Was in Kleingroßdorf so passiert, believe it or not. Zum Beispiel:


  1. Evangelischer Speck
  2. Deus ex Masina
  3. Im Zweifel für den Angeblökten
  4. "Animals", Track Two: "Dogs"
  5. Selenes Sensen-Singen
  6. From Pennsylvania to Transilvania - once in a lifetime




1. Evangelischer Speck


 

Ganz Transsilvanien ist vom Halloween-Virus infiziert. Ganz Transsilvanien? Nein! Ein noch von ein paar Siebenbürger Sachsen bewohntes Dorf so ziemlich in der Mitte Rumäniens hört nicht auf, dem invasiven Kommerz Widerstand zu leisten. Am 31. Oktober begehen die Sasi, wie die Rumänen die alten Saxones nennen, dort mit einem altsächsischen Gottesdienst den Reformationstag und erinnern damit an die 95 Thesen Luthers, mit denen 1517 die Kirchenspaltung begann. Der Pfarrer tut dies bei dieser Gelegenheit auf Saksesch.

Seine Predigt im alten siebenbürgisch-sächsischen Dialekt, einer moselfränkischen Mundart, die im Hochmittelalter entstand, versteht zwar nur eine Minderheit der Kirchengänger noch vollständig. Alle aber sind vereint im heißen Begehren nach der Labsal, die nach dem Gottesdienst im Pfarrhaus auf sie wartet: Evangelischer Speck.

Dieser Brotaufstrich aus durch den Fleischwolf gedrehtem fetten Speck, Zwiebeln und hartgekochten Eiern ist nicht jedermanns Sache, in dessen Brust kein sächsisches Herz für die ehrwürdige Tradition dieser im Verschwinden begriffenen deutschen Volksgruppe schlägt. Die Verbindung der Speise mit der Reformation, die unter den Siebenbürger Sachsen einst besonders erfolgreich um sich griff, macht das feurige Bekenntnis zu den für Außenstehende recht überschaubaren kulinarischen Vorzügen des Evangelischen Specks für sie jedoch zur Ehrensache.

Kürzlich wurde daraus in Kleingroßdorf, wo die deutsche Gemeinde noch um die 100 Glieder zählt – bei Weitem nicht alle Sachsen –, ein kleines Drama.

 

„Pfui Teufel!“ dachte Michael, drehte sich zur Wand und spuckte das gerade abgebissene Stück der Brotschnitte in seiner linken Hand verstohlen in seine rechte, ballte sie zur Faust und widmete sich dann wieder dem Geschehen im Pfarrhaus, dabei nach einer Serviette oder einem Papierkorb Ausschau haltend. Es gab weder das eine noch das andere.

Sein Vater befand sich in angeregtem Gespräch mit dem Pfarrer, einem Turm von Mann mit riesigen, klobigen Händen. Der Pfarrer trug noch sein Ornat. Es bestand aus einem schwarzen, knielangen Leibrock, dem Dolman. Darüber trug der Gottesmann den eng gefältelten, offenen Krausen Rock. Auf dem Kopf des Pfarrers saß ein Barett.

Seinen Dolman hielt an der Taille ein ebenfalls schwarzer Samtgürtel mit Troddeln zusammen. Oberhalb der Hüfte verschloss den Leibrock vor der Brust des Pfarrers eine lange Reihe silberner, sorgfältig geputzter Spangen – die Krepel.

Die hatte Michael schon während des Gottesdienstes bewundert, als sie im Kerzenlicht gänzten. „Cool“, dachte er auch jetzt wieder und trat näher, die angespeichelte Brot- und Speckmasse in seiner rechten Hand gedankenverloren knetend.

Seine Eltern hatten ihn in diesem Urlaub durch allerhand Kirchen geschleppt; sie nannten sie Kirchenburgen, und tatsächlich sahen einige davon teilweise aus wie seine Playmobil-Ritterburg daheim in Schwäbisch Hall. Er selbst wäre lieber wieder nach Gran Canaria gefahren, aber seine Eltern hatten es für an der Zeit gehalten, dass er mal das Land ihrer Herkunft sah, wo sie selbst einst ihre Jugend verbracht hatten, bis sie nach Deutschland abhauten. Der Reformationsgottesdienst im alten Heimatdorf stellte für sie den Höhepunkt der Reise dar, die ihnen an verschiedenen Orten schon die Tränen in die Augen getrieben hatte.

Michaels Vater bemerkte, dass sein Sohn sich näherte. Er wandte sich ihm halb zu und rief: „Ah, Michi! Komm mal her und sag dem Herrn Pfarrer guten Tag!“

Der Pfarrer lächelte ein gütiges Lächeln, beugte sich zu Hendrik hinunter, deutete erst auf die linke Hand des Kindes mit der Stulle und streckte ihm dann seine eigene rechte entgegen. Dabei sagte er: „Na, mein Sohn, ich sehe, du hast den Evangelischen Speck schon gefunden. Schmeckt er dir denn?“

Michaels Schritt stockte. Die schleimige Masse in seiner Faust brannte plötzlich wie Feuer. Er musterte entsetzt die Pranke des Pfarrers, verbarg seine eigene rechte Hand hinter dem Rücken und schüttelte den Kopf.

Der Pfarrer runzelte die Brauen. Michaels Vater sagte ungehalten: „Nun gib dem Herrn Pfarrer schon die Hand. Wird’s bald?“. Michael blickte zum Pfarrer auf. Dieser nickte ihm aufmunternd zu. Michael schaute zu seinem Vater. Der neigte den Kopf in Richtung des Pfarrers und bedeutete seinem Sohn damit, nun endlich dessen Hand zu ergreifen.

Michael seufzte und griff zu. Der Pfarrer vergab, wie es seine Berufung ist.



2. Deus ex masina



Wer darüber staunt, dass sich mehr als 45 Prozent der abstimmenden Rumänen 2025 bei der Wiederholung ihrer zuvor annullierten Präsidentenwahl für einen rechtspopulistischen Extremnationalisten mit Wurzeln in der Bukarester Hooligan-Szene entschieden (zum Glück gerade noch mal erfolglos), der sollte dieses furchtlose Volk erst einmal Auto fahren sehen.

Die gefühlte knappe Hälfte der rumänischen Mobilisten (manchmal scheint nur diese Teilmenge auf der Straße zu marodieren; der halbwegs bei Verstand befindliche Rest der Bevölkerung tut gut daran, das Wagnis der Teilnahme am Autoverkehr auf das unbedingt erforderliche Mindestmaß zu beschränken) legt unerschütterliches Gottesvertrauen an den Tag, wenn sie ihre „masina“ (sprich: „maschina“) steuert, ihr Auto, das deutlich schneller rasen als sein Lenker denken kann. Die Fähigkeit zur Folgenabschätzung der eigenen Fahrweise bewegt sich bei den teils suizidalen, teils homizidalen Romaniacs on wheels weit unterhalb ihrer eigenen Wahrnehmungsgrenze.

Anders als durch evolutionären Nachholbedarf ist dieser offenbar quasi genetische Defekt nicht erklärbar. Das ehemaliges Hirtenvolk war nach Überwindung der sozialistischen Mangelwirtschaft – die dem Land fast nur Übles brachte, aber wenigstens wenige Autofahrer – womöglich unfähig, die Transformation von Pferdefuhrwerk zu Verbrennungsmotor möglichst bevölkerungsschonend zu vollziehen.  

„Pastrati distanta“ („Abstand halten“): Erfolgloser als dieses Warnschild an rumänischen Schnellstraßen war eine Mahnung selten, seit der liebe Gott Adam und Eva auftrug, sich vom Baum der Erkenntnis maximal entfernt zu halten. (Auch der Begriff „Schnellstraße“ ist in Rumänien übrigens relativ: Jedwede 30-Kilometer-Zone in geschlossenen Ortschaften wird gewohnheitsmäßig als unzulässige Beschneidung der eigenen Selbstverwirklichung aufgefasst. Die  Definition von inner- und außerorts verschwimmt angesichts des chronisch prekären Zustands des Straßenbelags ohnehin: Für einen Vierrad-Antrieb ist man hier selbst in Stadtzentren dankbar, dafür braucht man nicht in anderweitig unwegsames Gelände zu fahren.)

Blei im Fuß, Holz im Kopf – so sind sie gerne unterwegs in Rumänien, durchgezogene Linien auf dem Asphalt ignorierend, Geschwindigkeitsbeschränkungen als nur pro Achse gültig auslegend (LKW-Fahrer mit Anhänger wähnen sich hier deutlich im Vorteil). Bremswegabschätzungen sind nur was für Physiker, von denen wenige positiv im Straßenverkehr auffallen. Der Rückspiegel ist selten einen Blick wert, warum auch, an dem hängt ja eine Plastikikone, die wird’s schon richten. Gott mit uns!

