Was in Kleingroßdorf so passiert, believe it or not. Zum Beispiel:


  1. Evangelischer Speck
  2. Deus ex Masina
  3. Im Zweifel für den Angeblökten




1. Evangelischer Speck


 

Ganz Transsilvanien ist vom Halloween-Virus infiziert. Ganz Transsilvanien? Nein! Ein noch von ein paar Siebenbürger Sachsen bewohntes Dorf so ziemlich in der Mitte Rumäniens hört nicht auf, dem invasiven Kommerz Widerstand zu leisten. Am 31. Oktober begehen die Sasi, wie die Rumänen die alten Saxones nennen, dort mit einem altsächsischen Gottesdienst den Reformationstag und erinnern damit an die 95 Thesen Luthers, mit denen 1517 die Kirchenspaltung begann. Der Pfarrer tut dies bei dieser Gelegenheit auf Saksesch.

Seine Predigt im alten siebenbürgisch-sächsischen Dialekt, einer moselfränkischen Mundart, die im Hochmittelalter entstand, versteht zwar nur eine Minderheit der Kirchengänger noch vollständig. Alle aber sind vereint im heißen Begehren nach der Labsal, die nach dem Gottesdienst im Pfarrhaus auf sie wartet: Evangelischer Speck.

Dieser Brotaufstrich aus durch den Fleischwolf gedrehtem fetten Speck, Zwiebeln und hartgekochten Eiern ist nicht jedermanns Sache, in dessen Brust kein sächsisches Herz für die ehrwürdige Tradition dieser im Verschwinden begriffenen deutschen Volksgruppe schlägt. Die Verbindung der Speise mit der Reformation, die unter den Siebenbürger Sachsen einst besonders erfolgreich um sich griff, macht das feurige Bekenntnis zu den für Außenstehende recht überschaubaren kulinarischen Vorzügen des Evangelischen Specks für sie jedoch zur Ehrensache.

Kürzlich wurde daraus in Kleingroßdorf, wo die deutsche Gemeinde noch um die 100 Glieder zählt – bei Weitem nicht alle Sachsen –, ein kleines Drama.

 

„Pfui Teufel!“ dachte Michael, drehte sich zur Wand und spuckte das gerade abgebissene Stück der Brotschnitte in seiner linken Hand verstohlen in seine rechte, ballte sie zur Faust und widmete sich dann wieder dem Geschehen im Pfarrhaus, dabei nach einer Serviette oder einem Papierkorb Ausschau haltend. Es gab weder das eine noch das andere.

Sein Vater befand sich in angeregtem Gespräch mit dem Pfarrer, einem Turm von Mann mit riesigen, klobigen Händen. Der Pfarrer trug noch sein Ornat. Es bestand aus einem schwarzen, knielangen Leibrock, dem Dolman. Darüber trug der Gottesmann den eng gefältelten, offenen Krausen Rock. Auf dem Kopf des Pfarrers saß ein Barett.

Seinen Dolman hielt an der Taille ein ebenfalls schwarzer Samtgürtel mit Troddeln zusammen. Oberhalb der Hüfte verschloss den Leibrock vor der Brust des Pfarrers eine lange Reihe silberner, sorgfältig geputzter Spangen – die Krepel.

Die hatte Michael schon während des Gottesdienstes bewundert, als sie im Kerzenlicht gänzten. „Cool“, dachte er auch jetzt wieder und trat näher, die angespeichelte Brot- und Speckmasse in seiner rechten Hand gedankenverloren knetend.

Seine Eltern hatten ihn in diesem Urlaub durch allerhand Kirchen geschleppt; sie nannten sie Kirchenburgen, und tatsächlich sahen einige davon teilweise aus wie seine Playmobil-Ritterburg daheim in Schwäbisch Hall. Er selbst wäre lieber wieder nach Gran Canaria gefahren, aber seine Eltern hatten es für an der Zeit gehalten, dass er mal das Land ihrer Herkunft sah, wo sie selbst einst ihre Jugend verbracht hatten, bis sie nach Deutschland abhauten. Der Reformationsgottesdienst im alten Heimatdorf stellte für sie den Höhepunkt der Reise dar, die ihnen an verschiedenen Orten schon die Tränen in die Augen getrieben hatte.

