktion, aber mit heftigem Renault-Anteil, ist häufig auf einer Anhöhe halberwege zwischen dem ursprünglich deutschen Kleingroßdorf und dem schon immer rein rumänischen Nachbardorf Sus de Jos abgestellt. Seine beiden Insassen haben dann viel Grund zum Lächeln, während sie sich beim Liebesspiel auf der Rückbank des Oldtimers vergnügen.


Einen schönen Platz haben sie sich dafür ausgesucht, nicht weit von ihren beiden Heimatdörfern entfernt, dennoch abgeschieden, mit gutem Blick auf beide Orte – den die Liebenden sich aus naheliegenden Gründen selten gönnen. Nur sehr wenige versprengte Wanderer ziehen bisweilen vorbei, genießen die Aussicht – und  beschleunigen dann ihren Schritt, wenn sie mitbekommen, welcher Art Belastungstest die Stoßdämpfer des alten Gefährts am Wegesrand gerade unterworfen werden. Ansonsten tummelt sich da oben höchstens eine Schafherde, und der Cioban (Schäfer) wie seine sonst so wachsamen Hunde haben sich daran gewöhnt, um den immer wieder auftauchenden alten Dacia einen diskreten Bogen zu machen.


Meist steht das Auto auf einer Wiese nicht weit entfernt von einer Troita, einem kleinen Kapellchen, das die Wegkreuzung dort ziert, wo es zu beiden Dörfern jeweils wieder hinabgeht oder weiter in die Berge hinein. Seit Neuestem steht dort auch ein Wegweiser, der einen touristischen Rundweg ausweist – ein Anzeichen dafür, dass Schäferstündchen bald vielleicht immer öfter gestört werden, für den Cioban wie das Liebespaar, das ein heimliches ist.


Romeo ist die Heimlichtuerei sowieso leid. Er heißt gar nicht so, sein Name ist Stefan. Aber Iulia nennt ihn immer nur „meinen Romeo“. Stefans Familie wurzelt tief in Kleingroßdorf, seit Generationen. Sein Großvater erlebte dort noch die Zeit, in der das Dorf mehrheitlich von Deutschen bewohnt war. Iulias Familie stammt aus Sus de Jos, einen Steinwurf über den Hügelrücken entfernt. Ihre und Stefans Familien trennen dennoch Welten.


Er ist Sachse, evangelisch, sie Rumänin, orthodox. Das und vieles Andere ist für die beiden Achtzehnjährigen kein Problem, schon gar nicht beim Sex. Sie sind nicht sonderlich gläubig – oder eigentlich doch und unbedingt: Sie glauben beide an die Liebe. Ihre.


Eine reine, dennoch leidenschaftliche ist diese, wie sie in jenem erkundungsfreudigen Alter vorkommt, wenn man Glück hat. Und ein Romeo eine Iulia findet. Aber dieses Glück muss vorläufig verborgen bleiben, denkt das Paar: Deshalb treffen sie sich heimlich.


Stefan ist seit einigen Monaten Führerscheinbesitzer. In der Garage seiner Eltern stand sorgsam eingemottet der Dacia 1310, den hat er wieder flottgemacht und fährt damit, wann immer es unauffällig geht, zur Troita an der Wegeskreuzung, über ungepflasterte Pisten. Dort erwartet ihn dann Iulia, an deren Elternhaus er nicht vorfahren und sie einladen darf.


Vor der Troita steht eine Bank. Auf der verschnaufen sie manchmal an der frischen Luft, wenn sie sich aus dem Dacia und ihren Umarmungen geschält haben. Durchgesessen ist diese Bank, vielfach geflickt. Vier Pfeiler stützen das Kapellendach. Es schützt einen umgitterten Gedenkstein, auf den ungelenk ein Heiligenbild gemalt ist.

 

„Wie mag der Heilige wohl heißen?“, fragt Iulia ihren Romeo in einer Atempause zwischen verzückten Küssen unterm Vollmond. Der Geliebte lässt zögernd von ihren Lippen ab und nimmt die Frage ernst. „Ich kenne mich mit euren orthodoxen Bräuchen und Heiligen nicht aus“, entgegnet er. „Lass mich googeln.“


Er zückt sein Smartphone, sie ihres auch. Ihre Mutter fragt auf WhatsApp, wann sie endlich nach Hause komme, es sei nun doch schon recht spät. Und was sie überhaupt so treibe. Iulia erfindet eine Geschichte von Freundinnen, mit denen sie noch abhänge; schnell, repede, kehre sie zurück.