Die EU-weit einzigartige Unfallstatistik des Landes ist tödlicher Beleg für die Konsequenzen dieser Denkweise, soweit von Denken in diesem Zusammenhang die Rede sein kann. Vor einer Anhöhe, in einer Kurve einer zweispurigen Straße müssen wir uns hier alle in den wohlfährigen Glauben daran schicken, uns der Obhut einer höheren Macht anvertrauen zu dürfen.

 „Dumnezeu“, der liebe Gott, wird seine schützende Hand schon über den Typen halten, der als zwanghaft überholender Gegenverkehr gerade auf deiner Straßenhälfte auf dich zurast und dich ganz selbstverständlich zur Vollbremsung nötigt, damit er noch knapp auf seine eigene, ihm viel zu enge, einscheren kann. Um kurz darauf, nicht etwa geschockt, sondern in seinem Wagemut bestätigt, zum nächsten halsbrecherischen Überholmanöver anzusetzen. Man muss fürwahr wohl orthodoxen Glaubens sein, um derartig unorthodox zu stümpern – und zu morden. Denn Vorsatz darf durchaus vorausgesetzt anmuten.

Ein erfahrener deutscher Autofahrer, der seit Jahren dem rumänischen Straßenverkehr trotzt – keiner weiß, wie lange das noch gutgehen mag, denn der Mann glaubt nicht an orthodoxe Schutzheilige –, fasst es so zusammen: „Man muss in diesem Land am Lenkrad nicht nur viel Sorgfalt darauf verwenden, sich selbst zu schützen, sondern auch darauf, anderen unverdient das Überleben zu ermöglichen.“

Ja, so haben wir es alle mal gelernt: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Umsicht, Vorsicht und Rücksicht. Man kann natürlich auch ein Stoßgebet gen Himmel schicken und einfach Gas geben, gottbefohlen.

Manchmal aber hat Dumnezeu einfach was anderes zu tun, als im rumänischen Straßenverkehr Schaden selbst von den dümmsten seiner Schäfchen abzuwenden. Auch deren gottergebene Hirten jedweder Konfession sind im Fahrersitz nicht davor gefeit, dass der Herr sich von ihnen abkehrt, wie sich in Kleingroßdorf jüngst erwies. Manche sahen dies als Gottesgericht.

 

„Der Pope hat die Vorfahrt nicht beachtet“, sagt der alte Siebenbürger Sachse, einer der wenigen seiner Art, die im Dorf noch übrig sind. „Dein evangelischer Pfarrer hatte es eilig und fuhr zu schnell“, hält sein rumänischer Gesprächspartner dagegen und schenkt zwei weitere Gläser Tuika (sprich: „Zuika“) ein, den rumänischen Obstler, den kein Einheimischer jemals in irgendeinem Geschäft kauft. „Jeder weiß, dass er sonntags von einem Gottesdienst zum anderen hastet.“

Es geht gen zwölf. Sowohl in der evangelischen als auch in der orthodoxen Kirche des Dorfs – beide sind einander unmittelbar benachbart – fällt am heutigen Sonntag der Gottesdienst aus. Der Frühschoppen wird vorgezogen.

Der evangelische Pfarrer liegt nach seinem Zusammenstoß mit dem Popen mit Verdacht auf Schädeltrauma im Spital de Urgenta der Kreisstadt, in der Notfallaufnahme. Seine gesamte Gemeinde betet für ihn, aber es sind wenige Gebete, weil sie klein ist. Der Pope, der im Krankenhaus sicherheitshalber auch untersucht wird, hat erkennbar kaum etwas abgekriegt. Er fuhr halt keinen alten VW-Jetta wie der Pfarrer.

Beide Zecher, einander lang bekannt, gute Nachbarn, erheben die Gläser. „Sanatate“, sagt der Rumäne. „Gott helf’s“, entgegnet der Sachse. Man kippt und schaut eine Weile vor sich in.

„Eine schöne, stabile Masina war das, die der Pope fuhr, Volvo, glaube ich“, erwähnt der Rumäne. „Die orthodoxe Kirche hat viel Geld“, antwortet der Sachse. „Unsere Kirchenburg oben auf dem Hügel könnte neue Dachschindeln gebrauchen. Aber aus Bukarest kommt ja nix.“

Man schweigt. Die Flasche ist noch dreiviertel voll. Der Rumäne schenkt nach. „Aus Bukarest ist noch nie was Gutes gekommen“, sagt er. „Aber dein Pfarrer, Gott möge ihn schützen, hatte es eben einfach zu eilig“, wiederholt er.

Der Sachse brummt und leert sein Glas. „Der muss sonntags auch mindestens in drei sächsischen Kirchengemeinden hintereinander pünktlich sein. Es gibt nicht mehr so viele von uns, und wir sind weit verstreut.“ „Ja“, bestätigt der Rumäne, zieht beim Schlucken mit dem Sachsen gleich, wischt sich den Mund ab und fügt hinzu: „Sind halt viele von euch weggegangen.“

Der Rumäne schenkt nach. „Die Flucht“, zitiert er dann ein altes Sprichwort seines Volks, „ist schändlich, aber gesund.“ Der Sachse blickt wortlos in den vor ihm wartenden Schnaps. „Aber ihr habt zu viele Parkplätze vor eurer Kirche. Direkt neben unserer“, lässt er sich doch vernehmen. Und er beharrt: „Der Pfarrer hatte Vorfahrt!“ Des Sachsen Gesicht ist vom starken selbstgebrannten Pflaumenschnaps gerötet, der in einer Anderthalb-Liter-Flasche, die ein unschuldig erscheinendes Mineralwasser-Etikett tarnt, vor den beiden Trinkern steht.

„Wir haben mehr Kirchgänger als ihr. Viel mehr. Die brauchen Platz“, gibt der Rumäne zu bedenken. Die Tuika ist ihm nun auch schon ordentlich zu Kopf gestiegen. Er lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. „Vorfahrt,“ sagt er darauf, „bricht außerdem nicht Gottes Willen. Und der ist immer mit dem Popen. Euer Pfarrer hätte weichen sollen. So wie die meisten von euch es schon lange getan haben.“

Zwei randvoll gefüllte Gläser Schnaps stehen ziemlich lange unberührt zwischen den beiden Nachbarn, die einander in die Augen schauen. Dem Sachsen liegt eine Bemerkung auf der schweren Zunge, die er lieber sein lässt.

Der Rumäne hebt schließlich sein Glas. „Nun“, sagt er, „ich werde für euren Pfarrer beten. Schließlich sind wir alle Christen, gemeinsam in Gottes Hand.“ Darauf trinkt man inbrünstig.

Was soll man sonst tun, in Kleingroßdorf, am Sonntagmittag, ohne Gottesdienst, ohne Pfarrer, ohne Popen? Bei einer Flasche Moonshine, aus der zwei den gleichen Fusel süffeln, einer aber nur die dunkle Seite des Monds schmeckt?



3. Im Zweifel für den Angeblökten



Man kann Schafe kommen riechen.

Ich wusste das nicht, und die Zwangsläufigkeit dieses Phänomens ist jedem keinerlei Erwähnung wert, der mit ihnen in Nasennähe aufwuchs (Ziegen sind noch viel schlimmer, wie mir inzwischen auch bekannt ist).

Aber ich wurde in Berlin-Wilmersdorf groß, als dieser Teil der Großstadt schon längst kein Dorf mehr wahr. Meine Berührungsflächen mit Schafen beschränkten sich dort im Wesentlichen auf das Brettspiel „Siedler von Catan“, und dabei waren sie für mich oft schmerzhaft absent, sei es für den gewünschten Kauf einer Entwicklungskarte (Basisspiel) oder den Erwerb eines Ritters (Städte-und Ritter-Erweiterung).

Schafe also. Wie komme ich darauf? Ach so: Gestern trieb der Schäfer gerade mal wieder seine Herde an unserem Haus in Siebenbürgen vorbei. Und mir fiel auf: Noch bevor man die Glocke des Leithammels oder irgendwelches Blöken der Restherde hört, kündigen diese Wolle- und Sympathieträger ihren Vorbeimarsch vorauseilend und arttypisch mit Fragrance an; dieser unnachahmlichen Duftmischung aus herben, hinterseitig stoffwechselbedingt erzeugten Basistönen und blumigen Kopfnoten, die dem wiederkäuenden Vorderteil entströmen.

Laut ungesicherten Quellen zählt Rumänien fast halb so so viele Schafs- wie Menschenköpfe. Schnittmengen sind möglich. Die Schafzucht hat vor allem in Siebenbürgen offenbar eine besonders ehrwürdige Tradition. Doktor Ciprian Ghisa, damals stellvertretender Direktor des Transylvania College/The Cambridge International School in Cluj-Napoca (Klausenburg), hielt 2017 in einem verdienstvollen Beitrag für die Zeitschrift „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ fest: „Die berühmtesten rumänischen Schäfer und Schafzüchter stammten aus der Region um Sibiu“ (zu Deutsch: Hermannstadt).