Michaels Vater bemerkte, dass sein Sohn sich näherte. Er wandte sich ihm halb zu und rief: „Ah, Michi! Komm mal her und sag dem Herrn Pfarrer guten Tag!“

Der Pfarrer lächelte ein gütiges Lächeln, beugte sich zu Hendrik hinunter, deutete erst auf die linke Hand des Kindes mit der Stulle und streckte ihm dann seine eigene rechte entgegen. Dabei sagte er: „Na, mein Sohn, ich sehe, du hast den Evangelischen Speck schon gefunden. Schmeckt er dir denn?“

Michaels Schritt stockte. Die schleimige Masse in seiner Faust brannte plötzlich wie Feuer. Er musterte entsetzt die Pranke des Pfarrers, verbarg seine eigene rechte Hand hinter dem Rücken und schüttelte den Kopf.

Der Pfarrer runzelte die Brauen. Michaels Vater sagte ungehalten: „Nun gib dem Herrn Pfarrer schon die Hand. Wird’s bald?“. Michael blickte zum Pfarrer auf. Dieser nickte ihm aufmunternd zu. Michael schaute zu seinem Vater. Der neigte den Kopf in Richtung des Pfarrers und bedeutete seinem Sohn damit, nun endlich dessen Hand zu ergreifen.

Michael seufzte und griff zu. Der Pfarrer vergab, wie es seine Berufung ist.




2. Deus ex masina



Wer darüber staunt, dass sich mehr als 45 Prozent der abstimmenden Rumänen 2025 bei der Wiederholung ihrer zuvor annullierten Präsidentenwahl für einen rechtspopulistischen Extremnationalisten mit Wurzeln in der Bukarester Hooligan-Szene entschieden (zum Glück gerade noch mal erfolglos), der sollte dieses furchtlose Volk erst einmal Auto fahren sehen.

Die gefühlte knappe Hälfte der rumänischen Mobilisten (manchmal scheint nur diese Teilmenge auf der Straße zu marodieren; der halbwegs bei Verstand befindliche Rest der Bevölkerung tut gut daran, das Wagnis der Teilnahme am Autoverkehr auf das unbedingt erforderliche Mindestmaß zu beschränken) legt unerschütterliches Gottesvertrauen an den Tag, wenn sie ihre „masina“ (sprich: „maschina“) steuert, ihr Auto, das deutlich schneller rasen als sein Lenker denken kann. Die Fähigkeit zur Folgenabschätzung der eigenen Fahrweise bewegt sich bei den teils suizidalen, teils homizidalen Romaniacs on wheels weit unterhalb ihrer eigenen Wahrnehmungsgrenze.

Anders als durch evolutionären Nachholbedarf ist dieser offenbar quasi genetische Defekt nicht erklärbar. Das ehemaliges Hirtenvolk war nach Überwindung der sozialistischen Mangelwirtschaft – die dem Land fast nur Übles brachte, aber wenigstens wenige Autofahrer – womöglich unfähig, die Transformation von Pferdefuhrwerk zu Verbrennungsmotor möglichst bevölkerungsschonend zu vollziehen.  

„Pastrati distanta“ („Abstand halten“): Erfolgloser als dieses Warnschild an rumänischen Schnellstraßen war eine Mahnung selten, seit der liebe Gott Adam und Eva auftrug, sich vom Baum der Erkenntnis maximal entfernt zu halten. (Auch der Begriff „Schnellstraße“ ist in Rumänien übrigens relativ: Jedwede 30-Kilometer-Zone in geschlossenen Ortschaften wird gewohnheitsmäßig als unzulässige Beschneidung der eigenen Selbstverwirklichung aufgefasst. Die  Definition von inner- und außerorts verschwimmt angesichts des chronisch prekären Zustands des Straßenbelags ohnehin: Für einen Vierrad-Antrieb ist man hier selbst in Stadtzentren dankbar, dafür braucht man nicht in anderweitig unwegsames Gelände zu fahren.)

Blei im Fuß, Holz im Kopf – so sind sie gerne unterwegs in Rumänien, durchgezogene Linien auf dem Asphalt ignorierend, Geschwindigkeitsbeschränkungen als nur pro Achse gültig auslegend (LKW-Fahrer mit Anhänger wähnen sich hier deutlich im Vorteil). Bremswegabschätzungen sind nur was für Physiker, von denen wenige positiv im Straßenverkehr auffallen. Der Rückspiegel ist selten einen Blick wert, warum auch, an dem hängt ja eine Plastikikone, die wird’s schon richten. Gott mit uns!