Romeo ist fündig geworden. „Hier steht ziemlich viel über orthodoxe Heilige“, sagt er. „Weil es offenbar echt viele davon gibt.“ Er erspart Iulia die Einzelheiten, auch, dass einige Heilige der rumänisch-orthodoxen Kirche sogar noch aus dem 20. Jahrhundert stammen, wegen ihrer tiefgläubigen Standhaftigkeit gegen die Verfolgung durch den kommunistischen Geheimdienst Securitate verehrt.

 

Romeo belässt es bei der allgemeinen Information: „Manche Heilige haben nur im Sitzen geschlafen, andere nie einen Fetzen am Leib getragen. Die meisten haben viel gefastet, und oft sind sie einen ziemlich blutigen Märtyrertod gestorben.“


Iulia bekreuzigt sich erschrocken. „Der hinter uns auch?“, fragt sie bang und blickt über die Schulter. „Keine Ahnung“, sagt Romeo, schaut genauer hin und fügt hinzu: „Der sieht wohlgenährt aus. Hat einen Speer in der Hand. Vielleicht ist es ein Erzengel, Michael womöglich. Würde Sinn ergeben: Die Kirchenburg von Kleingroßdorf ist ja ihm geweiht.“


Iulia schmiegt sich an ihn. „Ja“, sagt sie, „ein Engel. Das wäre schön. Ein Engel, der über uns wacht.“ Stefan verschweigt ihr, dass er beim Googeln auch auf die „Legion Erzengel Michael“ gestoßen ist, eine faschistische, zeitweise einflussreiche politische Bewegung aus der rumänischen Geschichte der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts, an die fanatische Unbelehrbare noch heute anknüpfen.


Es wird Zeit zu gehen. Der Fußweg nach Sus de Jos ist mondbeschienen. Iulias Romeo bietet an, sie zu begleiten. Sie lehnt ab. Leichtfüssig und schnell muss sie sich nun davonmachen, nach einem letzten, jetzt flüchtigen Kuss. Mit um so vollerem Herzen, darin ein Geheimnis, nimmt sie Stock und Stein. Stefan schaut ihr nach, liebt jeden Schritt.


Dann sitzt er allein auf der Bank. Hart erscheint sie ihm nun. Nachdem er Iulia lange nachgeblickt, vergeblich auf ein letztes Zurückwinken gehofft hat, prüft er auf seinem Handy noch einmal das Ergebnis seiner Google-Suche nach dem Heiligen, der am Ort der intimen Zusammenkunft mit seiner geheimen Liebe verehrt wird.


Er findet wiederum nur verwirrende Treffer. Der Heilige Valentinus wird es wohl nicht sein, den verehren die Rumänisch-Orthodoxen nicht als Schutzheiligen der Liebenden. Deshalb rennen rumänische Männer auch nicht panisch am 14. Februar in die Blumenläden, sondern am 8. März. Was wiederum nichts mit der Kirche zu tun hat, sondern mit dem unter sozialistischer Ägide installierten Internationalen Frauentag.


Zum Thema Liebe, das merkt Romeo/Stefan sich, hat die Orthodoxie aber zu sagen: Ihre grundlegendste Bedeutung sei, alles Mögliche für das Wohl Anderer zu tun. Dies nimmt er sich vor. Und seine sehr persönliche Andere heißt: Iulia. Für immer. Deshalb wird er um ihre Hand anhalten. Bei ihren Eltern, die bislang nichts von ihm wissen. Seinen eigenen wird er diesen Entschluss zuvor auch irgendwie beibiegen. Hofft er.



Eine Woche später:



Vor Iulia war Romeo im Angesicht des Engels Michael – auf den hatten sie sich inzwischen geeinigt – in die Knie gegangen, als die Angebetete das nächste Mal auf der krummen und schiefen Bank vor der Troita saß. Dies war trotz allen Herzklopfens die leichteste Übung, das geschwindeste Ja gewesen. Sie hatte ihn mit zärtlichen Händen aufgehoben, ihm in die Augen geschaut, die Schultern gestrafft und gesagt: „Und jetzt?“


„Und jetzt“, hatte er erwidert, „werden wir kämpfen.“ Ihm war gewesen, als ob Michael, Herr der himmlischen Heerscharen, Bezwinger des Satans, dazu im Hintergrund ermunternd seinen Speer erhoben hätte.