Nicht nur in dieser Region war man in Rumänien zu Zeiten der Mangelwirtschaft unter dem durchgeknallten stalinistischen „Conducator“ Nicolae Ceaușescu froh, wenn man einen dieser berühmten Schafzüchter kannte, der einem für die eine oder andere Gefälligkeit ein bisschen Hammelfleisch auf den Tisch zaubern konnte – ganz diskret natürlich. Weniger dezent sind die Häuser in den Dörfern mancher wohlhabender Schäferfamilien oben in den Bergen, die seit Generationen darin wetteifern, mehr Säulen, Erker und Marmor als der Nachbar zur Schau zu stellen.

Der Besitz von Schafen, im Catan-Spiel ein harmloser Glücksfall, der einem höchstens Siegpunkte einbringt, kann sich in Rumänien immer noch auszahlen – vermeintlich sogar ganz ohne auch nur ein einziges Tier zu tauschen, zu verkaufen, zu scheren oder zu schlachten. Dieses ungewöhnliche Geschäftsmodell war jedenfalls der Hintergrund einer Gerichtsverhandlung, die neulich in der für Kleingroßdorf zuständigen Kreisstadt einen Schäfer und einen Gartenbesitzer vor dem Kadi aufeinandertreffen ließ.

 

Es ist August, und es ist heiß in den Räumen der Primarie der Kreisstadt. Sie beherbergen neben dem Rathaus und angeschlossenen Ämtern auch den Sitzungssaal des Amtsgerichts. Sowie zurzeit einen recht ungehaltenen Amtsrichter, der den Saaldiener zum wiederholten Mal fragt, wann denn endlich der angekündigte Reparaturdienst anrücken werde, um die ausgefallene Klimaanlage zu richten?

„Nici o problemă”, sagt der Untergebene, buckelt und zückt erneut sein Handy. Kein Netz.

Der Amtsrichter seufzt, wischt sich den Schweiß von der Stirn und öffnet den obersten Hemdknopf. Es ist ein langer Tag gewesen. Der letzte Fall für heute ist aufzurufen. Dieser liegt noch nicht lange zurück, keine drei Wochen. Manchmal, wenn auch sehr selten, geht es selbst in Rumänien schnell mit juristischer Aufarbeitung.

Der Richter schlägt den Aktenordner auf. Vor der Saaltür entsteht Tumult. „Halsabschneider!” – „Schafficker!” – „Ausbeuter!” – „Missgeburt!” Es folgen etliche der rumänischen Sprache eigene missgünstige Bemerkungen über Körperöffnungen engster Verwandter weiblichen Geschlechts sowie über ein Hengstgemächt.

Der Sicherheitsdienst greift ein und trennt die Streithähne. Sie werden einzeln vor den Richter geführt.

Zunächst Vasile Andrei, von Beruf Schafzüchter, bislang unbescholten. Der Richter weist ihm mit strengem Blick den Platz rechts von seinem Pult zu, neben dem Fenster. Dann betritt Bogdan Stoica den Saal, Ruheständler, wegen Körperverletzung vorbestraft. Er besitzt ein ansehnliches Grundstück in Kleingroßdorf, auf dem er in einem stattlichen Haus mit großem Garten wohnt. Der Richter schickt ihn mit einer herrschaftlichen Kopfbewegung nach links, möglichst weit von Vasile weg.

Beide Kontrahenten haben auf einen Rechtsbeistand verzichtet, giften einander mit Blicken an, verhalten sich nun aber ruhig. Die Richterwürde wirkt, auch wenn die beleibte hohe Amtsperson schwitzt wie, nun ja, darf man es sagen: ein Schwein.

Aber hier geht es nun um Schafe. Um die von Vasile. „Also”, sagt der Richter und blickt beide Vorgeladenen nacheinander scharf an, bevor er fortsetzt: „Der Kläger” – ein Nicken in Richtung von Vasile – „bringt vor, dass der Beklagte” – nun wird Bogdan ins Auge gefasst – „vom Mähdienst seiner Schafe Gebrauch machte, ohne diesen zu entgelten. So weit richtig?”

Vasile nickt, doch Bogdan brüllt: „Mähdienst? Dass ich nicht lache! Niemand hat seine stinkenden Schafe eingeladen, sich über meinen gepflegten Garten herzumachen! Das Gartentor stand einen unbeobachteten Moment offen, und dann sind sie eingedrungen und haben alles kahlgefressen!”

„Bogdan ist ein Idiot und hat vom Gärtnern keine Ahnung”, blökt der Schafbesitzer Vasile zurück. „Gepflegter Garten? Sein Gras steht kniehoch, weil er zum Mähen zu faul ist! Meine Schafe haben ihm einen Gefallen getan!”

„Ruhe!”, verlangt der Richter und öffnet würdelos den zweiten Hemdknopf; es ist einfach zu heiß, und diese beiden Typen nerven. Er weist mit dem Zeigefinger auf Vasile. „Sie als Kläger erwarten also, dass der Beklagte Sie dafür entlohnt, dass Ihre Schafe seinen Rasen kurzgeschoren haben, obwohl er Ihre Herde nicht damit beauftragt hat?”

Vasile knickt ein und wird kleinlaut. „Nun ja, Auftrag – das ist ja eine reine Formalie, nicht wahr? Es hat sich eben so ergeben, und der Garten sieht jetzt ja auch viel besser aus…”

„Kostenloses Grünfutter hat er bekommen für seine blökende Bande”, erregt sich Bogdan. „Eigentlich sollte er das mir bezahlen!”

„Ein interessanter Vorhalt”, sagt der Richter, dem die Feinheiten der Rechtsauslegung natürlich im Blut liegen. „Wünschen Sie, diesbezüglich selbst Klage zu erheben? Ich muss Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass es sich um einen Vorgang nicht weiter verfolgenswerten Mund- beziehungsweise Maulraubs handeln könnte, obwohl die Präzedenzfälle selbst in Rumänien in Bezug auf Schafe gering sein dürften. Ich würde das weitere Vorgehen an Ihrer Stelle sorgsam überdenken.”

Dann wendet sich der Richter Vasile zu. „Auch Sie hätten sich Ihre Klage gut überlegen sollen. Ich könnte sie niederschlagen und Ihnen die Gerichtskosten aufbürden. Apropos niederschlagen: Treten Sie doch bitte mal vor, Herr Andrei.”

Vasile tut, wie ihm geheißen. Der Richter mustert sein Gesicht. „Ist das da ein abheilendes blaues Auge?” Vasile nickt. „Hat das vielleicht mit Ihrer Auseinandersetzung mit Herrn Stoica zu tun?” Der nun eingeschüchterte Vasile zögert, schüttelt dann den Kopf.

„Na prächtig”, sagt der Richter. „Ich gehe davon aus, dass Sie von Ihrer Klage zurücktreten, sich damit Kosten ersparen, hier nicht etwa wieder auftauchen und auf Körperverletzung klagen. Die ganze Angelegenheit wird wegen Unerheblichkeit eingestellt. Die Kosten trägt, wegen, äh, besonderer Umstände der rumänische Staat, Näheres in meiner Begründung, da wird mir schon was einfallen.” Er schnauft. „Hoffentlich.”

Bogdan lacht triumphierend. Der Richter lächelt süffisant und trägt ihm auf: „Sie, Herr Stoica, werden Ihre Gartenpforte fortan ein Mal pro Woche für die Herde von Herrn Andrei öffnen. Das wird Ihrem Rasen gut tun, da es Ihnen mit der Sense doch so schwer von der Hand geht. Das ist natürlich kein Urteil, sondern nur eine Empfehlung. Körperverletzung könnte allerdings auch von Staats wegen verfolgt werden, wie gerade Sie wohl wissen.” Bogdan schaut zu Boden und nickt.

Die beiden Narren trollen sich. Wie gesagt: Es ist ein langer Tag gewesen, und der Richter schwitzt weiterhin, obwohl er endlich die Robe ablegen kann. Die Frage, was in Rumänien öfter versagt – Klimaanlagen, der Rechtsstaat oder der gesunde Menschenverstand – mag ihn weiter bewegen, muss hier jedoch unbeantwortet bleiben.

Unerwähnt wollen wir aber nicht lassen, was Wikipedia über Walachenschafe mitteilt und damit dokumentiert, dass anders als bei Hundehaltern Herr und Gescherr im Falle von Schafbesitzern einander nicht unbedingt gleichen müssen: Sie ziere „wacher Ausdruck“ und „edles Aussehen“.

Stinken tun sie trotzdem.



