Alle Anekdoten aus Kleingroßdorf und Umgebung sind rein fiktiv, sämtliche handelnden Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit ließen sich manchmal nicht vermeiden.


  1. Evangelischer Speck
  2. Deus ex Masina
  3. Im Zweifel für den Angeblökten
  4. "Animals", Track Two: "Dogs"
  5. Selenes Sensen-Singen
  6. From Pennsylvania to Transilvania - once in a lifetime
  7. Nu avem curent - Wir haben keinen Strom
  8. Die Brücke
  9. Romeo und Iulia




1. Evangelischer Speck


 

Ganz Transsilvanien ist vom Halloween-Virus infiziert. Ganz Transsilvanien? Nein! Ein noch von ein paar Siebenbürger Sachsen bewohntes Dorf so ziemlich in der Mitte Rumäniens hört nicht auf, dem invasiven Kommerz Widerstand zu leisten. Am 31. Oktober begehen die Sasi, wie die Rumänen die alten Saxones nennen, dort mit einem altsächsischen Gottesdienst den Reformationstag und erinnern damit an die 95 Thesen Luthers, mit denen 1517 die Kirchenspaltung begann. Der Pfarrer tut dies bei dieser Gelegenheit auf Saksesch.

Seine Predigt im alten siebenbürgisch-sächsischen Dialekt, einer moselfränkischen Mundart, die im Hochmittelalter entstand, versteht zwar nur eine Minderheit der Kirchengänger noch vollständig. Alle aber sind vereint im heißen Begehren nach der Labsal, die nach dem Gottesdienst im Pfarrhaus auf sie wartet: Evangelischer Speck.

Dieser Brotaufstrich aus durch den Fleischwolf gedrehtem fetten Speck, Zwiebeln und hartgekochten Eiern ist nicht jedermanns Sache, in dessen Brust kein sächsisches Herz für die ehrwürdige Tradition dieser im Verschwinden begriffenen deutschen Volksgruppe schlägt. Die Verbindung der Speise mit der Reformation, die unter den Siebenbürger Sachsen einst besonders erfolgreich um sich griff, macht das feurige Bekenntnis zu den für Außenstehende recht überschaubaren kulinarischen Vorzügen des Evangelischen Specks für sie jedoch zur Ehrensache.

Kürzlich wurde daraus in Kleingroßdorf, wo die deutsche Gemeinde noch um die 100 Glieder zählt – bei Weitem nicht alle Sachsen –, ein kleines Drama.

 


„Pfui Teufel!“ dachte Michael, drehte sich zur Wand und spuckte das gerade abgebissene Stück der Brotschnitte in seiner linken Hand verstohlen in seine rechte, ballte sie zur Faust und widmete sich dann wieder dem Geschehen im Pfarrhaus, dabei nach einer Serviette oder einem Papierkorb Ausschau haltend. Es gab weder das eine noch das andere.

Sein Vater befand sich in angeregtem Gespräch mit dem Pfarrer, einem Turm von Mann mit riesigen, klobigen Händen. Der Pfarrer trug noch sein Ornat. Es bestand aus einem schwarzen, knielangen Leibrock, dem Dolman. Darüber trug der Gottesmann den eng gefältelten, offenen Krausen Rock. Auf dem Kopf des Pfarrers saß ein Barett.

Seinen Dolman hielt an der Taille ein ebenfalls schwarzer Samtgürtel mit Troddeln zusammen. Oberhalb der Hüfte verschloss den Leibrock vor der Brust des Pfarrers eine lange Reihe silberner, sorgfältig geputzter Spangen – die Krepel.

Die hatte Michael schon während des Gottesdienstes bewundert, als sie im Kerzenlicht gänzten. „Cool“, dachte er auch jetzt wieder und trat näher, die angespeichelte Brot- und Speckmasse in seiner rechten Hand gedankenverloren knetend.

Seine Eltern hatten ihn in diesem Urlaub durch allerhand Kirchen geschleppt; sie nannten sie Kirchenburgen, und tatsächlich sahen einige davon teilweise aus wie seine Playmobil-Ritterburg daheim in Schwäbisch Hall. Er selbst wäre lieber wieder nach Gran Canaria gefahren, aber seine Eltern hatten es für an der Zeit gehalten, dass er mal das Land ihrer Herkunft sah, wo sie selbst einst ihre Jugend verbracht hatten, bis sie nach Deutschland abhauten. Der Reformationsgottesdienst im alten Heimatdorf stellte für sie den Höhepunkt der Reise dar, die ihnen an verschiedenen Orten schon die Tränen in die Augen getrieben hatte.

Michaels Vater bemerkte, dass sein Sohn sich näherte. Er wandte sich ihm halb zu und rief: „Ah, Michi! Komm mal her und sag dem Herrn Pfarrer guten Tag!“

Der Pfarrer lächelte ein gütiges Lächeln, beugte sich zu Hendrik hinunter, deutete erst auf die linke Hand des Kindes mit der Stulle und streckte ihm dann seine eigene rechte entgegen. Dabei sagte er: „Na, mein Sohn, ich sehe, du hast den Evangelischen Speck schon gefunden. Schmeckt er dir denn?“

Michaels Schritt stockte. Die schleimige Masse in seiner Faust brannte plötzlich wie Feuer. Er musterte entsetzt die Pranke des Pfarrers, verbarg seine eigene rechte Hand hinter dem Rücken und schüttelte den Kopf.

Der Pfarrer runzelte die Brauen. Michaels Vater sagte ungehalten: „Nun gib dem Herrn Pfarrer schon die Hand. Wird’s bald?“. Michael blickte zum Pfarrer auf. Dieser nickte ihm aufmunternd zu. Michael schaute zu seinem Vater. Der neigte den Kopf in Richtung des Pfarrers und bedeutete seinem Sohn damit, nun endlich dessen Hand zu ergreifen.

Michael seufzte und griff zu. Der Pfarrer vergab, wie es seine Berufung ist.



2. Deus ex masina



Wer darüber staunt, dass sich mehr als 45 Prozent der abstimmenden Rumänen 2025 bei der Wiederholung ihrer zuvor annullierten Präsidentenwahl für einen rechtspopulistischen Extremnationalisten mit Wurzeln in der Bukarester Hooligan-Szene entschieden (zum Glück gerade noch mal erfolglos), der sollte dieses furchtlose Volk erst einmal Auto fahren sehen.

Die gefühlte knappe Hälfte der rumänischen Mobilisten (manchmal scheint nur diese Teilmenge auf der Straße zu marodieren; der halbwegs bei Verstand befindliche Rest der Bevölkerung tut gut daran, das Wagnis der Teilnahme am Autoverkehr auf das unbedingt erforderliche Mindestmaß zu beschränken) legt unerschütterliches Gottesvertrauen an den Tag, wenn sie ihre „masina“ (sprich: „maschina“) steuert, ihr Auto, das deutlich schneller rasen als sein Lenker denken kann. Die Fähigkeit zur Folgenabschätzung der eigenen Fahrweise bewegt sich bei den teils suizidalen, teils homizidalen Romaniacs on wheels weit unterhalb ihrer eigenen Wahrnehmungsgrenze.

Anders als durch evolutionären Nachholbedarf ist dieser offenbar quasi genetische Defekt nicht erklärbar. Das ehemaliges Hirtenvolk war nach Überwindung der sozialistischen Mangelwirtschaft – die dem Land fast nur Übles brachte, aber wenigstens wenige Autofahrer – womöglich unfähig, die Transformation von Pferdefuhrwerk zu Verbrennungsmotor möglichst bevölkerungsschonend zu vollziehen.  

„Pastrati distanta“ („Abstand halten“): Erfolgloser als dieses Warnschild an rumänischen Schnellstraßen war eine Mahnung selten, seit der liebe Gott Adam und Eva auftrug, sich vom Baum der Erkenntnis maximal entfernt zu halten. (Auch der Begriff „Schnellstraße“ ist in Rumänien übrigens relativ: Jedwede 30-Kilometer-Zone in geschlossenen Ortschaften wird gewohnheitsmäßig als unzulässige Beschneidung der eigenen Selbstverwirklichung aufgefasst. Die  Definition von inner- und außerorts verschwimmt angesichts des chronisch prekären Zustands des Straßenbelags ohnehin: Für einen Vierrad-Antrieb ist man hier selbst in Stadtzentren dankbar, dafür braucht man nicht in anderweitig unwegsames Gelände zu fahren.)

Blei im Fuß, Holz im Kopf – so sind sie gerne unterwegs in Rumänien, durchgezogene Linien auf dem Asphalt ignorierend, Geschwindigkeitsbeschränkungen als nur pro Achse gültig auslegend (LKW-Fahrer mit Anhänger wähnen sich hier deutlich im Vorteil). Bremswegabschätzungen sind nur was für Physiker, von denen wenige positiv im Straßenverkehr auffallen. Der Rückspiegel ist selten einen Blick wert, warum auch, an dem hängt ja eine Plastikikone, die wird’s schon richten. Gott mit uns!

Die EU-weit einzigartige Unfallstatistik des Landes ist tödlicher Beleg für die Konsequenzen dieser Denkweise, soweit von Denken in diesem Zusammenhang die Rede sein kann. Vor einer Anhöhe, in einer Kurve einer zweispurigen Straße müssen wir uns hier alle in den wohlfährigen Glauben daran schicken, uns der Obhut einer höheren Macht anvertrauen zu dürfen.

 „Dumnezeu“, der liebe Gott, wird seine schützende Hand schon über den Typen halten, der als zwanghaft überholender Gegenverkehr gerade auf deiner Straßenhälfte auf dich zurast und dich ganz selbstverständlich zur Vollbremsung nötigt, damit er noch knapp auf seine eigene, ihm viel zu enge, einscheren kann. Um kurz darauf, nicht etwa geschockt, sondern in seinem Wagemut bestätigt, zum nächsten halsbrecherischen Überholmanöver anzusetzen. Man muss fürwahr wohl orthodoxen Glaubens sein, um derartig unorthodox zu stümpern – und zu morden. Denn Vorsatz darf durchaus vorausgesetzt anmuten.

Ein erfahrener deutscher Autofahrer, der seit Jahren dem rumänischen Straßenverkehr trotzt – keiner weiß, wie lange das noch gutgehen mag, denn der Mann glaubt nicht an orthodoxe Schutzheilige –, fasst es so zusammen: „Man muss in diesem Land am Lenkrad nicht nur viel Sorgfalt darauf verwenden, sich selbst zu schützen, sondern auch darauf, anderen unverdient das Überleben zu ermöglichen.“

Ja, so haben wir es alle mal gelernt: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Umsicht, Vorsicht und Rücksicht. Man kann natürlich auch ein Stoßgebet gen Himmel schicken und einfach Gas geben, gottbefohlen.

Manchmal aber hat Dumnezeu einfach was anderes zu tun, als im rumänischen Straßenverkehr Schaden selbst von den dümmsten seiner Schäfchen abzuwenden. Auch deren gottergebene Hirten jedweder Konfession sind im Fahrersitz nicht davor gefeit, dass der Herr sich von ihnen abkehrt, wie sich in Kleingroßdorf jüngst erwies. Manche sahen dies als Gottesgericht.

 


„Der Pope hat die Vorfahrt nicht beachtet“, sagt der alte Siebenbürger Sachse, einer der wenigen seiner Art, die im Dorf noch übrig sind. „Dein evangelischer Pfarrer hatte es eilig und fuhr zu schnell“, hält sein rumänischer Gesprächspartner dagegen und schenkt zwei weitere Gläser Tuika (sprich: „Zuika“) ein, den rumänischen Obstler, den kein Einheimischer jemals in irgendeinem Geschäft kauft. „Jeder weiß, dass er sonntags von einem Gottesdienst zum anderen hastet.“

Es geht gen zwölf. Sowohl in der evangelischen als auch in der orthodoxen Kirche des Dorfs – beide sind einander unmittelbar benachbart – fällt am heutigen Sonntag der Gottesdienst aus. Der Frühschoppen wird vorgezogen.

Der evangelische Pfarrer liegt nach seinem Zusammenstoß mit dem Popen mit Verdacht auf Schädeltrauma im Spital de Urgenta der Kreisstadt, in der Notfallaufnahme. Seine gesamte Gemeinde betet für ihn, aber es sind wenige Gebete, weil sie klein ist. Der Pope, der im Krankenhaus sicherheitshalber auch untersucht wird, hat erkennbar kaum etwas abgekriegt. Er fuhr halt keinen alten VW-Jetta wie der Pfarrer.

Beide Zecher, einander lang bekannt, gute Nachbarn, erheben die Gläser. „Sanatate“, sagt der Rumäne. „Gott helf’s“, entgegnet der Sachse. Man kippt und schaut eine Weile vor sich in.

„Eine schöne, stabile Masina war das, die der Pope fuhr, Volvo, glaube ich“, erwähnt der Rumäne. „Die orthodoxe Kirche hat viel Geld“, antwortet der Sachse. „Unsere Kirchenburg oben auf dem Hügel könnte neue Dachschindeln gebrauchen. Aber aus Bukarest kommt ja nix.“

Man schweigt. Die Flasche ist noch dreiviertel voll. Der Rumäne schenkt nach. „Aus Bukarest ist noch nie was Gutes gekommen“, sagt er. „Aber dein Pfarrer, Gott möge ihn schützen, hatte es eben einfach zu eilig“, wiederholt er.

Der Sachse brummt und leert sein Glas. „Der muss sonntags auch mindestens in drei sächsischen Kirchengemeinden hintereinander pünktlich sein. Es gibt nicht mehr so viele von uns, und wir sind weit verstreut.“ „Ja“, bestätigt der Rumäne, zieht beim Schlucken mit dem Sachsen gleich, wischt sich den Mund ab und fügt hinzu: „Sind halt viele von euch weggegangen.“

Der Rumäne schenkt nach. „Die Flucht“, zitiert er dann ein altes Sprichwort seines Volks, „ist schändlich, aber gesund.“ Der Sachse blickt wortlos in den vor ihm wartenden Schnaps. „Aber ihr habt zu viele Parkplätze vor eurer Kirche. Direkt neben unserer“, lässt er sich doch vernehmen. Und er beharrt: „Der Pfarrer hatte Vorfahrt!“ Des Sachsen Gesicht ist vom starken selbstgebrannten Pflaumenschnaps gerötet, der in einer Anderthalb-Liter-Flasche, die ein unschuldig erscheinendes Mineralwasser-Etikett tarnt, vor den beiden Trinkern steht.

„Wir haben mehr Kirchgänger als ihr. Viel mehr. Die brauchen Platz“, gibt der Rumäne zu bedenken. Die Tuika ist ihm nun auch schon ordentlich zu Kopf gestiegen. Er lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. „Vorfahrt,“ sagt er darauf, „bricht außerdem nicht Gottes Willen. Und der ist immer mit dem Popen. Euer Pfarrer hätte weichen sollen. So wie die meisten von euch es schon lange getan haben.“

Zwei randvoll gefüllte Gläser Schnaps stehen ziemlich lange unberührt zwischen den beiden Nachbarn, die einander in die Augen schauen. Dem Sachsen liegt eine Bemerkung auf der schweren Zunge, die er lieber sein lässt.

Der Rumäne hebt schließlich sein Glas. „Nun“, sagt er, „ich werde für euren Pfarrer beten. Schließlich sind wir alle Christen, gemeinsam in Gottes Hand.“ Darauf trinkt man inbrünstig.

Was soll man sonst tun, in Kleingroßdorf, am Sonntagmittag, ohne Gottesdienst, ohne Pfarrer, ohne Popen? Bei einer Flasche Moonshine, aus der zwei den gleichen Fusel süffeln, einer aber nur die dunkle Seite des Monds schmeckt?



3. Im Zweifel für den Angeblökten



Man kann Schafe kommen riechen.

Ich wusste das nicht, und die Zwangsläufigkeit dieses Phänomens ist jedem keinerlei Erwähnung wert, der mit ihnen in Nasennähe aufwuchs (Ziegen sind noch viel schlimmer, wie mir inzwischen auch bekannt ist).