Aber jetzt gerade, in diesem entscheidenden Moment, fühlt Romeo sich mehr wie der kleine Stefan, der er mal war: sehr verzagt. Er steht vor seinem Vater und erinnert sich an den 80. Geburtstag des Großvaters.


In Kleingroßdorf war das eine bedeutsame Feier gewesen. Der Großvater war nicht irgendwer, sondern ein Patriarch, Honoratior, alteingesessener Sachs, Kirchenältester. Die Kopfzahl der beträchtlichen Nachkommenschaft des Abzufeiernden samt sämtlicher Verschwippter und anderweitig mit seiner angesehenen Familie Verbandelter hatte die Anmietung des Seminarraums des bewährten evangelischen Begegnungsheims des Dorfes erfordert, in dem viele der geladenen Gäste auch über Nacht absteigen konnten.


Dort, im ersten Stock des modernen Anbaus der christlichen Traditionsherberge, kam man in einem großen Saal zusammen. Am Kopf der Tafel saß natürlich der rüstige Jubilar, gütig lächelnd. Vor ihm erstreckten sich links wie rechts zwei gleichlange Schenkel zusammengestellter Tische, beidseitig besetzt.


Es war wirklich eine große Feier, das Stimmengewirr enorm. Auf der einen Seite wurde strikt Rumänisch gesprochen, auf der anderen nur Deutsch. Im Laufe der Jahre, zur Sicherung der folgenden Generationen, hatten sich „Mischehen“ zwischen Rumänen und Sachsen ergeben, aber so richtig gemischt war Stefan die Festgesellschaft nicht vorgekommen.


„Apartheid“, bricht es aus ihm hervor. „Wie bitte?“, sagt sein Vater stirnrunzelnd, ihm zur Seite die Mutter mit prüfendem, besorgtem Blick auf den Sohn, denn der hatte um eine Unterredung „in einer ernsten Herzensangelegenheit“ gebeten.


Stefan stammelt: „Ich bin.. Ich habe… Ich werde…“


Die Mutter legt ihm ihre Hand auf die Stirn. „Du bist ja ganz heiß, mein Junge.“ Sie tauscht einen ernsten Blick mit dem Vater. Drogen?


Dann spricht Romeo entschieden und mit fester Stimme aus Stefans Mund: „Ich bin verliebt. Ich habe eine Freundin. Ich werde sie heiraten. Sie ist Rumänin.“


Nun ist es heraus. Die Mutter atmet zunächst erleichtert auf: keine Drogen! Der Vater lächelt gezwungen und sagt: „Ja, das soll in Rumänien vorkommen, dass man sich in eine Rumänin verliebt. Die Chancen dafür stehen gut.“ Kurzer Seitenblick auf die Gattin. „Aber bist du sicher, dass du sie gleich heiraten musst? Ist da etwa schon was Kleines unterwegs?“


Romeo und Stefan nicken zum ersten Teil der Frage und schütteln zum zweiten den Kopf, beide beides unbedingt und entschieden.


Die Mutter hebt die Hände.


„Stellst du sie uns bald vor?“, fragt sie. Der Vater nickt dazu. „Sie ist natürlich orthodox“, stellt er mehr fest, als dass er es fragt. „Nun ja,“ antwortet Stefan, „etwa so orthodox wie ich evangelisch.“ Also kaum, denkt er sich dabei.


Die Mutter ringt ihre Hände nun.


„Ach Junge,“ seufzt sie, „hast du dir das auch gut überlegt? Was ist denn mit deiner netten Klassenkameradin aus dem deutschen Gymnasium, wie hieß die doch gleich… diese, äh, Gertraud? Ein feines Mädel. Ihr habt euch doch immer so gut verstanden, und zum Tanz wart ihr auch schon.“


Genau, denkt sich Stefan. Das war in dieser Folkloretanz-Gruppe, die sächsisches Brauchtum pflegt, aber zu 90 Prozent aus Rumänen besteht. Genau dort, beim „Dreher“, hat die fesche Iulia mir den Kopf verdreht. Die plumpe Gertraud war da schon außer Puste.


„Nun“, sagt der Vater, und er will milde erscheinen, „das scheint mir alles noch recht unausgegoren. Am besten ist wohl, wir lassen uns das alles noch einmal gut durch den Kopf gehen, vor allem du.“ Damit schlägt er seine „Allgemeine Deutsche Zeitung“ wieder auf und ist das Gespräch beendet.