4. "Animals", Track Two: "Dogs"



Die Beweggründe der Rumänen für die unter ihnen weit verbreitete Hundehaltung erscheinen auf den ersten Blick unerklärlich. Tierliebe kann es nicht sein, denn sie behandeln ihre „Caini“ meist schlecht. Das Kettenhund-Dasein ist in ländlichen Gebieten Alltag. Eines überflüssig erscheinenden Köters entledigt man sich gerne mal hartherzig durch Aussetzen. Davon zeugen elende Streuner, die sich durch ihr erbärmliches Dasein schleppen, um Müllcontainer kreisen, mit eingeklemmtem Schwanz, stets auf der Hut vor einem Steinwurf oder Schlimmerem.

Den Allerhärtesten und Gewitztesten unter ihnen gelingt es, aus Schaden klug geworden, dem Autoverkehr auszuweichen (man kann Veteranen über Zebrastreifen hinken sehen), dem Hundefänger zu entgehen und sich sogar fortzupflanzen – was das Problem vergrößert. Es kommt zu regelrechten Bandenbildungen: Drei bis fünf ehemalige beste Freunde des Menschen, der sie verstieß, schließen sich zu kleinen Rudeln zusammen, in denen jeder seine Aufgabe hat, um das gemeinsame Überleben zu sichern.

Der kleine Stummelbeinige wird vorgeschickt – er passt durch viele Zaunlücken, baldowert die Lage aus, gräbt sich auch mal irgendwie durch. Er ist der Scout und findet immer was zu fressen. Die Größeren halten sich im Hintergrund, sind aber jederzeit bereit, ihm beizuspringen und die Beute zu verzehren.  

Manchmal zieht die ganze moribunde Bande gemeinsam an den Vorgärten vorbei, an jedem eingepferchten Hündchen („Cățeluș“), wie zum Spaß. Die Kettenhunde rasten dann wild bellend aus und steigen an den Zäunen auf, bis sie fast stranguliert werden. Die Vagabunden schert es nicht.

Verlumpt, verdreckt, verfilzt, verzeckt sind sie, das ist wohl wahr; der eine lahmt, dem Kameraden fehlt ein Auge. Das Rumänische kennt viele abschätzige Wörter für sie: „Javră“, „Dulău“, „Potaie“, „Corcitura“ – der Namensreichtum spricht für sich. Und dennoch: Die ausgehungerten Promenadenmischungen promenieren mager, aber in aufreizender Freiheit an den Zwingern vorbei, als ob sie die täglich Trockenfutter kauenden Haushunde verhöhnen wollten.

Ob die Freischärler wider Willen abends wohl einstimmen in den Chor, der sich nach Sonnenuntergang oft von Kette zu Kette fortpflanzt; in diesen kaninen Wechselgesang, den irgendwo ein Bello beginnt, der Nachbarhund aufnimmt, an die nächste Töle weiterreicht, bis schließlich, nach Minuten, das Lauffeuer mit einem letzten Köter-Krächzen erlischt – um erneut aufzuflammen, wenn der Bär vorbeistreicht, vielleicht sogar Wolfsgeheul aus dem Wald aufsteigt und zur verwandten Anwort zwingt?

Ach, wahrscheinlich sind sie zu erschöpft, die Abgerissenen ohne sicheren Unterschlupf; sind atemlos froh, irgendwo für diese eine Nacht geschützt in einem Busch zu liegen, weit weg von jeder Hundehütte, aus der ihre behausten Artgenossen gut Bellen haben, wieder und wieder.

Ein Hund, der anschlägt, tut seine Pflicht. Ganz bestimmt im ländlichen Rumänien, wo so allerhand ums Haus streichen kann. Wahrscheinlich ist dies, die angeborene Wächterfunktion, die Erklärung dafür, dass viele Einheimische sich Hunde zulegen, und zwar nicht als Knuddelkumpel, sondern als billige Alarmanlage. Leider sind viele hiesige Hundehalter – mit Ausnahme der Hirten, deren Schäferhunde schon auf ein Augenbrauenaufheben ihrer Meister akkurat folgen – nicht in der Lage, ihre Haustiere zu erziehen, sondern nur dazu, sie zu traumatisieren. Das Ergebnis sind neurotische Bellmaschinen, die auch ohne jeden Anlass hysterisieren.

Dies gibt auch im abgeschiedenen, überwiegend ruhigen Kleingroßdorf schon mal Anlass zu Köter-Killer-Fantasien.


Beim so genannten Sommer-Sachsen handelt es sich um eine Klima-Exzentrik, die völlig unabhängig von der globalen Erderwärmung nur in Siebenbürgen auftritt. Hier wuchs der Sommer-Sachse einst als Ganzjahres-Sachse auf, zog es dann aber vor, die Heimat zu verlassen, wofür er gute Gründe hatte – damals, als man im bitterkalten rumänischen Winter manchmal im knietiefen Schnee stundenlang für einen Liter Milch anstehen musste, womöglich erfolglos. Oder die Securitate im Morgengrauen schon den Onkel und die Tante abgeholt hatte und man sich fragen musste, ob man mittags wohl selbst dran wäre.

Seitdem Rumänien der EU angehört – bis auf den heutigen Tag weiß niemand genau, was das korruptionsverseuchte Land, das seine dunkle Vergangenheit nie glaubhaft aufgearbeitet hat, dafür jenseits geostrategischer Überlegungen qualifiziert haben mag –, kommt der Sommer-Sachse gern zurück – zeitweise.

Er tritt zusammen mit dem Frühling auf. Beginnt die Vegetationsperiode, beginnt er emsig, seinen Sommerverbleib – vielleicht neu gekauft oder gebaut, womöglich, wenn auch selten, nach Enteignung der Vorgeneration nur mit langem Kampf durch alle Instanzen an die Erben rückübertragen –, das Sommerhäuschen oder -haus also, aus dem Winterschlaf zu küssen; es zu schrubben, aufzuhübschen, den Garten zu bestellen, die alten Erinnerungen aufleben zu lassen.

Da fällt ihm auf: Es ist heute so wie früher – um ihn herum sind ja Rumänen, zu denen er sich selbst nie zählte, obwohl sein schon lange abgegebener alter Pass was anderes auswies. Früher ließ er sie zum Beispiel nach Hermannstadt nicht hinein, die Rumänen, noch nicht mal als Gesinde.

Nun ist Rumänien nur noch voller Rumänen, und damit muss der Sommer-Sachse umgehen. Nebenan.

Da wohnt seit Neuestem die Sippe Popescu, die haben sich gerade ein Haus gebaut, auf dem angrenzenden Grundstück. Das Stück Land hätte man selbst gern gekauft, nur um zu verhindern, dass so etwas passiert. Aber dafür reichte das Geld nicht, noch nicht mal bei den gutbestückten Sommer-Sachsen.

Nun sind die Popescus ihre Nachbarn. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden – nun ja, der Baulärm zog sich lange hin; zügig und verlässlich arbeitende Handwerker sind  in Rumänien schwer zu kriegen, das weiß man ja aus eigener Erfahrung. Sie verdienen lieber anderswo in der EU besseres Geld – Freizügigkeit halt.

Freizügig war auch die Einweihungsfeier der Popescus, sie zog sich, durchaus landesüblich, über drei Tage hin. Die Musica Populara dröhnte, an Schlaf war nicht zu denken. Aber da konnte man schon mal ein Auge zudrücken, wenn auch nicht zumachen.

Das Nachbarschaftsverhältnis blieb danach zunächst ungetrübt. Bis die Popescus sich einen Hund anschafften. Und dann offenbar noch einen.

„Die Popescus haben einen neuen Hund, glaube ich“, sagt die für die Sommerfrische zurückgekehrte Sächsin, während sie sich auf der rosenbekränzten Terrasse ordentlich mit Sonnenmilch einschmiert.

„Ach“, sagt ihr Mann, weit von Hermannstadt geboren, aber durch viele Aufenthalte in Siebenbürgen ordentlich angesächselt. „Ist der andere Endlos-Kläffer endlich tot? Wurde ja auch Zeit. Hat ihn vielleicht jemand vergiftet?“ Der Gatte liegt ermattet im zweiten Liegestuhl, er hat den ganzen Tag lang Unkraut im Garten bekämpft.

„Dreimal darfst du raten“, sagt sie und rollt jedes R, wie sie es immer tut, wenn sie in ihren angestammten Sprachraum zurückgekehrt ist. „Es gibt jetzt einen zweiten Hund nebenan.“

Der meldet sich auch gleich. Warum, weiß man nicht. Das war schon bei dem anderen Köter so. Niemand läuft an beiden Grundstücken vorbei, kein Hunde-Streuner zieht seine Runde; auch das Müllauto, der Erzfeind von Popescu-Bello Nummer eins, der zwei Mal pro Woche seine Seele auskeucht, wenn mal eine Tonne geleert wird, ist heute nicht dran.

Gebellt wird trotzdem, jetzt zweistimmig.