Aber ich wurde in Berlin-Wilmersdorf groß, als dieser Teil der Großstadt schon längst kein Dorf mehr wahr. Meine Berührungsflächen mit Schafen beschränkten sich dort im Wesentlichen auf das Brettspiel „Siedler von Catan“, und dabei waren sie für mich oft schmerzhaft absent, sei es für den gewünschten Kauf einer Entwicklungskarte (Basisspiel) oder den Erwerb eines Ritters (Städte-und Ritter-Erweiterung).

Schafe also. Wie komme ich darauf? Ach so: Gestern trieb der Schäfer gerade mal wieder seine Herde an unserem Haus in Siebenbürgen vorbei. Und mir fiel auf: Noch bevor man die Glocke des Leithammels oder irgendwelches Blöken der Restherde hört, kündigen diese Wolle- und Sympathieträger ihren Vorbeimarsch vorauseilend und arttypisch mit Fragrance an; dieser unnachahmlichen Duftmischung aus herben, hinterseitig stoffwechselbedingt erzeugten Basistönen und blumigen Kopfnoten, die dem wiederkäuenden Vorderteil entströmen.

Laut ungesicherten Quellen zählt Rumänien fast halb so so viele Schafs- wie Menschenköpfe. Schnittmengen sind möglich. Die Schafzucht hat vor allem in Siebenbürgen offenbar eine besonders ehrwürdige Tradition. Doktor Ciprian Ghisa, damals stellvertretender Direktor des Transylvania College/The Cambridge International School in Cluj-Napoca (Klausenburg), hielt 2017 in einem verdienstvollen Beitrag für die Zeitschrift „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ fest: „Die berühmtesten rumänischen Schäfer und Schafzüchter stammten aus der Region um Sibiu“ (zu Deutsch: Hermannstadt).

Nicht nur in dieser Region war man in Rumänien zu Zeiten der Mangelwirtschaft unter dem durchgeknallten stalinistischen „Conducator“ Nicolae Ceaușescu froh, wenn man einen dieser berühmten Schafzüchter kannte, der einem für die eine oder andere Gefälligkeit ein bisschen Hammelfleisch auf den Tisch zaubern konnte – ganz diskret natürlich. Weniger dezent sind die Häuser in den Dörfern mancher wohlhabender Schäferfamilien oben in den Bergen, die seit Generationen darin wetteifern, mehr Säulen, Erker und Marmor als der Nachbar zur Schau zu stellen.

Der Besitz von Schafen, im Catan-Spiel ein harmloser Glücksfall, der einem höchstens Siegpunkte einbringt, kann sich in Rumänien immer noch auszahlen – vermeintlich sogar ganz ohne auch nur ein einziges Tier zu tauschen, zu verkaufen, zu scheren oder zu schlachten. Dieses ungewöhnliche Geschäftsmodell war jedenfalls der Hintergrund einer Gerichtsverhandlung, die neulich in der für Kleingroßdorf zuständigen Kreisstadt einen Schäfer und einen Gartenbesitzer vor dem Kadi aufeinandertreffen ließ.

 


Es ist August, und es ist heiß in den Räumen der Primarie der Kreisstadt. Sie beherbergen neben dem Rathaus und angeschlossenen Ämtern auch den Sitzungssaal des Amtsgerichts. Sowie zurzeit einen recht ungehaltenen Amtsrichter, der den Saaldiener zum wiederholten Mal fragt, wann denn endlich der angekündigte Reparaturdienst anrücken werde, um die ausgefallene Klimaanlage zu richten?

„Nici o problemă”, sagt der Untergebene, buckelt und zückt erneut sein Handy. Kein Netz.

Der Amtsrichter seufzt, wischt sich den Schweiß von der Stirn und öffnet den obersten Hemdknopf. Es ist ein langer Tag gewesen. Der letzte Fall für heute ist aufzurufen. Dieser liegt noch nicht lange zurück, keine drei Wochen. Manchmal, wenn auch sehr selten, geht es selbst in Rumänien schnell mit juristischer Aufarbeitung.

Der Richter schlägt den Aktenordner auf. Vor der Saaltür entsteht Tumult. „Halsabschneider!” – „Schafficker!” – „Ausbeuter!” – „Missgeburt!” Es folgen etliche der rumänischen Sprache eigene missgünstige Bemerkungen über Körperöffnungen engster Verwandter weiblichen Geschlechts sowie über ein Hengstgemächt.

Der Sicherheitsdienst greift ein und trennt die Streithähne. Sie werden einzeln vor den Richter geführt.

Zunächst Vasile Andrei, von Beruf Schafzüchter, bislang unbescholten. Der Richter weist ihm mit strengem Blick den Platz rechts von seinem Pult zu, neben dem Fenster. Dann betritt Bogdan Stoica den Saal, Ruheständler, wegen Körperverletzung vorbestraft. Er besitzt ein ansehnliches Grundstück in Kleingroßdorf, auf dem er in einem stattlichen Haus mit großem Garten wohnt. Der Richter schickt ihn mit einer herrschaftlichen Kopfbewegung nach links, möglichst weit von Vasile weg.

Beide Kontrahenten haben auf einen Rechtsbeistand verzichtet, giften einander mit Blicken an, verhalten sich nun aber ruhig. Die Richterwürde wirkt, auch wenn die beleibte hohe Amtsperson schwitzt wie, nun ja, darf man es sagen: ein Schwein.

Aber hier geht es nun um Schafe. Um die von Vasile, dem Cioban (Schäfer). „Also”, sagt der Richter und blickt beide Vorgeladenen nacheinander scharf an, bevor er fortsetzt: „Der Kläger” – ein Nicken in Richtung von Vasile – „bringt vor, dass der Beklagte” – nun wird Bogdan ins Auge gefasst – „vom Mähdienst seiner Schafe Gebrauch machte, ohne diesen zu entgelten. So weit richtig?”

Vasile nickt, doch Bogdan brüllt: „Mähdienst? Dass ich nicht lache! Niemand hat seine stinkenden Schafe eingeladen, sich über meinen gepflegten Garten herzumachen! Das Gartentor stand einen unbeobachteten Moment offen, und dann sind sie eingedrungen und haben alles kahlgefressen!”

„Bogdan ist ein Idiot und hat vom Gärtnern keine Ahnung”, blökt der Schafbesitzer Vasile zurück. „Gepflegter Garten? Sein Gras steht kniehoch, weil er zum Mähen zu faul ist! Meine Schafe haben ihm einen Gefallen getan!”

„Ruhe!”, verlangt der Richter und öffnet würdelos den zweiten Hemdknopf; es ist einfach zu heiß, und diese beiden Typen nerven. Er weist mit dem Zeigefinger auf Vasile. „Sie als Kläger erwarten also, dass der Beklagte Sie dafür entlohnt, dass Ihre Schafe seinen Rasen kurzgeschoren haben, obwohl er Ihre Herde nicht damit beauftragt hat?”

Vasile knickt ein und wird kleinlaut. „Nun ja, Auftrag – das ist ja eine reine Formalie, nicht wahr? Es hat sich eben so ergeben, und der Garten sieht jetzt ja auch viel besser aus…”

„Kostenloses Grünfutter hat er bekommen für seine blökende Bande”, erregt sich Bogdan. „Eigentlich sollte er das mir bezahlen!”

„Ein interessanter Vorhalt”, sagt der Richter, dem die Feinheiten der Rechtsauslegung natürlich im Blut liegen. „Wünschen Sie, diesbezüglich selbst Klage zu erheben? Ich muss Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass es sich um einen Vorgang nicht weiter verfolgenswerten Mund- beziehungsweise Maulraubs handeln könnte, obwohl die Präzedenzfälle selbst in Rumänien in Bezug auf Schafe gering sein dürften. Ich würde das weitere Vorgehen an Ihrer Stelle sorgsam überdenken.”

Dann wendet sich der Richter Vasile zu. „Auch Sie hätten sich Ihre Klage gut überlegen sollen. Ich könnte sie niederschlagen und Ihnen die Gerichtskosten aufbürden. Apropos niederschlagen: Treten Sie doch bitte mal vor, Herr Andrei.”

Vasile tut, wie ihm geheißen. Der Richter mustert sein Gesicht. „Ist das da ein abheilendes blaues Auge?” Vasile nickt. „Hat das vielleicht mit Ihrer Auseinandersetzung mit Herrn Stoica zu tun?” Der nun eingeschüchterte Vasile zögert, schüttelt dann den Kopf.

„Na prächtig”, sagt der Richter. „Ich gehe davon aus, dass Sie von Ihrer Klage zurücktreten, sich damit Kosten ersparen, hier nicht etwa wieder auftauchen und auf Körperverletzung klagen. Die ganze Angelegenheit wird wegen Unerheblichkeit eingestellt. Die Kosten trägt, wegen, äh, besonderer Umstände der rumänische Staat, Näheres in meiner Begründung, da wird mir schon was einfallen.” Er schnauft. „Hoffentlich.”

Bogdan lacht triumphierend. Der Richter lächelt süffisant und trägt ihm auf: „Sie, Herr Stoica, werden Ihre Gartenpforte fortan ein Mal pro Woche für die Herde von Herrn Andrei öffnen. Das wird Ihrem Rasen gut tun, da es Ihnen mit der Sense doch so schwer von der Hand geht. Das ist natürlich kein Urteil, sondern nur eine Empfehlung. Körperverletzung könnte allerdings auch von Staats wegen verfolgt werden, wie gerade Sie wohl wissen.” Bogdan schaut zu Boden und nickt.

Die beiden Narren trollen sich. Wie gesagt: Es ist ein langer Tag gewesen, und der Richter schwitzt weiterhin, obwohl er endlich die Robe ablegen kann. Die Frage, was in Rumänien öfter versagt – Klimaanlagen, der Rechtsstaat oder der gesunde Menschenverstand – mag ihn weiter bewegen, muss hier jedoch unbeantwortet bleiben.

Unerwähnt wollen wir aber nicht lassen, was Wikipedia über Walachenschafe mitteilt und damit dokumentiert, dass anders als bei Hundehaltern Herr und Gescherr im Falle von Schafbesitzern einander nicht unbedingt gleichen müssen: Sie ziere „wacher Ausdruck“ und „edles Aussehen“.

Stinken tun sie trotzdem.



4. "Animals", Track Two: "Dogs"



Die Beweggründe der Rumänen für die unter ihnen weit verbreitete Hundehaltung erscheinen auf den ersten Blick unerklärlich. Tierliebe kann es nicht sein, denn sie behandeln ihre „Caini“ meist schlecht. Das Kettenhund-Dasein ist in ländlichen Gebieten Alltag. Eines überflüssig erscheinenden Köters entledigt man sich gerne mal hartherzig durch Aussetzen. Davon zeugen elende Streuner, die sich durch ihr erbärmliches Dasein schleppen, um Müllcontainer kreisen, mit eingeklemmtem Schwanz, stets auf der Hut vor einem Steinwurf oder Schlimmerem.

Den Allerhärtesten und Gewitztesten unter ihnen gelingt es, aus Schaden klug geworden, dem Autoverkehr auszuweichen (man kann Veteranen über Zebrastreifen hinken sehen), dem Hundefänger zu entgehen und sich sogar fortzupflanzen – was das Problem vergrößert. Es kommt zu regelrechten Bandenbildungen: Drei bis fünf ehemalige beste Freunde des Menschen, der sie verstieß, schließen sich zu kleinen Rudeln zusammen, in denen jeder seine Aufgabe hat, um das gemeinsame Überleben zu sichern.

Der kleine Stummelbeinige wird vorgeschickt – er passt durch viele Zaunlücken, baldowert die Lage aus, gräbt sich auch mal irgendwie durch. Er ist der Scout und findet immer was zu fressen. Die Größeren halten sich im Hintergrund, sind aber jederzeit bereit, ihm beizuspringen und die Beute zu verzehren.  

Manchmal zieht die ganze moribunde Bande gemeinsam an den Vorgärten vorbei, an jedem eingepferchten Hündchen („Cățeluș“), wie zum Spaß. Die Kettenhunde rasten dann wild bellend aus und steigen an den Zäunen auf, bis sie fast stranguliert werden. Die Vagabunden schert es nicht.

Verlumpt, verdreckt, verfilzt, verzeckt sind sie, das ist wohl wahr; der eine lahmt, dem Kameraden fehlt ein Auge. Das Rumänische kennt viele abschätzige Wörter für sie: „Javră“, „Dulău“, „Potaie“, „Corcitura“ – der Namensreichtum spricht für sich. Und dennoch: Die ausgehungerten Promenadenmischungen promenieren mager, aber in aufreizender Freiheit an den Zwingern vorbei, als ob sie die täglich Trockenfutter kauenden Haushunde verhöhnen wollten.

Ob die Freischärler wider Willen abends wohl einstimmen in den Chor, der sich nach Sonnenuntergang oft von Kette zu Kette fortpflanzt; in diesen kaninen Wechselgesang, den irgendwo ein Bello beginnt, der Nachbarhund aufnimmt, an die nächste Töle weiterreicht, bis schließlich, nach Minuten, das Lauffeuer mit einem letzten Köter-Krächzen erlischt – um erneut aufzuflammen, wenn der Bär vorbeistreicht, vielleicht sogar Wolfsgeheul aus dem Wald aufsteigt und zur verwandten Anwort zwingt?

Ach, wahrscheinlich sind sie zu erschöpft, die Abgerissenen ohne sicheren Unterschlupf; sind atemlos froh, irgendwo für diese eine Nacht geschützt in einem Busch zu liegen, weit weg von jeder Hundehütte, aus der ihre behausten Artgenossen gut Bellen haben, wieder und wieder.

Ein Hund, der anschlägt, tut seine Pflicht. Ganz bestimmt im ländlichen Rumänien, wo so allerhand ums Haus streichen kann. Wahrscheinlich ist dies, die angeborene Wächterfunktion, die Erklärung dafür, dass viele Einheimische sich Hunde zulegen, und zwar nicht als Knuddelkumpel, sondern als billige Alarmanlage. Leider sind viele hiesige Hundehalter – mit Ausnahme der Hirten, deren Schäferhunde schon auf ein Augenbrauenaufheben ihrer Meister akkurat folgen – nicht in der Lage, ihre Haustiere zu erziehen, sondern nur dazu, sie zu traumatisieren. Das Ergebnis sind neurotische Bellmaschinen, die auch ohne jeden Anlass hysterisieren.

Dies gibt auch im abgeschiedenen, überwiegend ruhigen Kleingroßdorf schon mal Anlass zu Köter-Killer-Fantasien.



Beim so genannten Sommer-Sachsen handelt es sich um eine Klima-Exzentrik, die völlig unabhängig von der globalen Erderwärmung nur in Siebenbürgen auftritt. Hier wuchs der Sommer-Sachse einst als Ganzjahres-Sachse auf, zog es dann aber vor, die Heimat zu verlassen, wofür er gute Gründe hatte – damals, als man im bitterkalten rumänischen Winter manchmal im knietiefen Schnee stundenlang für einen Liter Milch anstehen musste, womöglich erfolglos. Oder die Securitate im Morgengrauen schon den Onkel und die Tante abgeholt hatte und man sich fragen musste, ob man mittags wohl selbst dran wäre.

Seitdem Rumänien der EU angehört – bis auf den heutigen Tag weiß niemand genau, was das korruptionsverseuchte Land, das seine dunkle Vergangenheit nie glaubhaft aufgearbeitet hat, dafür jenseits geostrategischer Überlegungen qualifiziert haben mag –, kommt der Sommer-Sachse gern zurück – zeitweise.

Er tritt zusammen mit dem Frühling auf. Beginnt die Vegetationsperiode, beginnt er emsig, seinen Sommerverbleib – vielleicht neu gekauft oder gebaut, womöglich, wenn auch selten, nach Enteignung der Vorgeneration nur mit langem Kampf durch alle Instanzen an die Erben rückübertragen –, das Sommerhäuschen oder -haus also, aus dem Winterschlaf zu küssen; es zu schrubben, aufzuhübschen, den Garten zu bestellen, die alten Erinnerungen aufleben zu lassen.