Fürs Erste, so redet Stefan sich ein, lief das gar nicht schlecht, jedenfalls wurde es nicht laut. Er hört viel Radio Romania Cultural, um sein Rumänisch zu perfektionieren. Er spricht es natürlich recht gut, aber so ab und zu, vornehmlich in den späten Abendstunden, überfordern ihn auf diesem Sender Hörspiele, in denen viele aufgeregte rumänische Stimmen durcheinander krakelen, es ist die reinste Wirtshaus-Atmosphäre – oder ein Familienstreit in Sus de Jos vielleicht, in Iulias Elternhaus.


Kurzer WhatsApp-Austausch mit Iulia: Sie hat ihre Eltern auf einen Besucher eingestimmt. Ihn. Romeo. Er wird zunächst als Stefan vorsprechen und sich dann als Romeo entpuppen. Morgen Mittag. Es wird eine unruhige Nacht für beide, Stefan wie Romeo. Für Iulia auch.



Am nächsten Tag in Sus de Jos, auf die Minute genau um 13.00 Uhr:



Ein Dacia 1310 fährt vor. Ihm entsteigt Stefan, aber er sieht aus wie Romeo: bester Sonntagsstaat, Gel im Haar, Blumenstrauß in der Hand. Natürlich nicht für Iulia, sondern für ihre Mutter. Er hat sich instruieren lassen: Sie mag Kornblumen. Für ihren Vater hat er eine Flasche dabei, beste Zuika, den traditionellen rumänischen Obstschnaps, natürlich selbstgebrannt, wenn auch nicht im eigenen Haus, sondern von den rumänischen Nachbarn der Eltern erworben.


Schlag Eins hatte man Stefans Eintreffen nicht erwartet, Pünktlichkeit ist eher ortsunüblich. Er läutet zwei Mal vergeblich und schilt sich einen Narren: klar, der Deutsche, steifes Rückgrat, eingebautes Uhrwerk, so wird man ihn wohl wahrnehmen.


Iulia macht auf. Sie bittet ihn höflich herein, wie einen Fremden. Er kann sehen, dass sie geweint hat. Das fängt ja gut an.


Durch die Diele zieht Zwiebelduft. Iulia hat ihrer Mutter beim Kochen geholfen und die Zwiebeln geschnitten. Das erklärt die Tränen. Stefan leistet sich einen kleinen Aufatmer. Aber seine Geliebte wirkt im eigenen Haus befangen, so hat er sie noch nie erlebt.


„Geh‘ bitte schon ins Wohnzimmer zum Vater. Mutter und ich sind noch mit der Ciorba beschäftigt. Ach, die schönen Blumen! Ich bringe sie der Mama gleich.“


Stefan nickt geistesabwesend. Es gibt also Suppe, was sonst. Und gleich ein Gespräch von Mann zu Mann. Er fasst die Zuika-Flasche fester und tritt in die gute Stube.


Es sieht aus wie bei ihm zu Hause, vielleicht eine Spur bunter, vielleicht mit mehr Folklore. Über dem Sofa hängt farbenfrohes Handgewebtes, auch die eine oder andere Ikone. Darunter sitzt Iulias Vater, ein breit ausladender Mann mit stattlichem Schnurrbart und festem Händedruck.


„Bine ati venit!“, begrüßt er Stefan förmlich, für den er sich erhebt und ihm forschend ins Gesicht blickt. Der Besucher lässt sich auf einen etwas zu langen Wettstreit beim beherzten Fingerknöchel-Malträtieren ein, weil er nicht unmännlich erscheinen will, und antwortet passend, wenn auch etwas flach: „Bine v-am gasit, Domnule Domitru.“


Recht frei übersetzt bedeuten diese Begrüßungsfloskeln so viel wie „Schön, dass wir einander gefunden haben“, aber Stefan ist sich alles andere als sicher, dass man sie in diesem Fall so wörtlich nehmen sollte. Eine Stille entsteht, während beide Männer sich gegenüberstehen. Stefans rechte Hand schmerzt. Er streckt die linke vor, mit der er die Zuika-Flasche umklammert hält.