Die EU-weit einzigartige Unfallstatistik des Landes ist tödlicher Beleg für die Konsequenzen dieser Denkweise, soweit von Denken in diesem Zusammenhang die Rede sein kann. Vor einer Anhöhe, in einer Kurve einer zweispurigen Straße müssen wir uns hier alle in den wohlfährigen Glauben daran schicken, uns der Obhut einer höheren Macht anvertrauen zu dürfen.

 „Dumnezeu“, der liebe Gott, wird seine schützende Hand schon über den Typen halten, der als zwanghaft überholender Gegenverkehr gerade auf deiner Straßenhälfte auf dich zurast und dich ganz selbstverständlich zur Vollbremsung nötigt, damit er noch knapp auf seine eigene, ihm viel zu enge, einscheren kann. Um kurz darauf, nicht etwa geschockt, sondern in seinem Wagemut bestätigt, zum nächsten halsbrecherischen Überholmanöver anzusetzen. Man muss fürwahr wohl orthodoxen Glaubens sein, um derartig unorthodox zu stümpern – und zu morden. Denn Vorsatz darf durchaus vorausgesetzt anmuten.

Ein erfahrener deutscher Autofahrer, der seit Jahren dem rumänischen Straßenverkehr trotzt – keiner weiß, wie lange das noch gutgehen mag, denn der Mann glaubt nicht an orthodoxe Schutzheilige –, fasst es so zusammen: „Man muss in diesem Land am Lenkrad nicht nur viel Sorgfalt darauf verwenden, sich selbst zu schützen, sondern auch darauf, anderen unverdient das Überleben zu ermöglichen.“

Ja, so haben wir es alle mal gelernt: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Umsicht, Vorsicht und Rücksicht. Man kann natürlich auch ein Stoßgebet gen Himmel schicken und einfach Gas geben, gottbefohlen.

Manchmal aber hat Dumnezeu einfach was anderes zu tun, als im rumänischen Straßenverkehr Schaden selbst von den dümmsten seiner Schäfchen abzuwenden. Auch deren gottergebene Hirten jedweder Konfession sind im Fahrersitz nicht davor gefeit, dass der Herr sich von ihnen abkehrt, wie sich in Kleingroßdorf jüngst erwies. Manche sahen dies als Gottesgericht.

 

„Der Pope hat die Vorfahrt nicht beachtet“, sagt der alte Siebenbürger Sachse, einer der wenigen seiner Art, die im Dorf noch übrig sind. „Dein evangelischer Pfarrer hatte es eilig und fuhr zu schnell“, hält sein rumänischer Gesprächspartner dagegen und schenkt zwei weitere Gläser Tuika (sprich: „Zuika“) ein, den rumänischen Obstler, den kein Einheimischer jemals in irgendeinem Geschäft kauft. „Jeder weiß, dass er sonntags von einem Gottesdienst zum anderen hastet.“

Es geht gen zwölf. Sowohl in der evangelischen als auch in der orthodoxen Kirche des Dorfs – beide sind einander unmittelbar benachbart – fällt am heutigen Sonntag der Gottesdienst aus. Der Frühschoppen wird vorgezogen.

Der evangelische Pfarrer liegt nach seinem Zusammenstoß mit dem Popen mit Verdacht auf Schädeltrauma im Spital de Urgenta der Kreisstadt, in der Notfallaufnahme. Seine gesamte Gemeinde betet für ihn, aber es sind wenige Gebete, weil sie klein ist. Der Pope, der im Krankenhaus sicherheitshalber auch untersucht wird, hat erkennbar kaum etwas abgekriegt. Er fuhr halt keinen alten VW-Jetta wie der Pfarrer.

Beide Zecher, einander lang bekannt, gute Nachbarn, erheben die Gläser. „Sanatate“, sagt der Rumäne. „Gott helf’s“, entgegnet der Sachse. Man kippt und schaut eine Weile vor sich in.

„Eine schöne, stabile Masina war das, die der Pope fuhr, Volvo, glaube ich“, erwähnt der Rumäne. „Die orthodoxe Kirche hat viel Geld“, antwortet der Sachse. „Unsere Kirchenburg oben auf dem Hügel könnte neue Dachschindeln gebrauchen. Aber aus Bukarest kommt ja nix.“

Man schweigt. Die Flasche ist noch dreiviertel voll. Der Rumäne schenkt nach. „Aus Bukarest ist noch nie was Gutes gekommen“, sagt er. „Aber dein Pfarrer, Gott möge ihn schützen, hatte es eben einfach zu eilig“, wiederholt er.