Da fällt ihm auf: Es ist heute so wie früher – um ihn herum sind ja Rumänen, zu denen er sich selbst nie zählte, obwohl sein schon lange abgegebener alter Pass was anderes auswies. Früher ließ er sie zum Beispiel nach Hermannstadt nicht hinein, die Rumänen, noch nicht mal als Gesinde.

Nun ist Rumänien nur noch voller Rumänen, und damit muss der Sommer-Sachse umgehen. Nebenan.

Da wohnt seit Neuestem die Sippe Popescu, die haben sich gerade ein Haus gebaut, auf dem angrenzenden Grundstück. Das Stück Land hätte man selbst gern gekauft, nur um zu verhindern, dass so etwas passiert. Aber dafür reichte das Geld nicht, noch nicht mal bei den gutbestückten Sommer-Sachsen.

Nun sind die Popescus ihre Nachbarn. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden – nun ja, der Baulärm zog sich lange hin; zügig und verlässlich arbeitende Handwerker sind  in Rumänien schwer zu kriegen, das weiß man ja aus eigener Erfahrung. Sie verdienen lieber anderswo in der EU besseres Geld – Freizügigkeit halt.

Freizügig war auch die Einweihungsfeier der Popescus, sie zog sich, durchaus landesüblich, über drei Tage hin. Die Musica Populara dröhnte, an Schlaf war nicht zu denken. Aber da konnte man schon mal ein Auge zudrücken, wenn auch nicht zumachen.

Das Nachbarschaftsverhältnis blieb danach zunächst ungetrübt. Bis die Popescus sich einen Hund anschafften. Und dann offenbar noch einen.

„Die Popescus haben einen neuen Hund, glaube ich“, sagt die für die Sommerfrische zurückgekehrte Sächsin, während sie sich auf der rosenbekränzten Terrasse ordentlich mit Sonnenmilch einschmiert.

„Ach“, sagt ihr Mann, weit von Hermannstadt geboren, aber durch viele Aufenthalte in Siebenbürgen ordentlich angesächselt. „Ist der andere Endlos-Kläffer endlich tot? Wurde ja auch Zeit. Hat ihn vielleicht jemand vergiftet?“ Der Gatte liegt ermattet im zweiten Liegestuhl, er hat den ganzen Tag lang Unkraut im Garten bekämpft.

„Dreimal darfst du raten“, sagt sie und rollt jedes R, wie sie es immer tut, wenn sie in ihren angestammten Sprachraum zurückgekehrt ist. „Es gibt jetzt einen zweiten Hund nebenan.“

Der meldet sich auch gleich. Warum, weiß man nicht. Das war schon bei dem anderen Köter so. Niemand läuft an beiden Grundstücken vorbei, kein Hunde-Streuner zieht seine Runde; auch das Müllauto, der Erzfeind von Popescu-Bello Nummer eins, der zwei Mal pro Woche seine Seele auskeucht, wenn mal eine Tonne geleert wird, ist heute nicht dran.

Gebellt wird trotzdem, jetzt zweistimmig.

„Der Neue ist eher ein alter Bass, würde ich sagen. Während Nummer eins ja mehr so ein Kastraten-Fiepen absondert“, analysiert der Mann der Sächsin die Geräuschdarbietung und zupft sich Rest-Unkraut aus den Fingernägeln. „Wirkt Glyphosat auch bei Hunden? Man könnte ja eine Wurst damit beträufeln und durch eine Zaunmasche schieben. Oder eine Schrotflinte kaufen. Geht das hier eigentlich so einfach wie in West-Virginia?“

Beide Menschen schweigen dann. Beide Hunde nicht.

„Tja“, sagt der Mann der Sächsin, „ich geh dann mal untern Kopfhörer. Pink Floyd, ‚Animals‘, Track 2: ‚Dogs‘. Klingt besser. Großartiger Song übrigens, lange nicht gehört.“

Als er den Kopfhörer nach einer guten Viertelstunde wieder absetzt, hat seine Frau sich ins Haus geflüchtet und sich mit Ohropax verstöpselt. Nebenan ist Köter Nummer eins ganz außer sich: Frauchen und Herrchen sind nach dem Arbeitstag nach Hause zurückgekehrt und werden freudig begrüßt; die lautstarke Begeisterung will schier nicht enden.

Ei, das ist ein Winseln, Quietschen, Jaulen! Der Bass hingegen verhält sich ruhig. Wie sich später herausstellt, gibt er nur ein paar Tage lang ein Gastspiel als Besuchshund und hat wenig Anlass, seine Pflegeeltern so enthusiastisch willkommenzuheißen wie sein einheimischer Kollege.

Der wird wie üblich von den Nachbarn ignoriert, denen er weder ein gutes Wort noch eine Streicheleinheit wert ist. Die Enttäuschung darüber wird mit langanhaltenden Klagen quittiert, die sich fortsetzen, nachdem die Nachbarn schon längst im Haus verschwunden sind, in das ihr bester Freund ihnen natürlich nicht folgen darf.

Tatsächlich hat er nur ein kleines, handtuchbreites, stabil eingepferchtes Refugium im Garten zur Verfügung, das er sich nun auch noch mit dem fetten Bass teilen muss. Diese Internierungsmaßnahme wurde nötig, nachdem der junge, agile Hund den gesamten Popescu-Garten umgegraben und verwüstet hatte, aus schierem Bewegungsdrang, dem niemals jemand mit einem gemeinsamen Spaziergang oder Spielangeboten Abhilfe schafft.

Da Nummer eins zu Hause kein Bällchen stolz im Maul zum Werfer zurücktragen darf, auch nicht den allerkleinsten Ast apportieren kann, hat das schlaue Tier vor einiger Zeit eine Ausweichmöglichkeit gefunden, um sich Erleichterung zu verschaffen. Zum benachbarten Sommersachsen-Grundstück grub es sich während ihrer längeren Abwesenheit unter dem anfälligen Zaun durch.

Der Mann der Sommersächsin schaut gedankenverloren auf die Gartenschuhe auf der Terrasse, die deutliche Kauspuren aufweisen und kürzlich erst nach längerer Suche im Garten wieder ausgegraben werden konnten. Er seufzt.

Er mag Hunde eigentlich, sogar diesen vielleicht, wenn er nur besser geraten wäre. Er weiß: Mit mehr Aufmerksamkeit und Erziehung könnte aus dem kleinen Kerl was werden. Aber wie?

Eine Woche später deutet sich die Lösung an. Es ist merklich ruhiger geworden nebenan. Der unberechenbare Gast-Bass nervt jetzt wieder in seinem angestammten Heim die Nachbarn. Und vom Kastraten-Fieper ist so wenig zu hören, dass die Sächsin und ihr Mann sich schon fragen, ob er vielleicht eingeschläfert wurde, weil er seinen eigenen Haltern wohl auch mächtig auf die Nerven ging.

Doch weit gefehlt: Der kleine Kerl ist so fidel wie immer und jetzt wohl auch glücklicher. Ein anderer Nachbar, der einen alternden Hund besitzt, hat sich erbarmt. Der, so befand er, braucht ab und zu Gesellschaft, die ihn auf Trab hält. Also bot er den Popescus an, ihre kleine Nervtöle regelmäßig in das Auslaufgelände aufzunehmen, das er in seinem großzügigen Garten eingerichtet hat.

So hilft jetzt ein Hund dem anderen. Auf Menschen dürfen sie hier wenig zählen.



5. Selenes Sensen-Singen



Am International Airport Sibiu, also dem Flughafen von Hermannstadt, gibt es vier Flugsteige und (Stand Spätsommer 2025) knapp drei Dutzend internationale Destinationen. Vor der Sicherheitskontrolle wirbt ein Plakat des Fremdenverkehrsverbands mit einem gelungenen Foto der friedfertig erscheinenden siebenbürgischen Landschaft bei Ruhebedürftigen um innere Ein- und äußere Rückkehr: #soundofsilence.

„Hello darkness, my old friend, I’ve come to talk with you again…“ Im akustischen Dunkeln – sofern es so etwas geben kann – lässt das Poster, von dem hier die Rede ist, denn es ist nun mal kein Video mit Tonspur: Hinter den trefflich abgebildeten lieblichen Hügeln des bukolischen Siebenbürgens knattert, brummt und dröhnt es beständig, im Dienste der Landschaftspflege; mal mit Benzinmotor, durchaus auch elektrisch, aber trotzdem laut. Es darf, es muss geschnitten, gemäht und getrimmt werden, rasiermesserscharf, zu jeder Stund‘, an jedem Ort.

Die Rumänen sind ein fleißiges Volk. Sie lassen die wunderbare Idylle, die der Schöpfer ihnen zugeeignet hat, nicht unbestellt, dabei tagein, tagaus dem Auftrag des Herrn folgend: Macht euch die Erde untertan. Aus der fruchtbaren Scholle sprießt freilich auch allerhand, das der sorgsame Gärtner wie Bauer nicht gerne sieht und vertilgt sein will, damit es das Angesicht Gottes und der zur Pool-Party im Garten eingeladenen Gäste nicht beleidigt. Als da wären:

Quecke (ganz übel, sehr widerstandsfähig, kommt immer wieder, wie die Steuererklärung, ist deshalb abzulehnen); Wilde Möhre (ja, tatsächlich heißt die so, passen Sie beim Zubereiten des nächsten Möhreneintopfs auf, das Zeug mischt sich überall ein!); Wolfsmilch (nur im Alten Rom einst für die beiden legendären Stadtgründer notwendig); Hohlzahn (Dentisten horchen auf); Taubnessel (ein wunderbares Schimpfwort, das man sich aneignen sollte: „Sie Taubnessel, Sie!“). Ganz zu schweigen von der Wicke (vor allem der „Zotigen Wicke“, Vicia villosa; wie das schon klingt! So was will man gar nicht, es spielen schließlich Kinder im Garten), dem wiedergängigen Wegelagerer namens Wegerich (nomen est omen) oder gar dem Schierling: Als humanistisch gebildete Person weiß man ja, wie schnell der in einem Becher oder Kelch landen kann, den man womöglich nicht an sich vorübergehen lassen kann.

Diese Kräuter – alle! – sind, wo angetroffen, unverzüglich auszumerzen, abzumurksen, dem Erdboden gleich zu machen, mit Stumpf und Stiel auszurotten! Viel Ungemach und Unrast bereiten sie dem getreuen Gärtner, der ein Paradies auf Erden schaffen will. Gegen seinen Schöpfungsplan stemmen die Quälgeister sich gemein mit Wurzeln, die in den tiefsten Gründen der Hölle pferdefußen. Sie nisten sich in den Ritzen von Gehwegplatten ein (der Gutmensch nennt das „Fugenökotop“), versauen den Gesamteindruck, machen den Garten gar unbegehbar.

Schlimmer aber: Hartnäckig und völlig unversorgt gedeihen sie besser als jedwede gewünschte und sorgsam aufgepäppelte Pflanze. Sie entziehen ihr Nahrung, Wasser, Platz und Licht. Dass sie dann auch noch frech blühen, goutiert der Gärtner nicht. Er urteilt apodiktisch: „Das böse Grünzeuch, die Grüne Hölle, muss wech – schnellstens, bevor sich das aussät.“

Man darf das als Befehl verstehen. Ihm folgt jeder Schollenbesteller rund um die Welt. Aber normalerweise nicht rund um die Uhr. Für Siebenbürgen gilt jedoch: „Anders rinnt hier die Zeit.“ Kürzlich gab dies in Kleingroßdorf Anlass zu einem edlen Wettstreit im Mondenschein.

 

Es ist 23 Uhr, ein schöner Sommerabend, es wird gemäht. Bei Vollmond. Eine günstige Gelegenheit natürlich, warum sollte man die sich entgehen lassen – man braucht ja keine zusätzliche Beleuchtung.

Eigentlich passt das ins Gesamtbild, denn es wird sowieso den ganzen Tag lang gemäht – entweder in unserem Garten oder den anderen. Ist links einer fertig, fängt rechts einer an, auch weiter hinten oder vorn – man kann es in jeder Himmelsrichtung hören: Überall und ewig klingt das Lied der Motorsense, des Rasenmähers, der geländegängigen Kleintraktoren mit gigantischem Schneidwerk unter dem Hintern ihres Lenkers.

Seitdem ich mich mehr unserem siebenbürgischen Garten widme, als mir jemals vorstellbar erschien, vorwiegend dem Mähen, gehen mir Wörter wie „raspelkurz“ und „ratzekahl“ sehr flott und martialisch von der Zunge. Ich wünschte, ich könnte den darin enthaltenen Konsonanten „R“ so donnerrollend aussprechen wie meine Sommersächsin.

Die sagt: „“.

Ich verstehe sie nicht, denn ich habe heute nach dem täglichen Mähen, von dem ich erschöpft ausruhe, vergessen, das Ohropax zu entfernen. Meine Frau wiederholt sich erfolglos, schreit mir schließlich direkt in eines meiner nutzlosen Ohren:

„Nachbar Popescu hat einen neuen Mäher.“

„Das ist kein Grund, mich anzubrüllen.“

„Aber er stinkt entsetzlich nach Diesel.“

„Popescu?“

„Nein. Der Mäher. Ein Ungetüm. Wurde heute Abend geliefert. Sieht aus wie eine Kreuzung aus Mähdrescher und Panzerkreuzer. Offenbar hat Popescu beschlossen, ihn gleich auszuprobieren.“

„Das ist klug von ihm. Weißt du noch, wie wir neulich bei Amazon diese sündhaft teure Espressomaschine bestellt hatten und sich beim Auspacken herausstellte, dass ein Schnellkochtopf geliefert wurde?“

„Idiot!“

„Wer? Popescu?“

Die Sommersächsin wendet sich entnervt von mir ab. Ich pule mir in den Ohren und stoße auf eine klumpige, zähe Masse, die ich mit Mühe entferne. Das bereue ich sofort.

Auf dem Popescu-Grundstück finden offenbar gleichzeitig ein Luftlandemanöver und ein Rammstein-Konzert statt. Es herrscht kein schlichter Lärm, sondern Armageddon. Eine Endzeitmaschine zieht unbeirrbar Schneisen der Verwüstung und tut dies mit Geräuschen kund, die Ohrenzeugen in einer Live-Schalte des ARD-Brennpunkts vom Katastrophenort nur mit dem klassischen Satz kommentieren könnten: „Es war wie im Krieg.“

Und wie in jedem Krieg muss aufgerüstet und zum Gegenangriff übergegangen werden. Ich strecke den müden Rücken und gehe in den Maschinenraum des Sensenmanns. Im Geräteschuppen hinter unserem Haus mustere ich unsere eigenen Höllenmaschinen. Im Laufe der Jahre hat sich da so einiges angesammelt, für das man zwar keinen Führerschein braucht, die Nachbarn aber starke Nerven. Und einen guten Ohrenarzt.

Voller Vorfreude und Rachedurst streichelt mein Blick grimmige Scher- und Schneidwerke, tumultöse Trimmer, mörderische Motorsensen und das, was meine Sommersächsin ihren „Lady-Shave“ nennt, ein von ihr gut zu handhabendes Gerät, klein, aber oho, mit ordentlicher Geräuschentwicklung gesegnet.

Ich entscheide mich für meinen Lieblingsapparat, den ich insgeheim zärtlich den „Giant Hogweed Tamer“ getauft habe. Es handelt sich um eine geniale Ingenieursleistung mit Elektroantrieb. Sie ähnelt einem voluminösen, langstieligen Metalldetektor. Man kann sie mit einem Haltegurt auf der Schulter fixieren, um die Grüne Hölle in Halbkreisen zu bestreichen. Unter dem Halbteller ihrer Schutzabdeckung wütet je nach Zubehöreinsatz entweder ein achtschneidiges Rotiermesser oder eine Spule mit insgesamt 20 Metern tückischer Nylonschnur, die zu zwei Seiten herausdringt und in 30 Zentimetern Umkreis alles platt macht, was nicht niet- und nagelfest ist.