Iulias Vater geht zu einer Vitrine und entnimmt ihr zwei Stamperl. Er stellt sie auf den Sofatisch und lädt in den davor stehenden Sessel. Nachdem er seinen angestammten Platz auf der Couch wieder eingenommen hat, schenkt er beide Gläser randvoll. Er erhebt das seine, ohne einen Tropfen zu verschütten. „Sanatate!“ Stefans Hand zittert. Er schafft es dennoch, sein Glas gleichfalls unfallfrei zum Mund zu führen und auf einen Zug zu leeren.


Iulias Vater hält sein leeres Glas vor sich und betrachtet es eingehend, es dabei hin und her schwenkend. „Diese Zuika hat der Mihai aus Kleingroßdorf gebrannt, den kenne ich, seinen Schnaps auch, er macht ihn immer zu kratzig. Ist der euer Nachbar?“


Zu kratzig. Schlechter Start. Aber Iulias Vater schenkt nach. So mies kann der Stoff nicht sein. „Der Mihai, ja, der wohnt neben uns“, beginnt Stefan und will etwas Anerkennendes über den rumänischen Nachbarn und dessen Familie sagen, feine Leute, großzügig, hilfsbereit…


„Ein Halsabschneider ist der“, kommt Domnule Domitru ihm zuvor. „Ich glaube, der war Securist. Was hast du bezahlt für die Flasche, Junge? Na. Ist egal.“ Er kippt das zweite Glas – Stefan tut es ihm eilfertig nach; der scharfe Schnaps zur Mittagszeit beginnt bei ihm schon seine Wirkung zu tun.


Iulias Vater geht wieder zur Vitrine und holt eine andere Flasche heraus, stellt sie mit Aplomb auf den Tisch. „Palinka, von hier“, sagt er dazu mit drei Ausrufezeichen. „Schenk uns nach, Junge!“


Stefan tut, wie ihm geheißen, und er hofft, dass bald Essen auf den Tisch kommt. Doch damit sieht es schlecht aus. Iulia öffnet knapp die Tür zum Wohnzimmer und informiert die Herren durch den Spalt: Es wird in der Küche noch etwas dauern. Sie sollen sich einstweilen recht gut bekannt machen, richtet sie von der Mutter aus, die sich vorläufig entschuldigen lässt. Ihr ist die Bors ausgegangen, die saure Suppenbasis, sie muss schnell bei der Nachbarin um Nachschub vorstellig werden, denn: ohne Bors keine Ciorba.


Stefans Glas ist schon wieder voll, sein Gastgeber will sich nicht lumpen lassen. Ablehnen kann sein Besucher nicht, zumal es sich nun ja um die gute Palinka aus den Beständen des Hausherrn handelt.

 

Zuika oder Palinka kaufen in Rumänien nur Touristen im Einzelhandel. Beide Schnäpse sind Obstbrände, die Palinka ist die etwas heftigere Version. Zuika wird traditionell aus Pflaumen gebrannt, in die Palinka darf auch anderes Obst. Beiden Spirituosen ist gemein, dass man sie entweder selbst daheim destilliert oder jemanden kennt, der über einen ordentlichen Kupferkessel, die übrige nötige Alchimisten-Apparatur und vertrauenswürdige Expertise sowie ein Gewissen verfügt.


„Sanatate!“ Iulias Vater legt vor, Stefan zieht nach. Jungejunge! Nach Luft ringen wäre schwächlich, also reißt er sich zusammen. „Foarte bine“, presst er sich ab und sinkt tiefer in den Sessel. „Sehr gut!“

„Das will ich meinen“, sagt Iulias Vater, „ist mein Bester! Noch einen?“ Er wartet die Antwort nicht ab.


Stefan hält tapfer mit. Aber so langsam beginnt er daran zu zweifeln, dass er diesen Besuch unbeschadet überstehen wird. Ihm wird heiß. Seine Kehle brennt. Irgendwer scheint am Wohnzimmer zu drehen. Der Schnurrbart seines Gegenübers tanzt auf und ab. Stefan schaut den Bewegungen der Manneszier fasziniert zu und hat Mühe, sich darauf zu konzentrieren, was aus dem darunterliegenden Mund dringt.


„Asa, asa. Soso. Du bist also Iulias Tanzpartner. Was tanzt ihr denn so?“

„V-vor allem den Dreher“, sagt Stefan und hält sich an den Armlehnen des Sessels fest.

„Asa, asa. Den Dreher also. Sächsische Sache, was?“


„S-soweit ich weiß, tanzt man ihn auch in Bayern und Österreich“, antwortet Stefan und versucht, nicht altklug zu klingen. „Aber wir mögen auch die Kreuzpolka und den Siebenschritt“.