Der Sachse brummt und leert sein Glas. „Der muss sonntags auch mindestens in drei sächsischen Kirchengemeinden hintereinander pünktlich sein. Es gibt nicht mehr so viele von uns, und wir sind weit verstreut.“ „Ja“, bestätigt der Rumäne, zieht beim Schlucken mit dem Sachsen gleich, wischt sich den Mund ab und fügt hinzu: „Sind halt viele von euch weggegangen.“

Der Rumäne schenkt nach. „Die Flucht“, zitiert er dann ein altes Sprichwort seines Volks, „ist schändlich, aber gesund.“ Der Sachse blickt wortlos in den vor ihm wartenden Schnaps. „Aber ihr habt zu viele Parkplätze vor eurer Kirche. Direkt neben unserer“, lässt er sich doch vernehmen. Und er beharrt: „Der Pfarrer hatte Vorfahrt!“ Des Sachsen Gesicht ist vom starken selbstgebrannten Pflaumenschnaps gerötet, der in einer Anderthalb-Liter-Flasche, die ein unschuldig erscheinendes Mineralwasser-Etikett tarnt, vor den beiden Trinkern steht.

„Wir haben mehr Kirchgänger als ihr. Viel mehr. Die brauchen Platz“, gibt der Rumäne zu bedenken. Die Tuika ist ihm nun auch schon ordentlich zu Kopf gestiegen. Er lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. „Vorfahrt,“ sagt er darauf, „bricht außerdem nicht Gottes Willen. Und der ist immer mit dem Popen. Euer Pfarrer hätte weichen sollen. So wie die meisten von euch es schon lange getan haben.“

Zwei randvoll gefüllte Gläser Schnaps stehen ziemlich lange unberührt zwischen den beiden Nachbarn, die einander in die Augen schauen. Dem Sachsen liegt eine Bemerkung auf der schweren Zunge, die er lieber sein lässt.

Der Rumäne hebt schließlich sein Glas. „Nun“, sagt er, „ich werde für euren Pfarrer beten. Schließlich sind wir alle Christen, gemeinsam in Gottes Hand.“ Darauf trinkt man inbrünstig.

Was soll man sonst tun, in Kleingroßdorf, am Sonntagmittag, ohne Gottesdienst, ohne Pfarrer, ohne Popen? Bei einer Flasche Moonshine, aus der zwei den gleichen Fusel süffeln, einer aber nur die dunkle Seite des Monds schmeckt?




3. Im Zweifel für den Angeblökten



Man kann Schafe kommen riechen.

Ich wusste das nicht, und die Zwangsläufigkeit dieses Phänomens ist jedem keinerlei Erwähnung wert, der mit ihnen in Nasennähe aufwuchs (Ziegen sind noch viel schlimmer, wie mir inzwischen auch bekannt ist).

Aber ich wurde in Berlin-Wilmersdorf groß, als dieser Teil der Großstadt schon längst kein Dorf mehr wahr. Meine Berührungsflächen mit Schafen beschränkten sich dort im Wesentlichen auf das Brettspiel „Siedler von Catan“, und dabei waren sie für mich oft schmerzhaft absent, sei es für den gewünschten Kauf einer Entwicklungskarte (Basisspiel) oder den Erwerb eines Ritters (Städte-und Ritter-Erweiterung).

Schafe also. Wie komme ich darauf? Ach so: Gestern trieb der Schäfer gerade mal wieder seine Herde an unserem Haus in Siebenbürgen vorbei. Und mir fiel auf: Noch bevor man die Glocke des Leithammels oder irgendwelches Blöken der Restherde hört, kündigen diese Wolle- und Sympathieträger ihren Vorbeimarsch vorauseilend und arttypisch mit Fragrance an; dieser unnachahmlichen Duftmischung aus herben, hinterseitig stoffwechselbedingt erzeugten Basistönen und blumigen Kopfnoten, die dem wiederkäuenden Vorderteil entströmen.

Laut ungesicherten Quellen zählt Rumänien fast halb so so viele Schafs- wie Menschenköpfe. Schnittmengen sind möglich. Die Schafzucht hat vor allem in Siebenbürgen offenbar eine besonders ehrwürdige Tradition. Doktor Ciprian Ghisa, damals stellvertretender Direktor des Transylvania College/The Cambridge International School in Cluj-Napoca (Klausenburg), hielt 2017 in einem verdienstvollen Beitrag für die Zeitschrift „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ fest: „Die berühmtesten rumänischen Schäfer und Schafzüchter stammten aus der Region um Sibiu“ (zu Deutsch: Hermannstadt).