Während ich mit schweißnassen Fingern und beginnender Erregung wie üblich meinem Nylon-Fetisch nachgebe, denke ich kurz an einen Bekannten, der uns neulich mit dem Bekenntnis überraschte, solchen Segnungen der Technik abgeschworen zu haben, wegen ihres heftigen Mikroplastik-Eintrags in den Boden. Er benutzt jetzt eine klassische Sense. Deren Anwendung ist eine echte Kunst, vom regelmäßig nötigen Dengeln ganz zu schweigen. Hah! Was würde er jetzt tun, der Gutmensch mit seiner plastikfreien, völlig geräuschlosen Sense, da es nun gilt, einem Rivalen lautstark entgegenzuröhren?

In unserem Garten gibt es eigentlich immer was zu mähen. Ist man an einem Ende fertig, kann man am nächsten gleich wieder anfangen. Ich wähle ein Rasenstück möglichst nahe am Zaun zu Popescu, der Mond scheint da auch gerade günstig hin. Und schon geht es los!

Ich bedauere ein wenig, dass ich wegen des Elektroantriebs meines Spielzeugs den Dieselgestank nicht vergelten kann. Lautstärkemäßig bin ich Popescu aber ebenbürtig. Das glaube ich jedenfalls. So genau kann ich das nicht beurteilen, denn ich habe die Ohropaxklumpen auf dem Gartentisch liegengelassen und kann seit dem Anlassen meines Revanche-Rasierers eigentlich so gut wie überhaupt nichts mehr hören.

Doch eines bekomme ich mit: Der edle Wettstreit zwischen Popescu und mir fordert gegen 23:45 Uhr unseren zweiten Nachbarn heraus. Der lässt sich nicht lumpen und wirft seinen eigenen Mähmaschinenfundus an. Ich weiß, was er auf uns loslassen kann.

Kürzlich riet er mir dazu, mal einen Trumm auszuprobieren, den er sich bisweilen umschnallt, eine Art Motorrucksack mit Benzintank, um die Hüfte des Trägers windet sich ein Haltegestänge für die damit betriebene Doomsday-Sense. Kennen Sie das Film-Epos „Alien“? In einer der Folgen steigt die Heldin Ripley in einen Exoskelett-Roboter, um darin gegen das ewig wiederkehrende Monster from outer space zu kämpfen, wahrscheinlich lautet dessen Familienname „Quecke“. You get the picture, I guess.

Heia Safari! Nicht nur ist die gemeinsam heraufbeschworene Kakophonie jetzt unbeschreiblich, in ihrem schicksalhaften Getöse wohl nur von Wagner-Ouvertüren übertroffen – auch die geschändete Scholle vibriert nun grundstücksübergreifend, möglicherweise bereits ein Fall für Seismologen in ihren Erdbeben-Früherkennungswarten, selbst im knapp 300 Kilometer entfernten Bukarest.

Dann hat der Herr ein Einsehen. Der Vollmond verfinstert sich. Dunkle Wolken ziehen schnell auf und öffnen ihre Schleusen. Wir werden patschnass und bringen unsere kostbaren Gerätschaften in trockene Sicherheit. Ich würde sagen: Es war ein Unentschieden. Tomorrow is another day.

Leider sind der Sommer und die Vegetationsperiode ja viel zu kurz. Aber im Herbst kann man neues schweres Gerät in Stellung bringen, um den Holznachschub für den Kamin zu zerkleinern. Ich habe da schon was im Auge, durchaus auch im Ohr, aus „Manfred‘s Motorsägen-Sammlung“ im Internet; einen zweitaktigen Kraftprotz aus sowjetischer Produktion: die Kettensäge „Druschba“, einst im ganzen Ostblock weit verbreitet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Nachbarn beide noch eine im Keller haben. Ich werde mir auch ein Exemplar besorgen, die sind noch günstig erhältlich (wenn auch „für Bastler“).

Si vis pacem, para bellum. „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor.“ Lateinisches Sprichwort, vorwiegend auf den Autor Publius (oder Flavius) Vegetius Renatus zurückgeführt. 



6. From Pennsylvania to Transylvania – once in a lifetime



Kaum jemand in Transsilvanien – die Klofrau der öffentlichen Bedürfnisanstalt in Schäßburg (Sighisoara) ausgenommen, wo man sich am Eingang gegen Entrichtung von einigen wenigen Lei (rumänische Währung) neben einer Art Vogelscheuche fotografieren lassen kann, die den Fürst der Finsternis darstellen soll – wird besonders gern auf Dracula angesprochen. Dies geschieht dennoch natürlich ständig, wenn Touristen sich in die Karpatenregion jenseits der dunklen Wälder verirren.

Bram Stoker, so heißt es, wollte seinen Eins-a-Vampirroman ursprünglich in der Steiermark spielen lassen. Es kam anders und südöstlicher. Dann folgten viele B-Movies, die den Schauspieler Christopher Lee in der Rolle des adligen Blutsaugers unsterblich beziehungsweise untot machten (darunter 1972 das erstaunliche Werk „Dracula jagt Mini-Mädchen“) – und natürlich die „Rocky Horror Picture Show“ mit ihrem „Transvestite from transsexual Transylvania“. Auch sie hinterließ nachhaltigen Eindruck, vorwiegend im Westen.

Der Walachen-Fürst Vlad III., auch Vlad Tepes oder „Der Pfähler“ genannt, ist das historische Vorbild für Dracula. Dieser Sohn Vlads II., des Drachens (Dracul), – der hieß so, weil er Mitglied im Drachenorden Kaiser Sigismunds war –, wurde vielleicht 1476 geboren oder auch ein Jahr später. Eventuell geschah dies im siebenbürgischen Schäßburg.

Ganz gewiss war dieser Zuwachs der Vlad-Brut für viele Zeitgenossen kein Glücksfall, schon gar nicht für osmanische Abgesandte. Die ließ der Walachen-Herrscher Vlad Tepes von ihren Audienzen bei ihm gerne mal nur als Kopf im Korb an die Hohe Pforte des Topkapi-Palasts in Instanbul zurückkehren.

Die Siebenbürger Sachsen behaupten, die rumänischen Kommunisten hätten ihr sächsisches Schäßburg dem blutdürstigen Vlad später zu Unrecht und mit böser Absicht als Geburtsort zugeschrieben. Dort will eine Plakette an einem Haus in der historischen Oberstadt heute seinen mehrjährigen Aufenthalt verbürgen. Die an sich schöne Altstadt von Sighisoara birst vor Touristen und Dracula-Kitsch.

Nun haben die Sachsen es in Bezug auf den Vlad mit der Wahrheit aber selbst nie so genau genommen. Der walachische Herrscher behinderte mit seinem Zollregime ihren einträglichen Handel. Sie setzten deshalb allerlei schaurige Geschichten über ihn in die Welt.

Nicht, dass es deren wirklich bedurft hätte. Vlad, wiewohl ein selbsternannter Verteidiger des christlichen Glaubens gegen die Osmanen, an deren sultanischem Hof er als Geisel prägende Jahre verbrachte, war ohne Zweifel ein widerlicher Pfähler.

Einzelheiten seines Tuns werden in der einschlägigen Literatur genüsslich beschrieben; von der Kunst, einen Pfahl hinreichend zuzuspitzen und einzufetten, bis hin zu den geeigneten Körperöffnungen männlicher- und weiblicherseits, in die das grausame Holz sorgsam, noch in waagerechter Lage der Delinquenten, zu treiben war, damit es lebenswichtige Organe nicht sofort verletzte, bevor es neben dem Kopf, zu den Schultern, aus dem Leib drang und der Pfahl dann für langsames, qualvolles Sterben aufgerichtet werden konnte. Zu wahren Pfahl-Wäldern.

Puh. Ja, das ist schlimm. „Drac“ bedeutet im modernen Rumänisch „Teufel“, das half der Legendenbildung. Der Vlad soll der Kirche abgeschworen und Blut aus einem Kelch getrunken haben, nachdem ihn die Kunde vom Tod seiner geliebten Frau erreicht hatte. Diese hatte dem Leben angeblich mit einem tiefen Sturz aus einem Schlossfenster entsagt, weil sie durch eine gefälschte Botschaft annehmen musste, dass ihr vergötterter Gatte auf dem Schlachtfeld gefallen wäre.

 Vampirismus freilich kommt nur weit weg von Siebenbürgen bei einigen wenigen amerikanischen Fledermausarten vor. Allerdings litt die gesamte rumänische Nation vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter keineswegs erfundenen Blutsaugern.

Sie trugen viele unbekannte und bis heute noch auszugrabende und anzuklagende Namen, zwei prominente zweifelsfrei: Nicolae und Elena Ceaușescu – selbstherrliche Steinzeitkommunisten mit eingebildeter Ewigkeitsmacht, die nach einem Schauprozess zu Weihnachten 1989, während einer blutigen Erhebung, verdient, wenn auch nicht rechtsstaatlich, an die Wand gestellt wurden.

Diese Wand hätte nicht ausgereicht, um die Schatten aller unter ihrer jahrzehntelangen Gewaltherrschaft exekutierten Opfer hinter, neben, über und unter ihnen abzubilden. Es gibt rumänische Haushalte, in denen das Video vom verdienten Ende des Grusel-Pärchens heute noch gern gesehen wird.   

Dem frühen Vorgänger der Ceaușescus, dem Vlad, kann man vieles vorwerfen, die Unsitte des nocturnen Aderlasses trotz Bram Stoker hingegen wohl nicht. Kürzlich kam in Kleingroßdorf jedoch jemand an, der anderer Meinung war.



„Awesome. This is truly awesome, kind of like out of this world. So I really am in Transylvania here, right?“

Timothy hasste amerikanische Touristen. Wie sie sich kleideten, wie sie sprachen. Für den Engländer traf zu, was Mark Twain über das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten schrieb: „Two nations divided by a common language.“

Aber was sollte man machen? Business was low. Der Gast aus Littlefield, Pennsylvania, war zurzeit der einzige, den Timothy in seinem Bed and Breakfast beherbergte, in diesem alten Sachsenhaus im Dorfkern, das er mit viel Liebe und Arbeit hergerichtet hatte. Liebe hatte ihn auch hierher verschlagen. Seine Frau war Rumänin. Er Handwerker, ein geschickter und fleißiger.

Timothy hatte das schlummernde Potenzial von Kleingroßdorf erkannt, sich ans Werk gemacht, die noch vorhandene Bausubstanz des seit Langem verfallenden, ihm für geringes Geld zugefallenen Hauses bewahrt und aufgehübscht, mit Fremdenzimmern im alten Stil. Die Waschbecken waren in Porzellan gefasste Zinneimer ohne Boden. Ihr Abfluss mündete in eine Kanalisation, die mehr mit Gottvertrauen als mit westlichen Standards zu tun hatte.

Die Doppelbetten waren mit neuwertigen, durchgängigen Federkernmatratzen ausgestattet. Die Bettrahmen hingegen waren alt, sehr alt, stammten noch aus sächsischer Herrlichkeit, als man sich frühzeitig, gleich nach Sonnenuntergang, auf beiden Seiten der Matratzenritze zur Nacht einrichtete, einerseits vielleicht mit Schnurrbartbinde und christlichem Fortpflanzungswillen, andererseits mit Nachthaube und bangen, aber ergebenen Befürchtungen.

Man musste halt seine Pflicht tun, nicht wahr; jeder und jede, wo er und sie diese zu erfüllen hatte, auch wenn schon ziemlich viele hungrige Mäuler zu stopfen waren. Man konnte nur einmal in der Woche zum Speckturm der Kirchenburg gehen, wo die Notvorräte für den Fall feindlicher Angriffe verwahrt wurden, sich seine Ration von der für jede Hausnummer im Dorf sorgsam markierten Speckseite abschneiden lassen. Damit musste man wirtschaften.

Timothys wirtschaftliche Erwägungen beruhten darauf, wie schön die Gegend war, dass Internet-Travelsites Siebenbürgen immer häufiger als Geheimtipp auswarfen. Ja, es kamen die üblichen Rumänen, vor allem im Winter, die wollten dann hinauf zur Hohen Rinne und skifahren. Er hatte aber durchaus auch auf internationale Gäste gehofft. Jedoch nicht gerade auf diesen, der in Shorts und Sandalen vor ihm saß.

„So tell me“, sagte Timothys einziger derzeitiger Sommergast, „what is it with them Vampires? They still around?“

Timothy schloss kurz die Augen. „Well, you kow – they only come out at night.“

„Lots of them?“

Timothy ritt der Teufel, vielleicht der Drac. „Lots and lots. With full moon they just swarm around, we seek shelter in our basement then, covered under heaps of garlic.“

„Wow. I think we’re in for full moon, aren’t we?“

„Tomorrow“, sagte Timothy.

„Wow. Awesome“, bemühte der Amerikaner seinen übersichtlichen Wortschatz erneut. „You think I could get a glimpse of a bloodsucker? Maybe take a picture or two?“

„That depends.“

„On what?“

„The extra price you’re willing to pay.“ Mit düsterer Stimme fügte Timothy hinzu: „That ultimate price may be your life, of course. Endless darkness. For the time being, however, I would just charge you an extra 2.000 Lei (rund 400 Euro).“ Endlose Dunkelheit gab es in Kleingroßdorf freilich nur, wenn die Straßenbeleuchtung mal wieder ausfiel, so regelmäßig wie der gesamte elektrische Strom.

„Deal“, bestätigte der Transsilvanien-Besucher aus Littlefield, Pennsylvania. „So tomorrow we’ll do what?“

„We’ll take a walk to the Ort der Ruhe“, sagte Timothy mit Grabesstimme und den paar Brocken Deutsch, die er sich von den Siebenbürger Sachsen angeeignet hatte. „Up to the old German cemetery on the hill.“

Der alte deutsche Friedhof wies noch ein paar Grabsteine von Sachsen auf, die im Zweiten Weltkrieg während der östlichen Erweiterung des deutschen Machtbereichs in die SS gepresst worden waren, ihr teils aber auch begeistert beitraten und nahe der Heimat fielen. Wenige andere sterbliche Überreste aus dieser Zeit hatten es zurück in die Mutterscholle geschafft. Sie blieben nach dem Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reichs“ im Donez-Becken oder in Sibirien.

Wahrscheinlich hatte sich dort niemals jemand die Mühe gemacht, die Leichen der deportierten Sachsen – Männer wie auch Frauen im arbeitsfähigen Alter – ordentlich zur Ruhe zu betten oder auch nur zu zählen, nachdem sie den Entbehrungen der Zwangsarbeit unter sowjetischer Knute erlegen waren. Am Ort der Ruhe wurden ihre Grabsteine niemals errichtet.

Doch bewahrte dieser Ort auch das Andenken an jene, die nach der Hitlerei in Siebenbürgen ausgeharrt hatten, ihren Besitz verloren und schließlich auch ihr Leben. Dabei half der Geheimdienst Securitate der rumänischen kommunistischen Diktatur kräftig mit. Dann, als auch dieser Terror vorbei war, starben die Sachsen nur noch an Altersschwäche.

Es wuchsen vor Ort wenige aus ihren Familien nach, die sich noch persönlich um die Gräber kümmerten. Wer die Beine in die Hand nehmen konnte, hatte sich in großen Schüben abgesetzt, vorwiegend in die Bundesrepublik Deutschland, und die Gebeine der Vorfahren zurückgelassen. Aus der neuen Zuflucht überwies man dem verbliebenen deutschen Kirchensprengel Geld für die Grabpflege. In der Registratur der Friedhofsverwaltung arbeiteten jedoch nur noch wenige Sachsen. Den überwiegend rumänischen Mitarbeitern fiel es mitunter schwer, die Zuwendungen beim Sortieren der vergilbten Grabkarten den richtigen Ruhestätten mit all den fremd klingenden Namen aus einem anderen Jahrhundert zuzuordnen, all den Philippis, Roths und Schusters.