„Siebenschritt, asa, asa.“ Iulias Vater schenkt nach. „Magst du denn auch unsere rumänische Muzica populara, mein Junge?“


„Gewiss, cu siguranta.“ Stefan muss schon wieder mittrinken. Der wievielte ist das jetzt eigentlich? Ach, ist ja egal. Nici o problema. „Kein Problem!“ Hat er das gerade gesagt? Auf Deutsch oder auf Rumänisch? Stefan umklammert sein leeres Glas. Nicht auf den Tisch stellen! Sonst kippt der Schnurrbart wieder nach! Wo ist der eigentlich?


Hinter Stefans Sessel dreht der Hausherr die Stereo-Anlage auf.


Die Klarinette ist ein feines Instrument. Ihr Tonumfang bringt es auf vier Oktaven. In der hohen Lage kann sie schrill und spitz klingen. Davon macht die rumänische Musica populara gern Gebrauch. Auch das Akkordeon hat es in sich, wenn es zur rumänischen Volksmusik aufspielt. Und der Gesang erst – pure Lebensfreude!


Stefan hat das Glas unvorsichtigerweise doch wieder auf den Tisch gestellt, wie er feststellt, als es erneut bis zum Rand gefüllt vor ihm steht. Pure Palinka.


Iulias Vater sitzt ihm wieder gegenüber, wippt mit den Füßen und sagt etwas. Stefan hört nur aus den Lautsprechern: „Sapte vai si o vale adanca“, offenbar das Lieblingslied des Schnurrbarts, der nun wie ein Propeller zu kreisen scheint.


„Sanatate!“ ruft Stefan, das passt immer, kann "Gesundheit", "Prost", "danke", "alles Gute" heißen. Gutes Zeug, diese Palinka! Gibt’s noch mehr davon? Cu siguranta.


Drei Gläser später ist die Suppe endlich fertig, Iulia will die Herren ins Esszimmer zu Tisch rufen. Als sie die Tür zur Wohnstube aufdrückt, sieht sie ihren Vater und ihren Liebhaber, die sich über den Couchtisch bei den Händen gefasst haben, die Arme auf und nieder pumpen und aus Leibeskräften mitsingen: „Sapte vai si o vale adanca! – Sieben Täler und ein tiefes Tal!“


Stefan schwankt; wäre er nicht an Iulias Vater geklammert, würde er womöglich auf den Teppich purzeln. Aber er ist bester Laune und ruft: „Hast du auch ‚Über sieben Brücken musst du gehen‘, Ion?“

Man ist also schon beim Du. Iulia nimmt das mal als gutes Zeichen. Und die Palinka-Flasche vom Tisch.


Ihre Mutter tritt ein. Iulia stellt die Musik ab. Stefan lässt verlegen Ions Hände los, wendet sich der Dame des Hauses zu und sagt artig: „Sarut mana, doamna.“ Er deutet dieses „Küss die Hand, Madam“ sogar mit einer Verbeugung zur gereichten Hand an, muss aber aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Iulia springt hinzu, umfasst ihn von hinten, um ihn zu stabilisieren, blickt ihrer Mutter über seine linke Schulter in die Augen und sagt: „Das ist er, Mama: mein Romeo.“


„Asa, asa.“  Die Mutter ist die Vorwegnahme des Alterns der Tochter; die gleichen schönen, tiefbraunen, fast schwarzen Augen, das energische Kinn, die anmutige Kopfhaltung – nur alles ein bisschen angeknittert natürlich und mit Jahresringen um die Taille.


Bevor Doamna Domitru den Besucher eingehend mustert, wirft sie zunächst einen Seitenblick auf ihren Gatten, um zu taxieren, in welcher Phase der fortgeschrittenen Lebensfreude der sich gerade wieder befinden mag. Zehn Gläser, schätzt sie akkurat, sie kennt den Alten.


„Willkommen“, begrüßt sie Stefan auf Deutsch. Und setzt auf Rumänisch fort: „Meine Tochter hat viel Gutes über Sie erzählt. Aber etwas spät. Gerade erst, in der Küche. Wie lange machen Sie ihr denn schon den Hof? Aber vielleicht sollten wir das beim Essen besprechen. Nach der Ciorba gibt es Sarmale. Bitte, kommen Sie ins Esszimmer! Du auch, Ion. Und lass die Flasche hier.“


Nach der Suppe entblättern Iulia und Stefan die vorzüglichen Krautwickel und ihr Verhältnis zueinander. Der Vater brummt. Die Mutter schweigt. Ohne sie und ohne Essen war es vorher lustiger, findet Stefan. Er hat seinen unausweichlichen Kater jetzt schon.