„Der Neue ist eher ein alter Bass, würde ich sagen. Während Nummer eins ja mehr so ein Kastraten-Fiepen absondert“, analysiert der Mann der Sächsin die Geräuschdarbietung und zupft sich Rest-Unkraut aus den Fingernägeln. „Wirkt Glyphosat auch bei Hunden? Man könnte ja eine Wurst damit beträufeln und durch eine Zaunmasche schieben. Oder eine Schrotflinte kaufen. Geht das hier eigentlich so einfach wie in West-Virginia?“

Beide Menschen schweigen dann. Beide Hunde nicht.

„Tja“, sagt der Mann der Sächsin, „ich geh dann mal untern Kopfhörer. Pink Floyd, ‚Animals‘, Track 2: ‚Dogs‘. Klingt besser. Großartiger Song übrigens, lange nicht gehört.“

Als er den Kopfhörer nach einer guten Viertelstunde wieder absetzt, hat seine Frau sich ins Haus geflüchtet und sich mit Ohropax verstöpselt. Nebenan ist Köter Nummer eins ganz außer sich: Frauchen und Herrchen sind nach dem Arbeitstag nach Hause zurückgekehrt und werden freudig begrüßt; die lautstarke Begeisterung will schier nicht enden.

Ei, das ist ein Winseln, Quietschen, Jaulen! Der Bass hingegen verhält sich ruhig. Wie sich später herausstellt, gibt er nur ein paar Tage lang ein Gastspiel als Besuchshund und hat wenig Anlass, seine Pflegeeltern so enthusiastisch willkommenzuheißen wie sein einheimischer Kollege.

Der wird wie üblich von den Nachbarn ignoriert, denen er weder ein gutes Wort noch eine Streicheleinheit wert ist. Die Enttäuschung darüber wird mit langanhaltenden Klagen quittiert, die sich fortsetzen, nachdem die Nachbarn schon längst im Haus verschwunden sind, in das ihr bester Freund ihnen natürlich nicht folgen darf.

Tatsächlich hat er nur ein kleines, handtuchbreites, stabil eingepferchtes Refugium im Garten zur Verfügung, das er sich nun auch noch mit dem fetten Bass teilen muss. Diese Internierungsmaßnahme wurde nötig, nachdem der junge, agile Hund den gesamten Popescu-Garten umgegraben und verwüstet hatte, aus schierem Bewegungsdrang, dem niemals jemand mit einem gemeinsamen Spaziergang oder Spielangeboten Abhilfe schafft.

Da Nummer eins zu Hause kein Bällchen stolz im Maul zum Werfer zurücktragen darf, auch nicht den allerkleinsten Ast apportieren kann, hat das schlaue Tier vor einiger Zeit eine Ausweichmöglichkeit gefunden, um sich Erleichterung zu verschaffen. Zum benachbarten Sommersachsen-Grundstück grub es sich während ihrer längeren Abwesenheit unter dem anfälligen Zaun durch.

Der Mann der Sommersächsin schaut gedankenverloren auf die Gartenschuhe auf der Terrasse, die deutliche Kauspuren aufweisen und kürzlich erst nach längerer Suche im Garten wieder ausgegraben werden konnten. Er seufzt.

Er mag Hunde eigentlich, sogar diesen vielleicht, wenn er nur besser geraten wäre. Er weiß: Mit mehr Aufmerksamkeit und Erziehung könnte aus dem kleinen Kerl was werden. Aber wie?

Eine Woche später deutet sich die Lösung an. Es ist merklich ruhiger geworden nebenan. Der unberechenbare Gast-Bass nervt jetzt wieder in seinem angestammten Heim die Nachbarn. Und vom Kastraten-Fieper ist so wenig zu hören, dass die Sächsin und ihr Mann sich schon fragen, ob er vielleicht eingeschläfert wurde, weil er seinen eigenen Haltern wohl auch mächtig auf die Nerven ging.

Doch weit gefehlt: Der kleine Kerl ist so fidel wie immer und jetzt wohl auch glücklicher. Ein anderer Nachbar, der einen alternden Hund besitzt, hat sich erbarmt. Der, so befand er, braucht ab und zu Gesellschaft, die ihn auf Trab hält. Also bot er den Popescus an, ihre kleine Nervtöle regelmäßig in das Auslaufgelände aufzunehmen, das er in seinem großzügigen Garten eingerichtet hat.

So hilft jetzt ein Hund dem anderen. Auf Menschen dürfen sie hier wenig zählen.



5. Selenes Sensen-Singen



Am International Airport Sibiu, also dem Flughafen von Hermannstadt, gibt es vier Flugsteige und (Stand Spätsommer 2025) knapp drei Dutzend internationale Destinationen. Vor der Sicherheitskontrolle wirbt ein Plakat des Fremdenverkehrsverbands mit einem gelungenen Foto der friedfertig erscheinenden siebenbürgischen Landschaft bei Ruhebedürftigen um innere Ein- und äußere Rückkehr: #soundofsilence.

„Hello darkness, my old friend, I’ve come to talk with you again…“ Im akustischen Dunkeln – sofern es so etwas geben kann – lässt das Poster, von dem hier die Rede ist, denn es ist nun mal kein Video mit Tonspur: Hinter den trefflich abgebildeten lieblichen Hügeln des bukolischen Siebenbürgens knattert, brummt und dröhnt es beständig, im Dienste der Landschaftspflege; mal mit Benzinmotor, durchaus auch elektrisch, aber trotzdem laut. Es darf, es muss geschnitten, gemäht und getrimmt werden, rasiermesserscharf, zu jeder Stund‘, an jedem Ort.

Die Rumänen sind ein fleißiges Volk. Sie lassen die wunderbare Idylle, die der Schöpfer ihnen zugeeignet hat, nicht unbestellt, dabei tagein, tagaus dem Auftrag des Herrn folgend: Macht euch die Erde untertan. Aus der fruchtbaren Scholle sprießt freilich auch allerhand, das der sorgsame Gärtner wie Bauer nicht gerne sieht und vertilgt sein will, damit es das Angesicht Gottes und der zur Pool-Party im Garten eingeladenen Gäste nicht beleidigt. Als da wären:

Quecke (ganz übel, sehr widerstandsfähig, kommt immer wieder, wie die Steuererklärung, ist deshalb abzulehnen); Wilde Möhre (ja, tatsächlich heißt die so, passen Sie beim Zubereiten des nächsten Möhreneintopfs auf, das Zeug mischt sich überall ein!); Wolfsmilch (nur im Alten Rom einst für die beiden legendären Stadtgründer notwendig); Hohlzahn (Dentisten horchen auf); Taubnessel (ein wunderbares Schimpfwort, das man sich aneignen sollte: „Sie Taubnessel, Sie!“). Ganz zu schweigen von der Wicke (vor allem der „Zotigen Wicke“, Vicia villosa; wie das schon klingt! So was will man gar nicht, es spielen schließlich Kinder im Garten), dem wiedergängigen Wegelagerer namens Wegerich (nomen est omen) oder gar dem Schierling: Als humanistisch gebildete Person weiß man ja, wie schnell der in einem Becher oder Kelch landen kann, den man womöglich nicht an sich vorübergehen lassen kann.

Diese Kräuter – alle! – sind, wo angetroffen, unverzüglich auszumerzen, abzumurksen, dem Erdboden gleich zu machen, mit Stumpf und Stiel auszurotten! Viel Ungemach und Unrast bereiten sie dem getreuen Gärtner, der ein Paradies auf Erden schaffen will. Gegen seinen Schöpfungsplan stemmen die Quälgeister sich gemein mit Wurzeln, die in den tiefsten Gründen der Hölle pferdefußen. Sie nisten sich in den Ritzen von Gehwegplatten ein (der Gutmensch nennt das „Fugenökotop“), versauen den Gesamteindruck, machen den Garten gar unbegehbar.

Schlimmer aber: Hartnäckig und völlig unversorgt gedeihen sie besser als jedwede gewünschte und sorgsam aufgepäppelte Pflanze. Sie entziehen ihr Nahrung, Wasser, Platz und Licht. Dass sie dann auch noch frech blühen, goutiert der Gärtner nicht. Er urteilt apodiktisch: „Das böse Grünzeuch, die Grüne Hölle, muss wech – schnellstens, bevor sich das aussät.“

Man darf das als Befehl verstehen. Ihm folgt jeder Schollenbesteller rund um die Welt. Aber normalerweise nicht rund um die Uhr. Für Siebenbürgen gilt jedoch: „Anders rinnt hier die Zeit.“ Kürzlich gab dies in Kleingroßdorf Anlass zu einem edlen Wettstreit im Mondenschein.

 

Es ist 23 Uhr, ein schöner Sommerabend, es wird gemäht. Bei Vollmond. Eine günstige Gelegenheit natürlich, warum sollte man die sich entgehen lassen – man braucht ja keine zusätzliche Beleuchtung.