Das ging Timothy nichts an. Er war Engländer und Pragmatiker und hatte viele Freunde im Dorf, alle wie er selbst das, was man auf Rumänisch „Schmecher“ nennt, Schlitzohren. Einige davon waren Rumänen, andere hartgesotten überwinterte Sachsen. Beide Volksgruppen konnten schon immer Spaß daraus schlagen, tumben Fremden eins auszuwischen. Dies geschah nun.

Der Betreiber der örtlichen „Cabana Sasilor“, der „Sachsen-Hütte“, war ein alter Sachs. Er stand einem Motorradclub von eingefleischten Enduro-Fahrern vor, die gerne mit größtmöglichem Geräuschaufwand die Abhänge rund ums Dorf umpflügten. Außerdem war er DJ. Er verfügte nicht nur über eine ansehnliche, für empfindliche Ohren unerträgliche Sammlung von alten deutschen Schlagern, siebenbürgischer Blasmusik und rumänischer Musica Populara, sondern war auch stolzer Besitzer einer batteriebetriebenen Nebelmaschine.

Dieser Apparat wurde tagsüber gut verborgen am Ort der Ruhe in Stellung gebracht. Es würde natürlich noch ein Untoter aus einem Grab auferstehen müssen. Der sächsische Totengräber hatte zufällig gerade eine frische Grube ausgehoben, die dazugehörige Bestattung stand aber erst übermorgen an. Gegen ein Handgeld erklärte er sich bereit, sich kurz vor Mitternacht in das bereits geschaufelte Erdloch zu kauern, sich zum rechten Zeitpunkt aufzurichten, mit einem alten sächsischen, mottenzerfressenen Kirchenpelz angetan, den Timothy mal günstig auf einem Flohmarkt erstanden hatte, als Dekoration für die Garderobe in der Eingangsdiele seines Bed and Breakfasts.

Alles war gerichtet, die Vorbereitungen perfekt. Der Vollmond ging auf. Der Nebelwerfer warf Nebel. Es flatterten sogar ein paar Fledermäuse über das Friedhofsgelände; die waren nicht mit Timothy im Bunde, sondern tun dies dort im Allgemeinen tatsächlich jede Nacht.

Im dunklen Herzen Transsilvaniens legte Timothy seine Hand auf die Klinke des schmiedeeisernen Tors zum Ort der Ruhe, das schief in den Angeln hing, und bedeutete seinem Begleiter aus Littlefield, Pennsylvania, Stillschweigen, indem er seinen Zeigefinger verschwörerisch auf die Lippen legte. Das Tor quietschte vor Altersschwäche, der Tourist vor Vergnügen. „Wow. Awesome“, bemerkte er vorhersagbar.

„Hold on tight and enjoy your ride“, sagte Timothy und ergriff die Hand des Amerikaners. „And, for Mighty God’s sake, do wear this.“ Er bekränzte den Touristen mit einer Knoblauchkette, warf sich selbst auch eine um. „Are you a Christian, my dear Sir?“, fragte er.

„Reborn Evangelist“, sagte der Tourist atemlos, dennoch bestimmt. „Should we not have brought a cross, too?.“

In diesem Moment erhob sich der Totengräber aus seiner Grube und breitete die Arme aus. Er rief: „Mein geliebtes Weib, wo bist du? Ich werde dein Andenken ehren, seine Befleckung rächen und meine ewige Vergeltung über die Welt ausschütten!“

„What’s he saying?“, fragte der Tourist. „Doom“, erwiderte Timothy. „Eternal doom to all who disgrace my beloved wife’s honour. I’ll revenge her.“

„Awesome. He said that in Romanian?“

„No. In German.“

„Well, Dracula must be a Nazi, I gather. Makes sense with the whole blood an honor thing and all that. You think it’s safe to take a picture of me by his side?“

„I don’t know. For a generous tip – maybe. He mostly lives on blood stamps these days and cold use the extra money. The garlic should protect you, I assume, if only for a short while. But you may find out the picture won’t show much of him – his kind does reflect in mirrors.“

„No prob“, sagte der Amerikaner, „I don’t carry a reflex camera, just my smartphone. Would you mind?“ Er überreichte Timothy sein iPhone und zusätzliche 500 Lei.

Timothy hatte Mühe, den angebrachten Ernst zu bewahren. Der Totengräber auch, aber die 500 Lei waren ihm nicht entgangen, und für die legte er sich noch einmal extra ins Zeug. Er winkte dem Touristen aufmunternd zu.

„My God, he smells. He must be half rotten“, sagte der Amerikaner halblaut zu Timothy und stellte sich dann neben den Totengräber, der es mit dem Duschen noch nie genau genommen hatte. „The scent of the ages“, sagte Timothy mit der letzten Selbstbeherrschung, die ihm noch zur Verfügung stand, und drückte auf den Auslöser.

Nach dieser unvergesslichen Nacht musste der Tourist aus Littlefield, Pennsylvania, früh aufstehen – weil sein transkontinentaler Rückflug  bevorstand. Als er noch vor Sonnenaufgang das Fenster seines Fremdenzimmers öffnete, war es ihm, als ob etwas in der Dämmerung aufflöge, womöglich ein Fledermaus-Schwarm. Es waren aber nur Spatzen. „The real Transylvania“, dachte er dennoch.

Der Tourist checkte ein. Er flog los. Doch kurz nach dem Start im Morgengrauen vom internationalen Flughafen Hermannstadts (Sibiu) ging etwas schief. Im Steigflug verfing sich in den Turbinen des Flugzeugs ein Schwarm von irgendetwas Geflügeltem. Statistisch gesehen sind solche Unfälle extrem selten. Die Überlebenschancen der Passagiere auch.

Das letzte Foto vom wackeren Reisenden aus Littlefield, Pennsylvania, das er vor seinem gescheiterten Heimflug aus Rumänien in seine WhatsApp-Gruppe gestellt hatte, zeigt ihn selbst messerscharf neben einer verschwommenen Gestalt, deren Umrisse kaum erkennbar sind. Es scheint, als ob eine schwarze Schwinge einen Teil des Objektivs verdunkelt hätte. 



7. Nu avem curent - Wir haben keinen Strom



Kleingroßdorf, es wurde schon erwähnt, ist eine ursprünglich siebenbürgisch-sächsische Gemeinde. Sie stand historisch in ständigem Spannungsverhältnis zur nächstgrößeren sächsischen Siedlung, aus der die Geschicke des Dorfs inzwischen administrativ gelenkt werden.

Dort, beim ungeliebten alten Rivalen, laufen nicht nur die Verwaltungsstränge zusammen, sondern, wie wir noch sehen werden (oder auch nicht, denn mitunter liegen beide Orte ankündigungslos im Dunkeln), auch ganz andere Stränge, Stromleitungen nämlich. Denen fehlt es mitunter rein physikalisch an dem, was früher sozial und ökonomisch zwischen den konkurrierenden Nachbarsiedlungen im Übermaß vorhanden war: Spannung.

„Nu avem curent – Wir haben keinen Strom!“ ist in den WhatsApp-Gruppen, mit denen die Bewohner Kleingroßdorfs sich über Bärensichtungen, Nachbarschaftstreffen, Wohltätigskeitsbasare und Straßensperrungen auf dem Laufenden halten, ein ständig wiederkehrender Aufschrei.

Der Stromausfall ist hinzunehmen wie das Wetter. Manchmal, aber beileibe nicht immer, hat er sogar mit ihm zu tun. Zwischen Bergen und Hügeln rollen Gewitterlagen in den besiedelten Tälern wie die Kugel im Flipperkasten von Bumper zu Bumper, mal hier-, mal dorthin abgestoßen, scheinbar nie abziehen wollend, immer wiederdröhnend und -blitzend.

Hei, da irrlichtern schon mal LED-Leuchten, die nie eingeschaltet wurden; erwacht der schlummernde Computer zu kurzem, spektakulärem Leben, um dann für immer den Geist aufzugeben; macht sich der eine oder andere Herd mit glühenden Induktiv-Kochfeldern wie von Geisterhand selbstständig – gut, wenn man dann zu Hause ist.

Dort, im eigenen Heim, begegnet dem gemäßigt Kundigen, der sich im Physikunterricht einst knapp an einer Fünf oder Sechs vorbeischummeln konnte, auch ganz ohne Extremwetterlage immer wieder ein Phänomen, das er, schukostecker- und sicherungskastenverwöhnt, wie er ist, noch nicht kannte: Der Strom kann nicht nur ganz, sondern auch teilweise ausfallen, gleichzeitig sogar überhand nehmen, je nach Stromkreislauf und Phase im Haus.

Wiederkehrende Spannungsschwankungen lösen wiederkehrende Stimmungsschwankungen aus. Die einen sind ein Fall für den Elektriker, falls man einen findet, die anderen für den Seelenklempner, von denen gute auch nicht leicht aufzutreiben sind. Die schlechten scheidet man in beiden Fällen zuverlässig  von den guten, sobald sie sagen: „Nehmen Sie es nicht so ernst, das ist nur eine Phase.“

In Kleingroßdorf fragt man sich des Öfteren: „Was ist hier eigentlich Phase?“ Die Antwort darauf ist wie sämtliche Baumärkte der Gegend in der Großen Stadt zu finden.


 

Die Bürgermeisterin der Großen Stadt hat eine, wie ihr scheint, zündende Idee. Dr. Carl Wolff, ein ungefähr so bedeutender siebenbürgischer Sachse wie sie selbst, die langjährige Amtsinhaberin, wurde vor 175 Jahren geboren. Das muss angemessen gewürdigt werden.

Über die Große Stadt, ihre Bürgermeisterin sowie über Dr. Carl Wolff ist in dieser Reihenfolge zunächst Folgendes zu berichten, bevor die zündende Idee einen Kurzschluss auslöst:  

Die Große Stadt ist zwei bis drei kräftige Katzensprünge von Kleingroßdorf entfernt, etwas weiter weg als die unmittelbare Nachbarsiedlung – bis zu deren Ortsschild könnte man eine tote Katze notfalls auch werfen. Zur Großen Stadt müsste man den Kadaver schon mit dem Auto fahren, um ihn dort zu entsorgen.

Sie ist so groß, die Große Stadt, wie es hier in der Gegend halt geht: 170.000 Einwohner und rapide wachsend. Sie überstrahlt Kleingroßdorf und seinen Nachbarort in jeder Hinsicht, hat auch viel mehr Lidl-Märkte, eigentlich an jeder Ecke; sogar Malls, Einkaufszentren mit E-Auto-Ladestationen, die tragen ein Tesla-Logo. Strom gibt es in der Großen Stadt im Überfluss.

Die Große Stadt hat wie unser liebenswürdiges Kleingroßdorf eine siebenbürgisch-sächsische Gründungsgeschichte. In ihrem Rathaus ist eine Sächsin sogar tonangebend. Als Bürgermeisterin führt sie eine Nach-Ceaușescu-Tradition fort, die ihren gleichfalls sächsischen Vorgänger letztlich ins höchste Staatsamt katapultierte, vom Rathaus der Großen Stadt ins Bukarester Schloss Cotroceni, den Amtssitz des rumänischen Staatspräsidenten.

In der Einwohnerschaft der Großen Stadt kommen Sachsen heute noch so häufig vor wie Nadeln im Heuhaufen. Dennoch bestimmen ihre Kopfstücke, von der rumänischen Mehrheitsbevölkerung in Wahlen immer wieder bestätigt, nunmehr seit mehr als zwei Jahrzehnten, was in der Stadt und rundum Phase ist.

Die Bürgermeisterin hält ein Faksimile in den Händen. Es ist ein Anteilsschein der „Elektrizitäts Aktiengesellschaft“ der Großen Stadt, Serie D, Nr. 116, Nennwert 5.000 Lei, mitgezeichnet von Dr. Carl Wolff, ausgegeben am 3. Februar 1927, gut zwei Jahre vor seinem Tod. Zum Zeitpunkt seiner Unterschrift war Dr. Carl Wolff  schon fast 80 Jahre alt.

„Die Übertragung dieser Aktie kann nur mit Zustimmung des Direktionsrates erfolgen“, heißt es auf dem Dokument. Die Bürgermeisterin lächelt. Das waren noch Zeiten!

Wolff bestimmte sie wesentlich mit. Der Publizist, Politiker, Ökonom und Bankdirektor erkannte kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, dass Elektrizität die Zukunft war. Auf sein Betreiben entstand in einem Tal nahe der Großen Stadt eines der ersten Wasserkraftwerke Europas. Es ging 1896 in Betrieb und versorgte die Große Stadt sowie ihre Satelliten mit Strom – darunter Kleingroßdorf. Eine elektrische Straßenbahn für die Große Stadt fiel etwas später auch ab.

„Kolossal“, denkt die Bürgermeisterin und lässt das Blatt sinken. Sie stöbert in ihrem Posteingang. War da nicht zusammen mit dem Faksimile etwas von der „Carl Wolff Gesellschaft“ aufgeschlagen, dem lokalen Wirtschaftsclub? Ach ja, richtig! Man sollte eine Straße nach Dr. Carl Wolff benennen, hieß es in der Eingabe. Warum nicht, denkt sich die Bürgermeisterin. „Ein großer Sachs war er ja!“

Knapp 20 Kilometer von der Amtsstube der Bürgermeisterin entfernt, in Kleingroßdorf, sagt ein junger Sachs, ein Handwerker mit ortsunüblichem Sorgfaltswillen, zum Kurzschluss im Deckenlicht: „Das liegt nicht an der Lampe, denke ich.“

Er legt die Verkabelung des Schalters bloß. „Sieht ziemlich rumänisch aus“, kommentiert er die Arbeit seiner Vorgänger. Herangezogene Schaltpläne der Urheber des Desasters ergeben keine weiteren Aufschluss. „Die stimmen alle nicht. Ich lege das jetzt erstmal tot, bevor ich mehr Zeit habe, alles nachzuprüfen.“ Der junge Sachs wird wiederkommen, das ist versprochen. Man dürfte sich darauf verlassen können.

Lampe aus, Spotlight an: Die Bürgermeisterin hat eine Pressekonferenz einberufen. Dr. Carl Wolff bekommt eine Straße! Noch heißt sie Strada Spartacus. Wie allgemein bekannt, steht der Name Spartacus für nur schwer zu bändigenden Aufruhr.

So kommt es, denn die Bürgermeisterin hat vergessen, die Anwohner der Straße nach ihrer Meinung zur Umbenennung zu befragen. Sie sind vierkant dagegen. Schließlich müssten sie ihre Personaldokumente auf die neue Anschrift umtragen lassen, auch sämtliche Versorgungsverträge für ihren Wohnsitz, darunter, natürlich, den Stromanschluss.

Die Bürgermeisterin knickt ein, Spartacus siegt. „Dr. Carl Wolff wartet ab“, titelt die Lokalredaktion der „Allgemeinen Deutschen Zeitung“ zum gescheiterten Umbenennungsprojekt.

Wie wahr. Der Mann hat viel Zeit, eine Ewigkeit. Und die von ihm 1901 angeschafften Generatoren für das Elektrizitätswerk nahe Kleingroßdorf wurden ja erst 1925/26 auf Dreiphasenstrom modernisiert. Sie sind immer noch am Netz. Das erklärt vieles. Wer schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts getreulich seinen Dienst tut, darf sich ab und zu mal eine Schwächephase gönnen.

Morgen kommt der Elektriker. Ob das was hilft, weiß man nicht. Aber es ist eine schöne Geste.



8. Die Brücke



Die Kleingroßdorfer sind auf die nächstgelegene frühere sächsische Siedlung nicht gut zu sprechen, und das seit langer, langer Zeit. Schon vor einem halben Jahrtausend stritten sich die Nachbarorte erbittert um die Grenzziehung zwischen beiden Gemeinden, vor allem aber über den Besitz der Kirchenburg, die auf einem Kegelberg über Kleingroßdorf thront. Man überzog einander nicht nur mit Prozessen, sondern wurde auch direkt handgreiflich. Das wirkt nach, immer noch.