Nach dem Mahl verabschiedet er sich schnell. Ihm scheint, dass Ion ihm zuzwinkert, als der ihn zur Haustür bringt. Aber das kann auch an der schummrigen Flurbeleuchtung und der Palinka liegen. Von Iulia kann er sich nicht angemessen verabschieden. Die, darauf deuten die schrillen Frauenstimmen aus dem Esszimmer hin, streitet mit ihrer Mutter.


Stefan lässt den Dacia stehen. Es wird ein langer, einsamer Fußweg nach Haus.


Eine Woche später:


Das erste Zusammentreffen der Eltern und zukünftigen Schwiegereltern ist ein Erfolg. Aber nur, wenn man das Ausbleiben von Handgreiflichkeiten als solchen durchgehen lässt. Stefans Vater monologisiert über die famosen historischen Leistungen der Siebenbürger Sachsen: „Ein unbeugsames Kulturträgervolk!“ Kaum jemand weiß, worüber er spricht; vom Andreanum, Honterus und Teutsch. Er rollt dabei bedeutsam mit den Augen und macht weit ausholende Gesten, als ob er von einer Kanzel predigen würde.


Die beiden Mütter schweigen. Lebhafter wird es erst zwischen ihnen, als das Essen auf den Tisch kommt. Man hat sich auf Wunsch der Kinder auf neutralem Boden getroffen, in einer internationalen Gaststätte der Großen Stadt. Die bietet weder sächsische noch rumänische Küche. Wahrscheinlich finden sämtliche Eltern zum ersten Mal in ihrem Leben Kimchi auf ihren Tellern vor. Sie wissen wenig damit anzufangen.  


Beim misstrauischen Begutachten des scharfen koreanischen Kohls entspannt sich unter den beiden Damen ein lebhaftes Gespräch darüber, ob Klausenburger Kraut wohl Sarmale vorzuziehen sei – oder andersherum, je nachdem, wer am Wort ist. Jedenfalls, so sind sie sich nach dem ersten Bissen Kimchi nach Atem ringend einig, sind beide Gerichte mit ziemlicher Gewissheit bekömmlicher als das, was ihnen heute vorgesetzt wird.


Stefan hantiert unverdrossen mit seinen Stäbchen, obwohl ihm der ungewohnte Balanceakt äußerste Konzentration abfordert. Iulia sieht mit Entsetzen, wie er die prekär gehebelten Bissen nur knapp am blütenweißen Oberhemd emporjongliert. Ihr Vater Ion hingegen betrachtet fasziniert Stefans Bemühungen. Ion ist bereits betrunken aufgekreuzt. Als er Gabel und Löffel beiseitelegt, um es seinem Schwiegersohn in spe gleichzutun, entsteht ein ziemlicher Schlamassel.


Man hätte die Situation vielleicht noch retten können, wenn Stefans Vater Ion nicht eine Serviette gereicht hätte, mit den Worten: „Servetele, Sie wissen doch wohl, wie man so etwas benutzt?“


„Sapte vai si o vale adanca“ wurde an diesem Abend nicht miteinander gesungen.


Drei Monate später:


Man hat sich zwischen den beiden Familien nicht auf eine Kirche einigen können, also wurde es keine. Keine kirchliche Trauung. Stefan ist es egal. Iulia findet, dann braucht sie auch kein Brautkleid, obwohl sie gern eins getragen hätte. Das schlichte Kostüm steht ihr auch, es wölbt sich ein wenig über ihrem Bauch, aber das retuschiert der Hochzeitsfotograf aus den Bildern heraus.


Beide Elternpaare sind nicht zum Standesamt gekommen. Es ist eine karge Trauung, als Zeugen halten ein Onkel und eine Tante her, denen das ganze rumänisch-sächsisch-orthodox-evangelische Getue recht egal ist.


Es ist trotzdem ein besonderer Tag, sogar ein schöner. Die Sonne lacht über der Großen Stadt, ihrem Großen und dem Kleinen Ring, und die Ringe, die Romeo und Iulia austauschen, sind schlicht, aber funkeln. Mehr noch glänzen die Augen der beiden, als sie sich bei den Händen fassen und dann einen Kuss austauschen.