Nicht nur in dieser Region war man in Rumänien zu Zeiten der Mangelwirtschaft unter dem durchgeknallten stalinistischen „Conducator“ Nicolae Ceaușescu froh, wenn man einen dieser berühmten Schafzüchter kannte, der einem für die eine oder andere Gefälligkeit ein bisschen Hammelfleisch auf den Tisch zaubern konnte – ganz diskret natürlich. Weniger dezent sind die Häuser in den Dörfern mancher wohlhabender Schäferfamilien oben in den Bergen, die seit Generationen darin wetteifern, mehr Säulen, Erker und Marmor als der Nachbar zur Schau zu stellen.

Der Besitz von Schafen, im Catan-Spiel ein harmloser Glücksfall, der einem höchstens Siegpunkte einbringt, kann sich in Rumänien immer noch auszahlen – vermeintlich sogar ganz ohne auch nur ein einziges Tier zu tauschen, zu verkaufen, zu scheren oder zu schlachten. Dieses ungewöhnliche Geschäftsmodell war jedenfalls der Hintergrund einer Gerichtsverhandlung, die neulich in der für Kleingroßdorf zuständigen Kreisstadt einen Schäfer und einen Gartenbesitzer vor dem Kadi aufeinandertreffen ließ.

 

Es ist August, und es ist heiß in den Räumen der Primarie der Kreisstadt. Sie beherbergen neben dem Rathaus und angeschlossenen Ämtern auch den Sitzungssaal des Amtsgerichts. Sowie zurzeit einen recht ungehaltenen Amtsrichter, der den Saaldiener zum wiederholten Mal fragt, wann denn endlich der angekündigte Reparaturdienst anrücken werde, um die ausgefallene Klimaanlage zu richten?

„Nici o problemă”, sagt der Untergebene, buckelt und zückt erneut sein Handy. Kein Netz.

Der Amtsrichter seufzt, wischt sich den Schweiß von der Stirn und öffnet den obersten Hemdknopf. Es ist ein langer Tag gewesen. Der letzte Fall für heute ist aufzurufen. Dieser liegt noch nicht lange zurück, keine drei Wochen. Manchmal, wenn auch sehr selten, geht es selbst in Rumänien schnell mit juristischer Aufarbeitung.

Der Richter schlägt den Aktenordner auf. Vor der Saaltür entsteht Tumult. „Halsabschneider!” – „Schafficker!” – „Ausbeuter!” – „Missgeburt!” Es folgen etliche der rumänischen Sprache eigene missgünstige Bemerkungen über Körperöffnungen engster Verwandter weiblichen Geschlechts sowie über ein Hengstgemächt.

Der Sicherheitsdienst greift ein und trennt die Streithähne. Sie werden einzeln vor den Richter geführt.

Zunächst Vasile Andrei, von Beruf Schafzüchter, bislang unbescholten. Der Richter weist ihm mit strengem Blick den Platz rechts von seinem Pult zu, neben dem Fenster. Dann betritt Bogdan Stoica den Saal, Ruheständler, wegen Körperverletzung vorbestraft. Er besitzt ein ansehnliches Grundstück in Kleingroßdorf, auf dem er in einem stattlichen Haus mit großem Garten wohnt. Der Richter schickt ihn mit einer herrschaftlichen Kopfbewegung nach links, möglichst weit von Vasile weg.

Beide Kontrahenten haben auf einen Rechtsbeistand verzichtet, giften einander mit Blicken an, verhalten sich nun aber ruhig. Die Richterwürde wirkt, auch wenn die beleibte hohe Amtsperson schwitzt wie, nun ja, darf man es sagen: ein Schwein.

Aber hier geht es nun um Schafe. Um die von Vasile. „Also”, sagt der Richter und blickt beide Vorgeladenen nacheinander scharf an, bevor er fortsetzt: „Der Kläger” – ein Nicken in Richtung von Vasile – „bringt vor, dass der Beklagte” – nun wird Bogdan ins Auge gefasst – „vom Mähdienst seiner Schafe Gebrauch machte, ohne diesen zu entgelten. So weit richtig?”