Den Streit um Bedeutung und Verwaltungsmacht haben die Kleingroßdorfer längst gegen die inzwischen zahlenmäßig weit überlegenen Nachbarn verloren. Heute müssen sie die Schmach erdulden, von ihnen mitverwaltet zu werden, und fühlen sich ständig benachteiligt.

Über die Bürgermeister des Nachbarorts hört man in Kleingroßdorf denn auch kaum ein gutes Wort. Eine Brücke des Vertrauens zu ihrer Regierfähigkeit wurde nie geschlagen. Vielmehr gefallen die Kleingroßdorfer sich darin, sie als Stadtoberhäupter von Schilda darzustellen.

Traditionell sind diesbezüglich viele unrühmliche Geschichten in Umlauf. Meist handelt es sich um Mischungen aus Wahrheit und Dichtung (in dieser Reihenfolge), über die man sich die Mäuler zerreißt. Kürzlich kursierten in Kleingroßdorf verschiedene Versionen über eine neue und kostspielige Fehlleistung gleich nebenan. Selbst vor Ort direkt Betroffene wussten nicht genau, welcher Darstellung sie glauben sollten, denn der inkriminierte Schildbürgerstreich fiel mitten in den Wahlkampf. Unübersehbar aber war eines: Mit dem Brückenbauen haben sie es „da drüben“ nicht so.


 

Guten Morgen, Doamna, entschuldigen Sie die Störung. Haben Sie schon die Petition gegen die Rampe unterschrieben?“

„Rampe? Was für eine Rampe?“

Die alte Sächsin ist misstrauisch. Normalerweise öffnet sie Fremden nicht die Tür. Die junge Rumänin aber, die an ihrer Tür geklingelt hat, kommt ihr vage bekannt vor.

„Ja, haben Sie es denn nicht gehört? Die Rampe für die neue Brücke über den Wolfsbach!“

Von der neuen Brücke hat die Sächsin schon gehört, nur zu oft. Seit Monaten wird einen Steinwurf von ihrem Haus entfernt gebohrt, gerammt, gemeißelt und gebaggert. Erst wurde die alte Brücke über den Bach geräuschvoll abgerissen, dann rückten lärmende Bauarbeiter an, um eine neue zu bauen. Als es allzu schlimm wurde, quartierte sie sich ein paar Tage bei ihrer Schwester im Nachbarort Kleingroßdorf ein – welch himmlische Ruhe unter der Kirchenburg! Aber ewig konnte sie dort natürlich nicht bleiben.

Daheim: Staub und Dreck überall – jeden Tag! Die alte Sächsin macht kein Fenster mehr auf. Seit ein paar Tagen aber ist Ruhe, obwohl die Straße vor ihrem Haus immer noch aufgerissen ist; niemand scheint sich aufgerufen zu fühlen, sie neu zu asphaltieren – wie das erst wieder stinken wird! Aber Hauptsache, die Bauarbeiten sind dann ausgestanden. Und die alte Brücke war wirklich in einem verheerenden Zustand gewesen.

„Was für eine Rampe?“, wiederholt die Alte und öffnet die Tür ein Stückchen weiter.

Die junge Frau – wo hat sie das Gesicht nur schon mal gesehen? – schiebt ihren Fuß in den Türspalt und stellt sich mit einem rumänischen Namen, der der Sächsin nichts sagt, als „besorgte Mitbürgerin“ vor. „Darf ich nähertreten?“ Die alleinstehende Hausherrin nickt zögernd. Die Besucherin folgt ihr in die gute Stube. Kaum hat sie auf dem Sofa Platz genommen, zieht sie einen Bauplan aus der Aktentasche und entfaltet ihn auf dem Couchtisch.

„Sehen Sie, Doamna“, sagt sie und tippt mit einem wohlmanikürten Zeigefinger auf das Dokument. „Das ist Ihre Straße, hier Ihr Haus. Ein paar Meter weiter“ – der Finger rutscht ein Stück nach vorn – „führt die neue Brücke über den Bach.“

Die Alte, die neben dem Tisch stehengeblieben ist, nickt und nestelt an ihrer Küchenschürze. „Wo die alte war, natürlich. Ich bin sehr froh, dass der Krach endlich vorbei ist. Nun werden sie die neue Brücke doch bald in Betrieb nehmen, nicht wahr?“

Die Besucherin schaut zu ihr auf und schlägt mit der flachen Hand auf den Plan. Die Sächsin schreckt zusammen und bereut schon, eine Wildfremde in ihr Haus eingelassen zu haben. Denn die junge Rumänin rollt nun zornig mit den Augen und sagt mit lauter Stimme: „Eben nicht! Nichts können sie in Betrieb nehmen! Denn sie haben…“ – die Besucherin hebt beide Hände und schaut ihre Gastgeberin anklagend an – „…die Brücke zu hoch gebaut! Können Sie sich das vorstellen?“

Die Sächsin kann sich allerhand vorstellen, denn sie wohnt schon geraume Zeit in dieser Straße. Die wird ständig aufgerissen und wieder zugeschüttet, danach manchmal sogar asphaltiert. Mal muss die Kanalisation erneuert werden, dann wieder die Zuleitungen für die Straßenbeleuchtung. Nie geschieht dies alles gleichzeitig; die Bauarbeiter wollen ja das ganze Jahr lang Brot und Arbeit haben und ihre Familien ernähren können, so denkt sie sich das zumindest.

Ja, die alte Sächsin hat schon so einiges erlebt, aber was die Besucherin ihr nun enthüllt, verschlägt ihr doch die Sprache. „Sie haben“, sagt die Rumänin nahezu genüsslich und betont dabei jedes zweite Wort, „die Brücke zu hoch gebaut. Weit über Straßenniveau.“ Die Rumänin fasst die Sächsin ernst ins Auge. „Und deshalb, Doamna, wollen sie nun auf jeder Seite der Brücke eine 25 Meter lange Rampe bauen. Denn Autos fahren nicht über Stufen.“

Die alte Sächsin wirft einen erschreckten zweiten Blick auf den Plan. „Das heißt…“ „Genau“, vervollständigt die junge Rumänin den abgebrochenen Satz. „Das heißt, dass Sie sich in Zukunft an der Rampe den Kopf stoßen können, wenn Sie aus dem Haus treten.“

Nun muss die Sächsin sich doch setzen. „Ja aber, aber das kann man doch nicht zulassen!“

„Genau. Deshalb die Petition.“ Die Besucherin faltet den Bauplan zusammen und entnimmt ihrer Aktentasche eine Kladde mit einer Unterschriftenliste und ein Faltblatt. „Wenn Sie hier unterschreiben, helfen Sie mit, den Fehlplanungen unseres unfähigen Bürgermeisters ein Ende zu setzen. Er muss genauso beseitigt werden wie die Brücke. Sie wissen doch, dass in drei Wochen Gemeinderatswahlen sind?“

„Jaja, aber – beseitigen? Sie meinen, die neue Brücke muss wieder abgerissen werden?“

„Selbstverständlich. Abgerissen und neu gebaut, diesmal richtig. Darum werde ich mich als erstes kümmern, wenn Sie mir Ihre Stimme geben.“

Die Besucherin zückt mit der einen Hand einen Kugelschreiber und hält der alten Frau mit der anderen das Faltblatt entgegen. Jetzt weiß die Sächsin, woher ihr das Gesicht mit dem sorgfältigen Makeup und der perfekten Frisur bekannt ist – von einem Wahlplakat!

„Also“, druckst sie herum und nimmt weder Stift noch Flugblatt an, „Ihre Partei wähle ich sonst nicht.“

Die Besucherin steht abrupt auf und packt ihre Sachen zusammen. „Dann müssen Sie sich vom Bürgermeister weiter vor den Kopf stoßen lassen. La revedere, auf Wiedersehen!“

Als die Kandidatin abgerauscht ist und schon an der nächsten Tür klingelt, öffnet die Sächsin ein Fenster und schaut lange auf die ihr so vertraute Straße.

Nur ein paar Ecken weiter gibt der Bürgermeister zur gleichen Zeit eine Pressekonferenz zu einem „Ausführungsfehler“ beim Brückenprojekt. Er spricht davon, dass man sich vom bislang federführenden Bauunternehmen getrennt und nun doch einen „seriösen“ Partner gefunden habe. Der werde keine perfekte Lösung finden können, aber eine gute, in Anbetracht der Umstände sogar die optimale. Nun müsse für die Bauarbeiten nur das Wetter noch mitspielen, damit zügig zwei Rampen mit „reduzierter Neigung“ entstehen könnten.

Es ist Oktober, und er war bisher recht kalt. Auf den Fagarascher Bergen liegt schon seit Längerem Schnee. Die alte Sächsin fröstelt. Sie schließt das Fenster.


9. Romeo und Iulia


Der siebenbürgische Sachs blieb früher gerne unter seinesgleichen. Darunter litt sein Genpool. Es setzte sich im deutschsprachigen Siebenbürgen einst nur zäh die Erkenntnis durch, dass man sich zum Zwecke der Vermehrung tunlichst außerhalb eines Radius von 60 Kilometern rund ums Heimatdorf nach einem Partner oder einer Partnerin umschauen sollte – es sei denn, man betrachtete Kinder mit sechs Fingern als willkommene zusätzliche Hand, die umso ordentlicher zupacken konnte.

Selbst Eingeheiratete von der anderen, genauso sächsischen, aber eben „falschen“ Straßenseite im selben Dorf sollen, so hört man es heute noch, einst nur brummend in den Kreis der Familie aufgenommen worden sein. So klein und überschaubar war die Welt damals. Wahlspruch war: „Mer wealle bleïwe, wåt mer sen!“

Sie waren Siedler jenseits der Wälder, wahrhafte, wehrhafte Hinterwäldler. Zu erklären ist hier ansonsten vorläufig nur, dass „Sachse“ einst ein Sammelbegriff für Wagemutige war, die das damalige mächtige ungarische Königreich im frühen Mittelalter aus dem Westen anwarb, um das karpatische Land hinter den Wäldern zu kolonisieren und zu verteidigen.

Im moselfränkischen Raum, anderen inzwischen als deutsch zu bezeichnenden Gebieten, dem heutigen Luxemburg, Flandern, den nördlichen Niederlanden erlagen Unerschrockene dieser Versuchung, die unter dem anzuerkennenden Wohlwollen des ungarischen Königs keine übrige Aldelsherrschaft kannte, mit etlichen Privilegien lockte (unter anderem: freie Richter- und Pfarrerwahl, Gerichtsbarkeit nach eigenem Gewohnheitsrecht, Zollfreiheit, freie Märkte). Aus dem heutigen Leipzig, Chemnitz, Dresden, Zwickau, auch nicht aus Hoyerswerda, kamen jene frühen Siedler ganz überwiegend nicht.

Zur weiteren Herkunftsherleitung der siebenbürgischen Sachsen verlässt der unbedarfte preußische Chronist sich hier sicherheitshalber weiterhin auf die Sebstdarstellung des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, der müsste es ja am besten wissen, nicht wahr:

„Die Niederlassung der Siebenbürger Sachsen, der ältesten deutschen Siedler auf dem Territorium des heutigen Rumänien (sic), im ‚Lande jenseits der Wälder‘ (terra ultrasilvana), erfolgte im 12. Jahrhundert im Zuge der deutschen Ostkolonisation. Die ersten ‚deutschen Gäste‘, die in der Hermannstädter Provinz angesiedelt wurden, folgten dem Ruf des ungarischen Königs Geysa II (1141 - 1161) zum Schutz der Grenzen gegen Mongolen- und Tatareneinfälle und zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes.“ 

Lassen wir mal beiseite, was „deutsch“ oder „sächsisch“ damals wirklich bedeutet haben mag. In der einschlägigen Literatur findet sich der Hinweis darauf, dass als „Sachse“ einst jeder galt, der sich mit Bergbau auskannte. Jener gelangte in Sachsen tatsächlich zu früher Blüte. Und edle Erze, das damals wichtige Salz sowie Metalle waren in Siebenbürgen gleichfalls zu bergen; das wussten schon die alten Römer, als sie die auf diesen Schätzen sitzenden Daker unterwarfen, jene Namensgeber für die rumänische Automarke Dacia. Unter den frühen Kolonisten in Siebenbürgen befanden sich jedenfalls neben Bauern und Handwerkern tatsächlich auch Bergleute.

„Schutz“ ist hier jedoch das wesentliche Stichwort. Die Zeiten und Sitten waren rau, die Bedrohungen vielfältig. Die „Sachsen“, wo immer sie auch hergekommen sein mochten, waren eindeutig Wehrsiedler. Daher das reiche und beeindruckende architektonische Erbe der sächsischen Kirchenburgen – ausgeklügelter Festungsanlagen, in die die Dorfgemeinschaft sich zurückziehen konnte, wenn sich mal wieder ein Einfall der periodisch marodierenden fremden Horden ankündigte.

Von der – hoffentlich – sicheren Feste gingen dann gewollte Feuer- und Rauchbotschaften weit ins Land. Im besten Fall breiteten sie sich schneller aus als die ruchlosen Invasoren. Im schlechtesten ging hingegen die Kirchenburg selbst in Feuer und Rauch auf, weil die Belagerer Stroh, Holz oder was sonst immer brennbar war, aufschichteten, anzündeten, die Eingeschlossenen ausräucherten.

Zur Sicherung des  gemeinsamen Überlebens in Friedens- wie Kriegszeiten herrschte in den sächischen Dörfern ein rigides Regime, dem man sich zum Nutzen Aller tunlichst zu unterwerfen hatte, vom rechtzeitigen Bestellen des Ackers in untereinander abzustimmender Dreifelderwirtschaft bis hin zum Arbeitseinsatz beim Bau neuer Häuser, dem eigenen Scherflein zum Überlebensproviant in der Kirchenburg und natürlich dem regelmäßigen Kirchgang.

Dies alles wurde vorgeschrieben, festgehalten, nachvollzogen, mit Sanktionen belegt, falls jemand nicht spurte, stiekum eine Speckseite beiseiteschaffte, bei einem Begräbnis nicht half. Soziale Kontrolle war überlebensnotwendig. Sie garantierte Zusammenhalt und Nachbarschaftshilfe. Im Zeichen des Kreuzes, zu Füßen der Kirchenburg.

Nun ist es ja nicht so, dass Siebenbürgen, das geografische Herz des heutigen Rumäniens, nur von Sachsen urbar gemacht, entwickelt und verteidigt worden wäre. Viele Völkerschaften hatten daran Anteil. Die Magyaren, die Ungarisch sprechenden Szekler. Die Landler auch, einst als unerwünschte Protestanten aus dem habsburgisch-katholischen Österreich nach Südosten abgeschoben. Dann die Zipser und wie sie noch alle hießen und heißen – man verliert da schnell den Überblick.

Jenseits Siebenbürgens wurde nördlich, südlich, westlich und östlich von diesem Landstrich innerhalb der heutigen rumänischen Grenzen fleißig geschafft, oft gedarbt und erduldet. Und vor allem lebten und arbeiteten im heutigen Rumänien natürlich immer Rumänen, selbstverständlich auch in Siebenbürgen, und zwar nicht zu knapp – auch wenn sie dort manchmal knappgehalten wurden. Im sächsischen Hermannstadt wurden sie zum Beispiel eine Zeitlang nicht geduldet, nicht mal als Gesinde.

Das rumänische Nationalbewusstsein entwickelte sich spät, aber umso heftiger. Die „nationale Erweckung“ Rumäniens seit dem 19. Jahrhundert mit all ihren nachwirkenden, auch territorialen Ansprüchen entzieht sich dem gesicherten Urteilsvermögen des Autors. Tatsache ist: Etwa 90 Prozent der Bevölkerung Rumäniens sind Rumänen. Das sollte nicht überraschen. Von den verbleibenden zehn Prozent machen die heute noch innerhalb der blau-gelb-rot markierten Grenzen der Republik Rumänien ansässigen Sachsen nach sowjetischer Deportation und Exodus in die Bundesrepublik Deutschland eine venachlässigbare Minderheit aus.