Eigentlich passt das ins Gesamtbild, denn es wird sowieso den ganzen Tag lang gemäht – entweder in unserem Garten oder den anderen. Ist links einer fertig, fängt rechts einer an, auch weiter hinten oder vorn – man kann es in jeder Himmelsrichtung hören: Überall und ewig klingt das Lied der Motorsense, des Rasenmähers, der geländegängigen Kleintraktoren mit gigantischem Schneidwerk unter dem Hintern ihres Lenkers.

Seitdem ich mich mehr unserem siebenbürgischen Garten widme, als mir jemals vorstellbar erschien, vorwiegend dem Mähen, gehen mir Wörter wie „raspelkurz“ und „ratzekahl“ sehr flott und martialisch von der Zunge. Ich wünschte, ich könnte den darin enthaltenen Konsonanten „R“ so donnerrollend aussprechen wie meine Sommersächsin.

Die sagt: „“.

Ich verstehe sie nicht, denn ich habe heute nach dem täglichen Mähen, von dem ich erschöpft ausruhe, vergessen, das Ohropax zu entfernen. Meine Frau wiederholt sich erfolglos, schreit mir schließlich direkt in eines meiner nutzlosen Ohren:

„Nachbar Popescu hat einen neuen Mäher.“

„Das ist kein Grund, mich anzubrüllen.“

„Aber er stinkt entsetzlich nach Diesel.“

„Popescu?“

„Nein. Der Mäher. Ein Ungetüm. Wurde heute Abend geliefert. Sieht aus wie eine Kreuzung aus Mähdrescher und Panzerkreuzer. Offenbar hat Popescu beschlossen, ihn gleich auszuprobieren.“

„Das ist klug von ihm. Weißt du noch, wie wir neulich bei Amazon diese sündhaft teure Espressomaschine bestellt hatten und sich beim Auspacken herausstellte, dass ein Schnellkochtopf geliefert wurde?“

„Idiot!“

„Wer? Popescu?“

Die Sommersächsin wendet sich entnervt von mir ab. Ich pule mir in den Ohren und stoße auf eine klumpige, zähe Masse, die ich mit Mühe entferne. Das bereue ich sofort.

Auf dem Popescu-Grundstück finden offenbar gleichzeitig ein Luftlandemanöver und ein Rammstein-Konzert statt. Es herrscht kein schlichter Lärm, sondern Armageddon. Eine Endzeitmaschine zieht unbeirrbar Schneisen der Verwüstung und tut dies mit Geräuschen kund, die Ohrenzeugen in einer Live-Schalte des ARD-Brennpunkts vom Katastrophenort nur mit dem klassischen Satz kommentieren könnten: „Es war wie im Krieg.“

Und wie in jedem Krieg muss aufgerüstet und zum Gegenangriff übergegangen werden. Ich strecke den müden Rücken und gehe in den Maschinenraum des Sensenmanns. Im Geräteschuppen hinter unserem Haus mustere ich unsere eigenen Höllenmaschinen. Im Laufe der Jahre hat sich da so einiges angesammelt, für das man zwar keinen Führerschein braucht, die Nachbarn aber starke Nerven. Und einen guten Ohrenarzt.

Voller Vorfreude und Rachedurst streichelt mein Blick grimmige Scher- und Schneidwerke, tumultöse Trimmer, mörderische Motorsensen und das, was meine Sommersächsin ihren „Lady-Shave“ nennt, ein von ihr gut zu handhabendes Gerät, klein, aber oho, mit ordentlicher Geräuschentwicklung gesegnet.

Ich entscheide mich für meinen Lieblingsapparat, den ich insgeheim zärtlich den „Giant Hogweed Tamer“ getauft habe. Es handelt sich um eine geniale Ingenieursleistung mit Elektroantrieb. Sie ähnelt einem voluminösen, langstieligen Metalldetektor. Man kann sie mit einem Haltegurt auf der Schulter fixieren, um die Grüne Hölle in Halbkreisen zu bestreichen. Unter dem Halbteller ihrer Schutzabdeckung wütet je nach Zubehöreinsatz entweder ein achtschneidiges Rotiermesser oder eine Spule mit insgesamt 20 Metern tückischer Nylonschnur, die zu zwei Seiten herausdringt und in 30 Zentimetern Umkreis alles platt macht, was nicht niet- und nagelfest ist.

Während ich mit schweißnassen Fingern und beginnender Erregung wie üblich meinem Nylon-Fetisch nachgebe, denke ich kurz an einen Bekannten, der uns neulich mit dem Bekenntnis überraschte, solchen Segnungen der Technik abgeschworen zu haben, wegen ihres heftigen Mikroplastik-Eintrags in den Boden. Er benutzt jetzt eine klassische Sense. Deren Anwendung ist eine echte Kunst, vom regelmäßig nötigen Dengeln ganz zu schweigen. Hah! Was würde er jetzt tun, der Gutmensch mit seiner plastikfreien, völlig geräuschlosen Sense, da es nun gilt, einem Rivalen lautstark entgegenzuröhren?

In unserem Garten gibt es eigentlich immer was zu mähen. Ist man an einem Ende fertig, kann man am nächsten gleich wieder anfangen. Ich wähle ein Rasenstück möglichst nahe am Zaun zu Popescu, der Mond scheint da auch gerade günstig hin. Und schon geht es los!

Ich bedauere ein wenig, dass ich wegen des Elektroantriebs meines Spielzeugs den Dieselgestank nicht vergelten kann. Lautstärkemäßig bin ich Popescu aber ebenbürtig. Das glaube ich jedenfalls. So genau kann ich das nicht beurteilen, denn ich habe die Ohropaxklumpen auf dem Gartentisch liegengelassen und kann seit dem Anlassen meines Revanche-Rasierers eigentlich so gut wie überhaupt nichts mehr hören.

Doch eines bekomme ich mit: Der edle Wettstreit zwischen Popescu und mir fordert gegen 23:45 Uhr unseren zweiten Nachbarn heraus. Der lässt sich nicht lumpen und wirft seinen eigenen Mähmaschinenfundus an. Ich weiß, was er auf uns loslassen kann.

Kürzlich riet er mir dazu, mal einen Trumm auszuprobieren, den er sich bisweilen umschnallt, eine Art Motorrucksack mit Benzintank, um die Hüfte des Trägers windet sich ein Haltegestänge für die damit betriebene Doomsday-Sense. Kennen Sie das Film-Epos „Alien“? In einer der Folgen steigt die Heldin Ripley in einen Exoskelett-Roboter, um darin gegen das ewig wiederkehrende Monster from outer space zu kämpfen, wahrscheinlich lautet dessen Familienname „Quecke“. You get the picture, I guess.

Heia Safari! Nicht nur ist die gemeinsam heraufbeschworene Kakophonie jetzt unbeschreiblich, in ihrem schicksalhaften Getöse wohl nur von Wagner-Ouvertüren übertroffen – auch die geschändete Scholle vibriert nun grundstücksübergreifend, möglicherweise bereits ein Fall für Seismologen in ihren Erdbeben-Früherkennungswarten, selbst im knapp 300 Kilometer entfernten Bukarest.

Dann hat der Herr ein Einsehen. Der Vollmond verfinstert sich. Dunkle Wolken ziehen schnell auf und öffnen ihre Schleusen. Wir werden patschnass und bringen unsere kostbaren Gerätschaften in trockene Sicherheit. Ich würde sagen: Es war ein Unentschieden. Tomorrow is another day.

Leider sind der Sommer und die Vegetationsperiode ja viel zu kurz. Aber im Herbst kann man neues schweres Gerät in Stellung bringen, um den Holznachschub für den Kamin zu zerkleinern. Ich habe da schon was im Auge, durchaus auch im Ohr, aus „Manfred‘s Motorsägen-Sammlung“ im Internet; einen zweitaktigen Kraftprotz aus sowjetischer Produktion: die Kettensäge „Druschba“, einst im ganzen Ostblock weit verbreitet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Nachbarn beide noch eine im Keller haben. Ich werde mir auch ein Exemplar besorgen, die sind noch günstig erhältlich (wenn auch „für Bastler“).

Si vis pacem, para bellum. „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor.“ Lateinisches Sprichwort, vorwiegend auf den Autor Publius (oder Flavius) Vegetius Renatus zurückgeführt. 



6. From Pennsylvania to Transylvania – once in a lifetime



Kaum jemand in Transsilvanien – die Klofrau der öffentlichen Bedürfnisanstalt in Schäßburg (Sighisoara) ausgenommen, wo man sich am Eingang gegen Entrichtung von einigen wenigen Lei (rumänische Währung) neben einer Art Vogelscheuche fotografieren lassen kann, die den Fürst der Finsternis darstellen soll – wird besonders gern auf Dracula angesprochen. Dies geschieht dennoch natürlich ständig, wenn Touristen sich in die Karpatenregion jenseits der dunklen Wälder verirren.