Gefeiert wird dann doch noch, mit beiden Familien. Als Hochzeitsgeschenk hat Iulias Vater fünf Liter Zuika aufgeboten, wohlverschlossen, sogar versiegelt, in aufwendig getöpferten irdenen Krügen mit kunstfertigen Verzierungen. „Die dürft ihr nur bei Geburten oder so öffnen, zu ganz besonderen Anlässen halt“, raunt er seiner Tochter zu. Sein Atem verrät Iulia, dass er selbst heute schon wieder einen gefunden hat.


In den Saal der Traufeier treten Romeo und Iulia durch Birkenbögen ein. Ein paar Burschen aus beiden Dörfern haben junge Bäume geschnitten und die biegsamen Stämme arrangiert, wie es Brauch ist. An der Hochzeitstafel sieht es dann genauso aus, wie Stefan es vom 80. Geburtstag des Großvaters in Erinnerung hat: Am Kopf der Tafel sitzt natürlich das Brautpaar. Vor ihm erstrecken sich links wie rechts zwei gleichlange Schenkel zusammengestellter Tische, beidseitig besetzt. Das Stimmengewirr ist enorm. Auf der einen Seite wird strikt Rumänisch gesprochen, auf der anderen nur Deutsch.


Es gibt Ciorba, Mici und Mamaliga (Fleischröllchen mit Polenta), es gibt Hochzeitssuppe mit selbstgemachten Nudeln, gekochtes Rind- und Hühnerfleisch mit Soße und Kartoffelpürree, es gibt Gulasch und Paprikasch, denn es sitzen auch ein paar Ungarn und Szekler am Tisch, es gibt Baumstriezel und Hanklich. Und es fließen Sachsenwein, Zuika und Palinka.


Die Stimmung steigt. Iulias Vater stimmt ein Lied an. Alle kennen den Text, aber nur die Rumänen singen mit. „Sapte vai si o vale adanca“.  Als der linke Flügel der Hochzeitstafel richtig in Fahrt gekommen ist, heben die Sachsen von rechts kehlig an: „Siebenbürgen, Land des Segens, Land der Fülle und der Kraft!“


Stefan fasst sich an den Kopf und stöhnt: „Casablanca, andersrum!“ „Was?“, fragt Iulia verständnislos. „Ist egal“, erwidert er, fasst sie bei den Händen und sagt: „Schau mir in die Augen, Kleines!“


Ein Jahr später:


Der kleine Michael ist ein Schreikind. Er raubt den Eltern jeden Nerv und jeden Schlaf. Unterstützung, Entlastung ist von den Großeltern nicht zu erwarten. Die sind endgültig verfeindet, haben der jungen Ehe ihren Segen entzogen.


Iulia und Stefan sind in eine kleine Wohnung in einem „Bloc“ der Großen Stadt gezogen, in eine Plattensiedlung aus Ceausescu-Zeiten. Er fährt mit dem Dacia für Uber und studiert nebenbei, Romanistik und Germanistik. Sie hat mit dem Kind alle Hände voll zu tun; wenn sie doch mal Zeit hat, übersetzt sie Sachbücher vom Deutschen ins Rumänische, Stefan hilft ihr dabei.


Ab und zu passt eine Tante auf den Kleinen auf. Dann fahren sie zur Troita auf der Anhöhe zwischen Kleingroßdorf und Sus des Jos. Sie sitzen auf der windschiefen Bank und genießen den Ausblick.


„Bereust du was, Iulia?“ fragt Stefan dort eines Abends. „Nichts“, sagt sie und ergreift seine Hand. „Gar nichts, Romeo.“ „Ich nur eins“, sagt er scherzhaft. „Wir haben die erste Flasche Zuika noch gar nicht geöffnet. Dabei könnten wir bald die zweite köpfen.“ Er streichelt seiner Frau zärtlich über den Bauch. „Die soll dann aber mein Vater entkorken“, antwortet Iulia, „und deiner muss endlich mittrinken.“ „Vielleicht“, sagt Stefan, „vielleicht.“


Sie müssen früh, mit der Abenddämmerung, wieder nach Hause; die Tante hat nicht ewig Zeit, und der Kleine wird schnell unruhig. Wenn die Nacht hereingebrochen ist, sitzt mitunter eine Nachtigall auf dem Dach der Troita und singt ihr Lied.





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