Sie werden in diesem Blog aus einer Nischenwahrnehmung heraus überproportional gewürdigt. Dem deshalb nicht ganz unvoreingenommenen Verfasser fiel das Thema „Mischehe“ auf: Ein Sachse freit eine Rumänin oder andersherum. Von den heute üblichen anderen Kombinationen, Spielarten und freigewählten sexuellen Orientierungen oder Geschlechtern soll hier nicht die Rede sein. Die sächsische Flagge zeigt sieben Türme und nur die Farben Rot und Blau, keine Regenbogenstreifen.

Siebenbürgen war kein „Melting pot“. Verschiedene Nationalitäten – Rumänen, Deutsche (nicht nur Sachsen), Ungarn (oder Szekler) – lebten schiedlich-friedlich nebeneinander, schlugen sich gegenseitig immerhin (mit einigen allerdings dann äußerst blutigen Ausnahmen) überwiegend nicht die Köpfe ein. Durchdrungen haben ihre Kulturen einander natürlich, sprachlich sowieso. Der Sachse nennt seinen Vater „Tata“, der Rumäne eine reifere Dame „Tanti“. Direkt gewünscht war das alles nicht, es hat sich halt so ergeben – Menschen sind Menschen. Von „Multikulti“ war aber eigentlich nie ausdrücklich die Rede.

Schon gar nicht beim Heiraten. Viele Romeo- und Julia-Dramen dürften in Siebenbürgen ungeschrieben geblieben sein. Wie die Liebe in Kleingroßdorf and beyond triumphierte, soll hier jedoch einen Ehrenplatz finden.


 

Ion Iliescu lächelt, immer noch. Der erste nach der Wende demokratisch gewählte Präsident Rumäniens, der für sein breites Grinsen bekannt war, ist zwar seit August 2025 tot, hier und dort im Land wird man aber dennoch an ihn erinnert. Auf den Straßen Rumäniens sind noch ein paar Exemplare des alten Dacia 1310 unterwegs, den die Einheimischen „Iliescus Lächeln“ tauften.

Eines dieser letzten Modelle aus rumänischer Produktion, aber mit heftigem Renault-Anteil, ist häufig auf einer Anhöhe halberwege zwischen dem ursprünglich deutschen Kleingroßdorf und dem schon immer rein rumänischen Nachbardorf Sus de Jos abgestellt. Seine beiden Insassen haben dann viel Grund zum Lächeln, während sie sich beim Liebesspiel auf der Rückbank des Oldtimers vergnügen.

Einen schönen Platz haben sie sich dafür ausgesucht, nicht weit von ihren beiden Heimatdörfern entfernt, dennoch abgeschieden, mit gutem Blick auf beide Orte – den die Liebenden sich aus naheliegenden Gründen selten gönnen. Nur sehr wenige versprengte Wanderer ziehen bisweilen vorbei, genießen die Aussicht – und  beschleunigen dann ihren Schritt, wenn sie mitbekommen, welcher Art Belastungstest die Stoßdämpfer des alten Gefährts am Wegesrand gerade unterworfen werden. Ansonsten tummelt sich da oben höchstens eine Schafherde, und der Cioban (Schäfer) wie seine sonst so wachsamen Hunde haben sich daran gewöhnt, um den immer wieder auftauchenden alten Dacia einen diskreten Bogen zu machen.

Meist steht das Auto auf einer Wiese nicht weit entfernt von einer Troita, einem kleinen Kapellchen, das die Wegkreuzung dort ziert, wo es zu beiden Dörfern jeweils wieder hinabgeht oder weiter in die Berge hinein. Seit Neuestem steht dort auch ein Wegweiser, der einen touristischen Rundweg ausweist – ein Anzeichen dafür, dass Schäferstündchen bald vielleicht immer öfter gestört werden, für den Cioban wie das Liebespaar, das ein heimliches ist.

Romeo ist die Heimlichtuerei sowieso leid. Er heißt gar nicht so, sein Name ist Stefan. Aber Iulia nennt ihn immer nur „meinen Romeo“. Stefans Familie wurzelt tief in Kleingroßdorf, seit Generationen. Sein Großvater erlebte dort noch die Zeit, in der das Dorf mehrheitlich von Deutschen bewohnt war. Iulias Familie stammt aus Sus de Jos, einen Steinwurf über den Hügelrücken entfernt. Ihre und Stefans Familien trennen dennoch Welten.

Er ist Sachse, evangelisch, sie Rumänin, orthodox. Das und vieles Andere ist für die beiden Achtzehnjährigen kein Problem, schon gar nicht beim Sex. Sie sind nicht sonderlich gläubig – oder eigentlich doch und unbedingt: Sie glauben beide an die Liebe. Ihre.

Eine reine, dennoch leidenschaftliche ist diese, wie sie in jenem erkundungsfreudigen Alter vorkommt, wenn man Glück hat. Und ein Romeo eine Iulia findet. Aber dieses Glück muss vorläufig verborgen bleiben, denkt das Paar: Deshalb treffen sie sich heimlich.

Stefan ist seit einigen Monaten Führerscheinbesitzer. In der Garage seiner Eltern stand sorgsam eingemottet der Dacia 1310, den hat er wieder flottgemacht und fährt damit, wann immer es unauffällig geht, zur Troita an der Wegeskreuzung, über ungepflasterte Pisten. Dort erwartet ihn dann Iulia, an deren Elternhaus er nicht vorfahren und sie einladen darf.

Vor der Troita steht eine Bank. Auf der verschnaufen sie manchmal an der frischen Luft, wenn sie sich aus dem Dacia und ihren Umarmungen geschält haben. Durchgesessen ist diese Bank, vielfach geflickt. Vier Pfeiler stützen das Kapellendach. Es schützt einen umgitterten Gedenkstein, auf den ungelenk ein Heiligenbild gemalt ist.

 „Wie mag der Heilige wohl heißen?“, fragt Iulia ihren Romeo in einer Atempause zwischen verzückten Küssen unterm Vollmond. Der Geliebte lässt zögernd von ihren Lippen ab und nimmt die Frage ernst. „Ich kenne mich mit euren orthodoxen Bräuchen und Heiligen nicht aus“, entgegnet er. „Lass mich googeln.“

Er zückt sein Smartphone, sie ihres auch. Ihre Mutter fragt auf WhatsApp, wann sie endlich nach Hause komme, es sei nun doch schon recht spät. Und was sie überhaupt so treibe. Iulia erfindet eine Geschichte von Freundinnen, mit denen sie noch abhänge; schnell, repede, kehre sie zurück.

Romeo ist fündig geworden. „Hier steht ziemlich viel über orthodoxe Heilige“, sagt er. „Weil es offenbar echt viele davon gibt.“ Er erspart Iulia die Einzelheiten, auch, dass einige Heilige der rumänisch-orthodoxen Kirche sogar noch aus dem 20. Jahrhundert stammen, wegen ihrer tiefgläubigen Standhaftigkeit gegen die Verfolgung durch den kommunistischen Geheimdienst Securitate verehrt.

 Romeo belässt es bei der allgemeinen Information: „Manche Heilige haben nur im Sitzen geschlafen, andere nie einen Fetzen am Leib getragen. Die meisten haben viel gefastet, und oft sind sie einen ziemlich blutigen Märtyrertod gestorben.“

Iulia bekreuzigt sich erschrocken. „Der hinter uns auch?“, fragt sie bang und blickt über die Schulter. „Keine Ahnung“, sagt Romeo, schaut genauer hin und fügt hinzu: „Der sieht wohlgenährt aus. Hat einen Speer in der Hand. Vielleicht ist es ein Erzengel, Michael womöglich. Würde Sinn ergeben: Die Kirchenburg von Kleingroßdorf ist ja ihm geweiht.“

Iulia schmiegt sich an ihn. „Ja“, sagt sie, „ein Engel. Das wäre schön. Ein Engel, der über uns wacht.“ Stefan verschweigt ihr, dass er beim Googeln auch auf die „Legion Erzengel Michael“ gestoßen ist, eine faschistische, zeitweise einflussreiche politische Bewegung aus der rumänischen Geschichte der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts, an die fanatische Unbelehrbare noch heute anknüpfen.

Es wird Zeit zu gehen. Der Fußweg nach Sus de Jos ist mondbeschienen. Iulias Romeo bietet an, sie zu begleiten. Sie lehnt ab. Leichtfüssig und schnell muss sie sich nun davonmachen, nach einem letzten, jetzt flüchtigen Kuss. Mit um so vollerem Herzen, darin ein Geheimnis, nimmt sie Stock und Stein. Stefan schaut ihr nach, liebt jeden Schritt.

Dann sitzt er allein auf der Bank. Hart erscheint sie ihm nun. Nachdem er Iulia lange nachgeblickt, vergeblich auf ein letztes Zurückwinken gehofft hat, prüft er auf seinem Handy noch einmal das Ergebnis seiner Google-Suche nach dem Heiligen, der am Ort der intimen Zusammenkunft mit seiner geheimen Liebe verehrt wird.

Er findet wiederum nur verwirrende Treffer. Der Heilige Valentinus wird es wohl nicht sein, den verehren die Rumänisch-Orthodoxen nicht als Schutzheiligen der Liebenden. Deshalb rennen rumänische Männer auch nicht panisch am 14. Februar in die Blumenläden, sondern am 8. März. Was wiederum nichts mit der Kirche zu tun hat, sondern mit dem unter sozialistischer Ägide installierten Internationalen Frauentag.

Zum Thema Liebe, das merkt Romeo/Stefan sich, hat die Orthodoxie aber zu sagen: Ihre grundlegendste Bedeutung sei, alles Mögliche für das Wohl Anderer zu tun. Dies nimmt er sich vor. Und seine sehr persönliche Andere heißt: Iulia. Für immer. Deshalb wird er um ihre Hand anhalten. Bei ihren Eltern, die bislang nichts von ihm wissen. Seinen eigenen wird er diesen Entschluss zuvor auch irgendwie beibiegen. Hofft er.


Eine Woche später:


Vor Iulia war Romeo im Angesicht des Engels Michael – auf den hatten sie sich inzwischen geeinigt – in die Knie gegangen, als die Angebetete das nächste Mal auf der krummen und schiefen Bank vor der Troita saß. Dies war trotz allen Herzklopfens die leichteste Übung, das geschwindeste Ja gewesen. Sie hatte ihn mit zärtlichen Händen aufgehoben, ihm in die Augen geschaut, die Schultern gestrafft und gesagt: „Und jetzt?“

„Und jetzt“, hatte er erwidert, „werden wir kämpfen.“ Ihm war gewesen, als ob Michael, Herr der himmlischen Heerscharen, Bezwinger des Satans, dazu im Hintergrund ermunternd seinen Speer erhoben hätte.

Aber jetzt gerade, in diesem entscheidenden Moment, fühlt Romeo sich mehr wie der kleine Stefan, der er mal war: sehr verzagt. Er steht vor seinem Vater und erinnert sich an den 80. Geburtstag des Großvaters.

In Kleingroßdorf war das eine bedeutsame Feier gewesen. Der Großvater war nicht irgendwer, sondern ein Patriarch, Honoratior, alteingesessener Sachs, Kirchenältester. Die Kopfzahl der beträchtlichen Nachkommenschaft des Abzufeiernden samt sämtlicher Verschwippter und anderweitig mit seiner angesehenen Familie Verbandelter hatte die Anmietung des Seminarraums des bewährten evangelischen Begegnungsheims des Dorfes erfordert, in dem viele der geladenen Gäste auch über Nacht absteigen konnten.

Dort, im ersten Stock des modernen Anbaus der christlichen Traditionsherberge, kam man in einem großen Saal zusammen. Am Kopf der Tafel saß natürlich der rüstige Jubilar, gütig lächelnd. Vor ihm erstreckten sich links wie rechts zwei gleichlange Schenkel zusammengestellter Tische, beidseitig besetzt.

Es war wirklich eine große Feier, das Stimmengewirr enorm. Auf der einen Seite wurde strikt Rumänisch gesprochen, auf der anderen nur Deutsch. Im Laufe der Jahre, zur Sicherung der folgenden Generationen, hatten sich „Mischehen“ zwischen Rumänen und Sachsen ergeben, aber so richtig gemischt war Stefan die Festgesellschaft nicht vorgekommen.

„Apartheid“, bricht es aus ihm hervor. „Wie bitte?“, sagt sein Vater stirnrunzelnd, ihm zur Seite die Mutter mit prüfendem, besorgtem Blick auf den Sohn, denn der hatte um eine Unterredung „in einer ernsten Herzensangelegenheit“ gebeten.

Stefan stammelt: „Ich bin.. Ich habe… Ich werde…“

Die Mutter legt ihm ihre Hand auf die Stirn. „Du bist ja ganz heiß, mein Junge.“ Sie tauscht einen ernsten Blick mit dem Vater. Drogen?

Dann spricht Romeo entschieden und mit fester Stimme aus Stefans Mund: „Ich bin verliebt. Ich habe eine Freundin. Ich werde sie heiraten. Sie ist Rumänin.“

Nun ist es heraus. Die Mutter atmet zunächst erleichtert auf: keine Drogen! Der Vater lächelt gezwungen und sagt: „Ja, das soll in Rumänien vorkommen, dass man sich in eine Rumänin verliebt. Die Chancen dafür stehen gut.“ Kurzer Seitenblick auf die Gattin. „Aber bist du sicher, dass du sie gleich heiraten musst? Ist da etwa schon was Kleines unterwegs?“

Romeo und Stefan nicken zum ersten Teil der Frage und schütteln zum zweiten den Kopf, beide beides unbedingt und entschieden.

Die Mutter hebt die Hände.

„Stellst du sie uns bald vor?“, fragt sie. Der Vater nickt dazu. „Sie ist natürlich orthodox“, stellt er mehr fest, als dass er es fragt. „Nun ja,“ antwortet Stefan, „etwa so orthodox wie ich evangelisch.“ Also kaum, denkt er sich dabei.

Die Mutter ringt ihre Hände inzwischen.

„Ach Junge,“ seufzt sie, „hast du dir das auch gut überlegt? Was ist denn mit deiner netten Klassenkameradin aus dem deutschen Gymnasium, wie hieß die doch gleich… diese, äh, Gertraud? Ein feines Mädel. Ihr habt euch doch immer so gut verstanden, und zum Tanz wart ihr auch schon.“

Genau, denkt sich Stefan. Das war in dieser Folkloretanz-Gruppe, die sächsisches Brauchtum pflegt, aber zu 90 Prozent aus Rumänen besteht. Genau dort, beim „Dreher“, hat die fesche Iulia mir den Kopf verdreht. Die plumpe Gertraud war da schon außer Puste.

„Nun“, sagt der Vater, und er will milde erscheinen, „das scheint mir alles noch recht unausgegoren. Am besten ist wohl, wir lassen uns das alles noch einmal gut durch den Kopf gehen, vor allem du.“ Damit schlägt er seine „Allgemeine Deutsche Zeitung“ wieder auf und ist das Gespräch beendet.

Fürs Erste, so redet Stefan sich ein, lief das gar nicht schlecht, jedenfalls wurde es nicht laut. Er hört viel Radio Romania Cultural, um sein Rumänisch zu perfektionieren. Er spricht es natürlich recht gut, aber so ab und zu, vornehmlich in den späten Abendstunden, überfordern ihn auf diesem Sender Hörspiele, in denen viele aufgeregte rumänische Stimmen durcheinander krakelen, es ist die reinste Wirtshaus-Atmosphäre – oder ein Familienstreit in Sus de Jos vielleicht, in Iulias Elternhaus.

Kurzer WhatsApp-Austausch mit Iulia: Sie hat ihre Eltern auf einen Besucher eingestimmt. Ihn. Romeo. Er wird zunächst als Stefan vorsprechen und sich dann als Romeo entpuppen. Morgen Mittag. Es wird eine unruhige Nacht für beide, Stefan wie Romeo. Für Iulia auch.