Bram Stoker, so heißt es, wollte seinen Eins-a-Vampirroman ursprünglich in der Steiermark spielen lassen. Es kam anders und südöstlicher. Dann folgten viele B-Movies, die den Schauspieler Christopher Lee in der Rolle des adligen Blutsaugers unsterblich beziehungsweise untot machten (darunter 1972 das erstaunliche Werk „Dracula jagt Mini-Mädchen“) – und natürlich die „Rocky Horror Picture Show“ mit ihrem „Transvestite from transsexual Transylvania“. Auch sie hinterließ nachhaltigen Eindruck, vorwiegend im Westen.

Der Walachen-Fürst Vlad III., auch Vlad Tepes oder „Der Pfähler“ genannt, ist das historische Vorbild für Dracula. Dieser Sohn Vlads II., des Drachens (Dracul), – der hieß so, weil er Mitglied im Drachenorden Kaiser Sigismunds war –, wurde vielleicht 1476 geboren oder auch ein Jahr später. Eventuell geschah dies im siebenbürgischen Schäßburg.

Ganz gewiss war dieser Zuwachs der Vlad-Brut für viele Zeitgenossen kein Glücksfall, schon gar nicht für osmanische Abgesandte. Die ließ der Walachen-Herrscher Vlad Tepes von ihren Audienzen bei ihm gerne mal nur als Kopf im Korb an die Hohe Pforte des Topkapi-Palasts in Instanbul zurückkehren.

Die Siebenbürger Sachsen behaupten, die rumänischen Kommunisten hätten ihr sächsisches Schäßburg dem blutdürstigen Vlad später zu Unrecht und mit böser Absicht als Geburtsort zugeschrieben. Dort will eine Plakette an einem Haus in der historischen Oberstadt heute seinen mehrjährigen Aufenthalt verbürgen. Die an sich schöne Altstadt von Sighisoara birst vor Touristen und Dracula-Kitsch.

Nun haben die Sachsen es in Bezug auf den Vlad mit der Wahrheit aber selbst nie so genau genommen. Der walachische Herrscher behinderte mit seinem Zollregime ihren einträglichen Handel. Sie setzten deshalb allerlei schaurige Geschichten über ihn in die Welt.

Nicht, dass es deren wirklich bedurft hätte. Vlad, wiewohl ein selbsternannter Verteidiger des christlichen Glaubens gegen die Osmanen, an deren sultanischem Hof er als Geisel prägende Jahre verbrachte, war ohne Zweifel ein widerlicher Pfähler.

Einzelheiten seines Tuns werden in der einschlägigen Literatur genüsslich beschrieben; von der Kunst, einen Pfahl hinreichend zuzuspitzen und einzufetten, bis hin zu den geeigneten Körperöffnungen männlicher- und weiblicherseits, in die das grausame Holz sorgsam, noch in waagerechter Lage der Delinquenten, zu treiben war, damit es lebenswichtige Organe nicht sofort verletzte, bevor es neben dem Kopf, zu den Schultern, aus dem Leib drang und der Pfahl dann für langsames, qualvolles Sterben aufgerichtet werden konnte. Zu wahren Pfahl-Wäldern.

Puh. Ja, das ist schlimm. „Drac“ bedeutet im modernen Rumänisch „Teufel“, das half der Legendenbildung. Der Vlad soll der Kirche abgeschworen und Blut aus einem Kelch getrunken haben, nachdem ihn die Kunde vom Tod seiner geliebten Frau erreicht hatte. Diese hatte dem Leben angeblich mit einem tiefen Sturz aus einem Schlossfenster entsagt, weil sie durch eine gefälschte Botschaft annehmen musste, dass ihr vergötterter Gatte auf dem Schlachtfeld gefallen wäre.

 Vampirismus freilich kommt nur weit weg von Siebenbürgen bei einigen wenigen amerikanischen Fledermausarten vor. Allerdings litt die gesamte rumänische Nation vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter keineswegs erfundenen Blutsaugern.

Sie trugen viele unbekannte und bis heute noch auszugrabende und anzuklagende Namen, zwei prominente zweifelsfrei: Nicolae und Elena Ceaușescu – selbstherrliche Steinzeitkommunisten mit eingebildeter Ewigkeitsmacht, die nach einem Schauprozess zu Weihnachten 1989, während einer blutigen Erhebung, verdient, wenn auch nicht rechtsstaatlich, an die Wand gestellt wurden.

Diese Wand hätte nicht ausgereicht, um die Schatten aller unter ihrer jahrzehntelangen Gewaltherrschaft exekutierten Opfer hinter, neben, über und unter ihnen abzubilden. Es gibt rumänische Haushalte, in denen das Video vom verdienten Ende des Grusel-Pärchens heute noch gern gesehen wird.   

Dem frühen Vorgänger der Ceaușescus, dem Vlad, kann man vieles vorwerfen, die Unsitte des nocturnen Aderlasses trotz Bram Stoker hingegen wohl nicht. Kürzlich kam in Kleingroßdorf jedoch jemand an, der anderer Meinung war.


„Awesome. This is truly awesome, kind of like out of this world. So I really am in Transylvania here, right?“

Timothy hasste amerikanische Touristen. Wie sie sich kleideten, wie sie sprachen. Für den Engländer traf zu, was Mark Twain über das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten schrieb: „Two nations divided by a common language.“

Aber was sollte man machen? Business was low. Der Gast aus Littlefield, Pennsylvania, war zurzeit der einzige, den Timothy in seinem Bed and Breakfast beherbergte, in diesem alten Sachsenhaus im Dorfkern, das er mit viel Liebe und Arbeit hergerichtet hatte. Liebe hatte ihn auch hierher verschlagen. Seine Frau war Rumänin. Er Handwerker, ein geschickter und fleißiger.

Timothy hatte das schlummernde Potenzial von Kleingroßdorf erkannt, sich ans Werk gemacht, die noch vorhandene Bausubstanz des seit Langem verfallenden, ihm für geringes Geld zugefallenen Hauses bewahrt und aufgehübscht, mit Fremdenzimmern im alten Stil. Die Waschbecken waren in Porzellan gefasste Zinneimer ohne Boden. Ihr Abfluss mündete in eine Kanalisation, die mehr mit Gottvertrauen als mit westlichen Standards zu tun hatte.

Die Doppelbetten waren mit neuwertigen, durchgängigen Federkernmatratzen ausgestattet. Die Bettrahmen hingegen waren alt, sehr alt, stammten noch aus sächsischer Herrlichkeit, als man sich frühzeitig, gleich nach Sonnenuntergang, auf beiden Seiten der Matratzenritze zur Nacht einrichtete, einerseits vielleicht mit Schnurrbartbinde und christlichem Fortpflanzungswillen, andererseits mit Nachthaube und bangen, aber ergebenen Befürchtungen.

Man musste halt seine Pflicht tun, nicht wahr; jeder und jede, wo er und sie diese zu erfüllen hatte, auch wenn schon ziemlich viele hungrige Mäuler zu stopfen waren. Man konnte nur einmal in der Woche zum Speckturm der Kirchenburg gehen, wo die Notvorräte für den Fall feindlicher Angriffe verwahrt wurden, sich seine Ration von der für jede Hausnummer im Dorf sorgsam markierten Speckseite abschneiden lassen. Damit musste man wirtschaften.

Timothys wirtschaftliche Erwägungen beruhten darauf, wie schön die Gegend war, dass Internet-Travelsites Siebenbürgen immer häufiger als Geheimtipp auswarfen. Ja, es kamen die üblichen Rumänen, vor allem im Winter, die wollten dann hinauf zur Hohen Rinne und skifahren. Er hatte aber durchaus auch auf internationale Gäste gehofft. Jedoch nicht gerade auf diesen, der in Shorts und Sandalen vor ihm saß.

„So tell me“, sagte Timothys einziger derzeitiger Sommergast, „what is it with them Vampires? They still around?“

Timothy schloss kurz die Augen. „Well, you kow – they only come out at night.“

„Lots of them?“

Timothy ritt der Teufel, vielleicht der Drac. „Lots and lots. With full moon they just swarm around, we seek shelter in our basement then, covered under heaps of garlic.“

„Wow. I think we’re in for full moon, aren’t we?“

„Tomorrow“, sagte Timothy.

„Wow. Awesome“, bemühte der Amerikaner seinen übersichtlichen Wortschatz erneut. „You think I could get a glimpse of a bloodsucker? Maybe take a picture or two?“

„That depends.“

„On what?“

„The extra price you’re willing to pay.“ Mit düsterer Stimme fügte Timothy hinzu: „That ultimate price may be your life, of course. Endless darkness. For the time being, however, I would just charge you an extra 2.000 Lei (rund 400 Euro).“ Endlose Dunkelheit gab es in Kleingroßdorf freilich nur, wenn die Straßenbeleuchtung mal wieder ausfiel, so regelmäßig wie der gesamte elektrische Strom.