Vasile nickt, doch Bogdan brüllt: „Mähdienst? Dass ich nicht lache! Niemand hat seine stinkenden Schafe eingeladen, sich über meinen gepflegten Garten herzumachen! Das Gartentor stand einen unbeobachteten Moment offen, und dann sind sie eingedrungen und haben alles kahlgefressen!”

„Bogdan ist ein Idiot und hat vom Gärtnern keine Ahnung”, blökt der Schafbesitzer Vasile zurück. „Gepflegter Garten? Sein Gras steht kniehoch, weil er zum Mähen zu faul ist! Meine Schafe haben ihm einen Gefallen getan!”

„Ruhe!”, verlangt der Richter und öffnet würdelos den zweiten Hemdknopf; es ist einfach zu heiß, und diese beiden Typen nerven. Er weist mit dem Zeigefinger auf Vasile. „Sie als Kläger erwarten also, dass der Beklagte Sie dafür entlohnt, dass Ihre Schafe seinen Rasen kurzgeschoren haben, obwohl er Ihre Herde nicht damit beauftragt hat?”

Vasile knickt ein und wird kleinlaut. „Nun ja, Auftrag – das ist ja eine reine Formalie, nicht wahr? Es hat sich eben so ergeben, und der Garten sieht jetzt ja auch viel besser aus…”

„Kostenloses Grünfutter hat er bekommen für seine blökende Bande”, erregt sich Bogdan. „Eigentlich sollte er das mir bezahlen!”

„Ein interessanter Vorhalt”, sagt der Richter, dem die Feinheiten der Rechtsauslegung natürlich im Blut liegen. „Wünschen Sie, diesbezüglich selbst Klage zu erheben? Ich muss Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass es sich um einen Vorgang nicht weiter verfolgenswerten Mund- beziehungsweise Maulraubs handeln könnte, obwohl die Präzedenzfälle selbst in Rumänien in Bezug auf Schafe gering sein dürften. Ich würde das weitere Vorgehen an Ihrer Stelle sorgsam überdenken.”

Dann wendet sich der Richter Vasile zu. „Auch Sie hätten sich Ihre Klage gut überlegen sollen. Ich könnte sie niederschlagen und Ihnen die Gerichtskosten aufbürden. Apropos niederschlagen: Treten Sie doch bitte mal vor, Herr Andrei.”

Vasile tut, wie ihm geheißen. Der Richter mustert sein Gesicht. „Ist das da ein abheilendes blaues Auge?” Vasile nickt. „Hat das vielleicht mit Ihrer Auseinandersetzung mit Herrn Stoica zu tun?” Der nun eingeschüchterte Vasile zögert, schüttelt dann den Kopf.

„Na prächtig”, sagt der Richter. „Ich gehe davon aus, dass Sie von Ihrer Klage zurücktreten, sich damit Kosten ersparen, hier nicht etwa wieder auftauchen und auf Körperverletzung klagen. Die ganze Angelegenheit wird wegen Unerheblichkeit eingestellt. Die Kosten trägt, wegen, äh, besonderer Umstände der rumänische Staat, Näheres in meiner Begründung, da wird mir schon was einfallen.” Er schnauft. „Hoffentlich.”

Bogdan lacht triumphierend. Der Richter lächelt süffisant und trägt ihm auf: „Sie, Herr Stoica, werden Ihre Gartenpforte fortan ein Mal pro Woche für die Herde von Herrn Andrei öffnen. Das wird Ihrem Rasen gut tun, da es Ihnen mit der Sense doch so schwer von der Hand geht. Das ist natürlich kein Urteil, sondern nur eine Empfehlung. Körperverletzung könnte allerdings auch von Staats wegen verfolgt werden, wie gerade Sie wohl wissen.” Bogdan schaut zu Boden und nickt.

Die beiden Narren trollen sich. Wie gesagt: Es ist ein langer Tag gewesen, und der Richter schwitzt weiterhin, obwohl er endlich die Robe ablegen kann. Die Frage, was in Rumänien öfter versagt – Klimaanlagen, der Rechtsstaat oder der gesunde Menschenverstand – mag ihn weiter bewegen, muss hier jedoch unbeantwortet bleiben.

Unerwähnt wollen wir aber nicht lassen, was Wikipedia über Walachenschafe mitteilt und damit dokumentiert, dass anders als bei Hundehaltern Herr und Gescherr im Falle von Schafbesitzern einander nicht unbedingt gleichen müssen: Sie ziere „wacher Ausdruck“ und „edles Aussehen“.

Stinken tun sie trotzdem.