„Deal“, bestätigte der Transsilvanien-Besucher aus Littlefield, Pennsylvania. „So tomorrow we’ll do what?“

„We’ll take a walk to the Ort der Ruhe“, sagte Timothy mit Grabesstimme und den paar Brocken Deutsch, die er sich von den Siebenbürger Sachsen angeeignet hatte. „Up to the old German cemetery on the hill.“

Der alte deutsche Friedhof wies noch ein paar Grabsteine von Sachsen auf, die im Zweiten Weltkrieg während der östlichen Erweiterung des deutschen Machtbereichs in die SS gepresst worden waren, ihr teils aber auch begeistert beitraten und nahe der Heimat fielen. Wenige andere sterbliche Überreste aus dieser Zeit hatten es zurück in die Mutterscholle geschafft. Sie blieben nach dem Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reichs“ im Donez-Becken oder in Sibirien.

Wahrscheinlich hatte sich dort niemals jemand die Mühe gemacht, die Leichen der deportierten Sachsen – Männer wie auch Frauen im arbeitsfähigen Alter – ordentlich zur Ruhe zu betten oder auch nur zu zählen, nachdem sie den Entbehrungen der Zwangsarbeit unter sowjetischer Knute erlegen waren. Am Ort der Ruhe wurden ihre Grabsteine niemals errichtet.

Doch bewahrte dieser Ort auch das Andenken an jene, die nach der Hitlerei in Siebenbürgen ausgeharrt hatten, ihren Besitz verloren und schließlich auch ihr Leben. Dabei half der Geheimdienst Securitate der rumänischen kommunistischen Diktatur kräftig mit. Dann, als auch dieser Terror vorbei war, starben die Sachsen nur noch an Altersschwäche.

Es wuchsen vor Ort wenige aus ihren Familien nach, die sich noch persönlich um die Gräber kümmerten. Wer die Beine in die Hand nehmen konnte, hatte sich in großen Schüben abgesetzt, vorwiegend in die Bundesrepublik Deutschland, und die Gebeine der Vorfahren zurückgelassen. Aus der neuen Zuflucht überwies man dem verbliebenen deutschen Kirchensprengel Geld für die Grabpflege. In der Registratur der Friedhofsverwaltung arbeiteten jedoch nur noch wenige Sachsen. Den überwiegend rumänischen Mitarbeitern fiel es mitunter schwer, die Zuwendungen beim Sortieren der vergilbten Grabkarten den richtigen Ruhestätten mit all den fremd klingenden Namen aus einem anderen Jahrhundert zuzuordnen, all den Philippis, Roths und Schusters.

Das ging Timothy nichts an. Er war Engländer und Pragmatiker und hatte viele Freunde im Dorf, alle wie er selbst das, was man auf Rumänisch „Schmecher“ nennt, Schlitzohren. Einige davon waren Rumänen, andere hartgesotten überwinterte Sachsen. Beide Volksgruppen konnten schon immer Spaß daraus schlagen, tumben Fremden eins auszuwischen. Dies geschah nun.

Der Betreiber der örtlichen „Cabana Sasilor“, der „Sachsen-Hütte“, war ein alter Sachs. Er stand einem Motorradclub von eingefleischten Enduro-Fahrern vor, die gerne mit größtmöglichem Geräuschaufwand die Abhänge rund ums Dorf umpflügten. Außerdem war er DJ. Er verfügte nicht nur über eine ansehnliche, für empfindliche Ohren unerträgliche Sammlung von alten deutschen Schlagern, siebenbürgischer Blasmusik und rumänischer Musica Populara, sondern war auch stolzer Besitzer einer batteriebetriebenen Nebelmaschine.

Dieser Apparat wurde tagsüber gut verborgen am Ort der Ruhe in Stellung gebracht. Es würde natürlich noch ein Untoter aus einem Grab auferstehen müssen. Der sächsische Totengräber hatte zufällig gerade eine frische Grube ausgehoben, die dazugehörige Bestattung stand aber erst übermorgen an. Gegen ein Handgeld erklärte er sich bereit, sich kurz vor Mitternacht in das bereits geschaufelte Erdloch zu kauern, sich zum rechten Zeitpunkt aufzurichten, mit einem alten sächsischen, mottenzerfressenen Kirchenpelz angetan, den Timothy mal günstig auf einem Flohmarkt erstanden hatte, als Dekoration für die Garderobe in der Eingangsdiele seines Bed and Breakfasts.

Alles war gerichtet, die Vorbereitungen perfekt. Der Vollmond ging auf. Der Nebelwerfer warf Nebel. Es flatterten sogar ein paar Fledermäuse über das Friedhofsgelände; die waren nicht mit Timothy im Bunde, sondern tun dies dort im Allgemeinen tatsächlich jede Nacht.

Im dunklen Herzen Transsilvaniens legte Timothy seine Hand auf die Klinke des schmiedeeisernen Tors zum Ort der Ruhe, das schief in den Angeln hing, und bedeutete seinem Begleiter aus Littlefield, Pennsylvania, Stillschweigen, indem er seinen Zeigefinger verschwörerisch auf die Lippen legte. Das Tor quietschte vor Altersschwäche, der Tourist vor Vergnügen. „Wow. Awesome“, bemerkte er vorhersagbar.

„Hold on tight and enjoy your ride“, sagte Timothy und ergriff die Hand des Amerikaners. „And, for Mighty God’s sake, do wear this.“ Er bekränzte den Touristen mit einer Knoblauchkette, warf sich selbst auch eine um. „Are you a Christian, my dear Sir?“, fragte er.

„Reborn Evangelist“, sagte der Tourist atemlos, dennoch bestimmt. „Should we not have brought a cross, too?.“

In diesem Moment erhob sich der Totengräber aus seiner Grube und breitete die Arme aus. Er rief: „Mein geliebtes Weib, wo bist du? Ich werde dein Andenken ehren, seine Befleckung rächen und meine ewige Vergeltung über die Welt ausschütten!“

„What’s he saying?“, fragte der Tourist. „Doom“, erwiderte Timothy. „Eternal doom to all who disgrace my beloved wife’s honour. I’ll revenge her.“

„Awesome. He said that in Romanian?“

„No. In German.“

„Well, Dracula must be a Nazi, I gather. Makes sense with the whole blood an honor thing and all that. You think it’s safe to take a picture of me by his side?“

„I don’t know. For a generous tip – maybe. He mostly lives on blood stamps these days and cold use the extra money. The garlic should protect you, I assume, if only for a short while. But you may find out the picture won’t show much of him – his kind does reflect in mirrors.“

„No prob“, sagte der Amerikaner, „I don’t carry a reflex camera, just my smartphone. Would you mind?“ Er überreichte Timothy sein iPhone und zusätzliche 500 Lei.

Timothy hatte Mühe, den angebrachten Ernst zu bewahren. Der Totengräber auch, aber die 500 Lei waren ihm nicht entgangen, und für die legte er sich noch einmal extra ins Zeug. Er winkte dem Touristen aufmunternd zu.

„My God, he smells. He must be half rotten“, sagte der Amerikaner halblaut zu Timothy und stellte sich dann neben den Totengräber, der es mit dem Duschen noch nie genau genommen hatte. „The scent of the ages“, sagte Timothy mit der letzten Selbstbeherrschung, die ihm noch zur Verfügung stand, und drückte auf den Auslöser.

Nach dieser unvergesslichen Nacht musste der Tourist aus Littlefield, Pennsylvania, früh aufstehen – weil sein transkontinentaler Rückflug  bevorstand. Als er noch vor Sonnenaufgang das Fenster seines Fremdenzimmers öffnete, war es ihm, als ob etwas in der Dämmerung aufflöge, womöglich ein Fledermaus-Schwarm. Es waren aber nur Spatzen. „The real Transylvania“, dachte er dennoch.

Der Tourist checkte ein. Er flog los. Doch kurz nach dem Start im Morgengrauen vom internationalen Flughafen Hermannstadts (Sibiu) ging etwas schief. Im Steigflug verfing sich in den Turbinen des Flugzeugs ein Schwarm von irgendetwas Geflügeltem. Statistisch gesehen sind solche Unfälle extrem selten. Die Überlebenschancen der Passagiere auch.

Das letzte Foto vom wackeren Reisenden aus Littlefield, Pennsylvania, das er vor seinem gescheiterten Heimflug aus Rumänien in seine WhatsApp-Gruppe gestellt hatte, zeigt ihn selbst messerscharf neben einer verschwommenen Gestalt, deren Umrisse kaum erkennbar sind. Es scheint, als ob eine schwarze Schwinge einen Teil des Objektivs verdunkelt hätte.