Am nächsten Tag in Sus de Jos, auf die Minute genau um 13.00 Uhr:


Ein Dacia 1310 fährt vor. Ihm entsteigt Stefan, aber er sieht aus wie Romeo: bester Sonntagsstaat, Gel im Haar, Blumenstrauß in der Hand. Natürlich nicht für Iulia, sondern für ihre Mutter. Er hat sich instruieren lassen: Sie mag Kornblumen. Für ihren Vater hat er eine Flasche dabei, beste Zuika, den traditionellen rumänischen Obstschnaps, natürlich selbstgebrannt, wenn auch nicht im eigenen Haus, sondern von den rumänischen Nachbarn der Eltern erworben.

Schlag Eins hatte man Stefans Eintreffen nicht erwartet, Pünktlichkeit ist eher ortsunüblich. Er läutet zwei Mal vergeblich und schilt sich einen Narren: klar, der Deutsche, steifes Rückgrat, eingebautes Uhrwerk, so wird man ihn wohl wahrnehmen.

Iulia macht auf. Sie bittet ihn höflich herein, wie einen Fremden. Er kann sehen, dass sie geweint hat. Das fängt ja gut an.

Durch die Diele zieht Zwiebelduft. Iulia hat ihrer Mutter beim Kochen geholfen und die Zwiebeln geschnitten. Das erklärt die Tränen. Stefan leistet sich einen kleinen Aufatmer. Aber seine Geliebte wirkt im eigenen Haus befangen, so hat er sie noch nie erlebt.

„Geh‘ bitte schon ins Wohnzimmer zum Vater. Mutter und ich sind noch mit der Ciorba beschäftigt. Ach, die schönen Blumen! Ich bringe sie der Mama gleich.“

Stefan nickt geistesabwesend. Es gibt also Suppe, was sonst. Und gleich ein Gespräch von Mann zu Mann. Er fasst die Zuika-Flasche fester und tritt in die gute Stube.

Es sieht aus wie bei ihm zu Hause, vielleicht eine Spur bunter, vielleicht mit mehr Folklore. Über dem Sofa hängt buntes Handgewebtes, auch die eine oder andere Ikone. Darunter sitzt Iulias Vater, ein breit ausladender Mann mit stattlichem Schnurrbart und festem Händedruck.

„Bine ati venit!“, begrüßt er Stefan förmlich, für den er sich erhebt und ihm forschend ins Gesicht blickt. Der Besucher lässt sich auf einen etwas zu langen Wettstreit beim beherzten Fingerknöchel-Malträtieren ein, weil er nicht unmännlich erscheinen will, und antwortet passend, wenn auch etwas flach: „Bine v-am gasit, Domnule Domitru.“

Recht frei übersetzt bedeuten diese Begrüßungsfloskeln so viel wie „Schön, dass wir einander gefunden haben“, aber Stefan ist sich alles andere als sicher, dass man sie in diesem Fall so wörtlich nehmen sollte. Eine Stille entsteht, während beide Männer sich gegenüberstehen. Stefans rechte Hand schmerzt. Er streckt die linke vor, mit der er die Zuika-Flasche umklammert hält.

Iulias Vater geht zu einer Vitrine und entnimmt ihr zwei Stamperl. Er stellt sie auf den Sofatisch und lädt in den davor stehenden Sessel. Nachdem er seinen angestammten Platz auf der Couch wieder eingenommen hat, schenkt er beide Gläser randvoll. Er erhebt das seine, ohne einen Tropfen zu verschütten. „Sanatate!“ Stefans Hand zittert. Er schafft es dennoch, sein Glas gleichfalls unfallfrei zum Mund zu führen und auf einen Zug zu leeren.

Iulias Vater hält sein leeres Glas vor sich und betrachtet es eingehend, es dabei hin und her schwenkend. „Diese Zuika hat der Mihai aus Kleingroßdorf gebrannt, den kenne ich, seinen Schnaps auch, er macht ihn immer zu kratzig. Ist der euer Nachbar?“

Zu kratzig. Schlechter Start. Aber Iulias Vater schenkt nach. So mies kann der Stoff nicht sein. „Der Mihai, ja, der wohnt neben uns“, beginnt Stefan und will etwas Anerkennendes über den rumänischen Nachbarn und dessen Familie sagen, feine Leute, großzügig, hilfsbereit…

„Ein Halsabschneider ist der“, kommt Domnule Domitru ihm zuvor. „Ich glaube, der war Securist. Was hast du bezahlt für die Flasche, Junge? Na. Ist egal.“ Er kippt das zweite Glas – Stefan tut es ihm eilfertig nach; der scharfe Schnaps zur Mittagszeit beginnt bei ihm schon seine Wirkung zu tun.

Iulias Vater geht wieder zur Vitrine und holt eine andere Flasche heraus, stellt sie mit Aplomb auf den Tisch. „Palinka, von hier“, sagt er dazu mit drei Ausrufezeichen. „Schenk uns nach, Junge!“

Stefan tut, wie ihm geheißen, und hofft, dass bald Essen auf den Tisch kommt.  Doch damit sieht es schlecht aus. Iulia öffnet knapp die Tür zum Wohnzimmer und informiert die Herren durch den Spalt: Es wird in der Küche noch etwas dauern. Sie sollen sich einstweilen recht gut bekannt machen, richtet sie von der Mutter aus, die sich vorläufig entschuldigen lässt. Ihr ist die Bors ausgegangen, die saure Suppenbasis, sie muss schnell bei der Nachbarin um Nachschub vorstellig werden, denn: ohne Bors keine Ciorba.

Stefans Glas ist schon wieder voll, sein Gastgeber will sich nicht lumpen lassen. Ablehnen kann sein Besucher nicht, zumal es sich nun ja um die gute Palinka aus den Beständen des Hausherrn handelt.

 Zuika oder Palinka kaufen in Rumänien nur Touristen im Einzelhandel. Beide Schnäpse sind Obstbrände, die Palinka ist die etwas heftigere Version. Zuika wird traditionell aus Pflaumen gebrannt, in die Palinka darf auch anderes Obst. Beiden Spirituosen ist gemein, dass man sie entweder selbst daheim destilliert oder jemanden kennt, der über einen ordentlichen Kupferkessel, die übrige nötige Alchimisten-Apparatur und vertrauenswürdige Expertise sowie ein Gewissen verfügt.

„Sanatate!“ Iulias Vater legt vor, Stefan zieht nach. Jungejunge! Nach Luft ringen wäre schwächlich, also reißt er sich zusammen. „Foarte bine“, presst er sich ab und sinkt tiefer in den Sessel. „Sehr gut!“

„Das will ich meinen“, sagt Iulias Vater, „ist mein Bester! Noch einen?“ Er wartet die Antwort nicht ab.

Stefan hält tapfer mit. Aber so langsam beginnt er daran zu zweifeln, dass er diesen Besuch unbeschadet überstehen wird. Ihm wird heiß. Seine Kehle brennt. Irgendwer scheint am Wohnzimmer zu drehen. Der Schnurrbart seines Gegenübers tanzt auf und ab. Stefan schaut den Bewegungen der Manneszier fasziniert zu und hat Mühe, sich darauf zu konzentrieren, was aus dem darunterliegenden Mund dringt.

„Asa, asa. Soso. Du bist also Iulias Tanzpartner. Was tanzt ihr denn so?“

„V-vor allem den Dreher“, sagt Stefan und hält sich an den Armlehnen des Sessels fest.

„Asa, asa. Den Dreher also. Sächsische Sache, was?“

„S-soweit ich weiß, tanzt man ihn auch in Bayern und Österreich“, antwortet Stefan und versucht, nicht altklug zu klingen. „Aber wir mögen auch die Kreuzpolka und den Siebenschritt“.

„Siebenschritt, asa, asa.“ Iulias Vater schenkt nach. „Magst du denn auch unsere rumänische Muzica populara, mein Junge?“

„Gewiss, cu siguranta.“ Stefan muss schon wieder mittrinken. Der wievielte ist das jetzt eigentlich? Ach, ist ja egal. Nici o problema. „Kein Problem!“ Hat er das gerade gesagt? Auf Deutsch oder auf Rumänisch? Stefan umklammert sein leeres Glas. Nicht auf den Tisch stellen! Sonst kippt der Schnurrbart wieder nach! Wo ist der eigentlich?

Hinter Stefans Sessel dreht der Hausherr die Stereo-Anlage auf.

Die Klarinette ist ein feines Instrument. Ihr Tonumfang bringt es auf vier Oktaven. In der hohen Lage kann sie schrill und spitz klingen. Davon macht die rumänische Musica populara gern Gebrauch. Auch das Akkordeon hat es in sich, wenn es zur rumänischen Volksmusik aufspielt. Und der Gesang erst – pure Lebensfreude!

Stefan hat das Glas unvorsichtigerweise doch wieder auf den Tisch gestellt, wie er feststellt, als es erneut bis zum Rand gefüllt vor ihm steht. Pure Palinka.

Iulias Vater sitzt ihm wieder gegenüber, wippt mit den Füßen und sagt etwas. Stefan hört nur aus den Lautsprechern: „Sapte vai si o vale adanca“, offenbar das Lieblingslied des Schnurrbarts, der nun wie ein Propeller zu kreisen scheint.

„Sanatate!“ ruft Stefan, das passt immer, kann "Gesundheit", "Prost", "danke", "alles Gute" heißen. Gutes Zeug, diese Palinka! Gibt’s noch mehr davon? Cu siguranta.

Drei Gläser später ist die Suppe endlich fertig, Iulia will die Herren ins Esszimmer zu Tisch rufen. Als sie die Tür zur Wohnstube aufdrückt, sieht sie ihren Vater und ihren Liebhaber, die sich über den Couchtisch bei den Händen gefasst haben, die Arme auf und nieder pumpen und aus Leibeskräften mitsingen: „Sapte vai si o vale adanca! – Sieben Täler und ein tiefes Tal!“

Stefan schwankt; wäre er nicht an Iulias Vater geklammert, würde er womöglich auf den Teppich purzeln. Aber er ist bester Laune und ruft: „Hast du auch ‚Über sieben Brücken musst du gehen‘, Ion?“

Man ist also schon beim Du. Iulia nimmt das mal als gutes Zeichen. Und die Palinka-Flasche vom Tisch.

Ihre Mutter tritt ein. Iulia stellt die Musik ab. Stefan lässt verlegen Ions Hände los, wendet sich der Dame des Hauses zu und sagt artig: „Sarut mana, doamna.“ Er deutet dieses „Küss die Hand, Madam“ sogar mit einer Verbeugung zur gereichten Hand an, muss aber aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Iulia springt hinzu, umfasst ihn von hinten, um ihn zu stabilisieren, blickt ihrer Mutter über seine linke Schulter in die Augen und sagt: „Das ist er, Mama: mein Romeo.“

„Asa, asa.“  Die Mutter ist die Vorwegnahme des Alterns der Tochter; die gleichen schönen, tiefbraunen, fast schwarzen Augen, das energische Kinn, die anmutige Kopfhaltung – nur alles ein bisschen angeknittert natürlich und mit Jahresringen um die Taille.

Bevor Doamna Domitru den Besucher eingehend mustert, wirft sie zunächst einen Seitenblick auf ihren Gatten, um zu taxieren, in welcher Phase der fortgeschrittenen Lebensfreude der sich gerade wieder befinden mag. Zehn Gläser, schätzt sie akkurat, sie kennt den Alten.

„Willkommen“, begrüßt sie Stefan auf Deutsch. Und setzt auf Rumänisch fort: „Meine Tochter hat viel Gutes über Sie erzählt. Aber etwas spät. Gerade erst, in der Küche. Wie lange machen Sie ihr denn schon den Hof? Aber vielleicht sollten wir das beim Essen besprechen. Nach der Ciorba gibt es Sarmale. Bitte, kommen Sie ins Esszimmer! Du auch, Ion. Und lass die Flasche hier.“

Nach der Suppe entblättern Iulia und Stefan die vorzüglichen Krautwickel und ihr Verhältnis zueinander. Der Vater brummt. Die Mutter schweigt. Ohne sie und ohne Essen war es vorher lustiger, findet Stefan. Er hat seinen unausweichlichen Kater jetzt schon.

Nach dem Mahl verabschiedet er sich schnell. Ihm scheint, dass Ion ihm zuzwinkert, als der ihn zur Haustür bringt. Aber das kann auch an der schummrigen Flurbeleuchtung und der Palinka liegen. Von Iulia kann er sich nicht angemessen verabschieden. Die, darauf deuten die schrillen Frauenstimmen aus dem Esszimmer hin, streitet mit ihrer Mutter.

Stefan lässt den Dacia stehen. Es wird ein langer, einsamer Fußweg nach Haus.


Eine Woche später:


Das erste Zusammentreffen der Eltern und zukünftigen Schwiegereltern ist ein Erfolg. Aber nur, wenn man das Ausbleiben von Handgreiflichkeiten als solchen durchgehen lässt. Stefans Vater monologisiert über die famosen historischen Leistungen der Siebenbürger Sachsen: „Ein unbeugsames Kulturträgervolk!“ Kaum jemand weiß, worüber er spricht; vom Andreanum, Honterus und Teutsch. Er rollt dabei bedeutsam mit den Augen und macht weit ausholende Gesten, als ob er von einer Kanzel predigen würde.

Die beiden Mütter schweigen. Lebhafter wird es erst zwischen ihnen, als das Essen auf den Tisch kommt. Man hat sich auf Wunsch der Kinder auf neutralem Boden getroffen, in einer internationalen Gaststätte der Großen Stadt. Die bietet weder sächsische noch rumänische Küche. Wahrscheinlich finden sämtliche Eltern zum ersten Mal in ihrem Leben Kimchi auf ihren Tellern vor. Sie wissen wenig damit anzufangen.  

Beim misstrauischen Begutachten des scharfen koreanischen Kohls entspannt sich unter den beiden Damen ein lebhaftes Gespräch darüber, ob Klausenburger Kraut wohl Sarmale vorzuziehen sei – oder andersherum, je nachdem, wer am Wort ist. Jedenfalls, so sind sie sich nach dem ersten Bissen Kimchi nach Atem ringend einig, sind beide Gerichte mit ziemlicher Gewissheit bekömmlicher als das, was ihnen heute vorgesetzt wird.

Stefan hantiert unverdrossen mit seinen Stäbchen, obwohl ihm der ungewohnte Balanceakt äußerste Konzentration abfordert. Iulia sieht mit Entsetzen, wie er die prekär gehebelten Bissen nur knapp am blütenweißen Oberhemd emporjongliert. Ihr Vater Ion hingegen betrachtet fasziniert Stefans Bemühungen. Ion ist bereits betrunken aufgekreuzt. Als er Gabel und Löffel beiseitelegt, um es seinem Schwiegersohn in spe gleichzutun, entsteht ein ziemlicher Schlamassel.

Man hätte die Situation vielleicht noch retten können, wenn Stefans Vater Ion nicht eine Serviette gereicht hätte, mit den Worten: „Servetele, Sie wissen doch wohl, wie man so etwas benutzt?“

„Sapte vai si o vale adanca“ wurde an diesem Abend nicht miteinander gesungen.


Drei Monate später:


Man hat sich zwischen den beiden Familien nicht auf eine Kirche einigen können, also wurde es keine. Keine kirchliche Trauung. Stefan ist es egal. Iulia findet, dann braucht sie auch kein Brautkleid, obwohl sie gern eins getragen hätte. Das schlichte Kostüm steht ihr auch, es wölbt sich ein wenig über ihrem Bauch, aber das retuschiert der Hochzeitsfotograf aus den Bildern heraus.

Beide Elternpaare sind nicht zum Standesamt gekommen. Es ist eine karge Trauung, als Zeugen halten ein Onkel und eine Tante her, denen das ganze rumänisch-sächsisch-orthodox-evangelische Getue recht egal ist.

Es ist trotzdem ein besonderer Tag, sogar ein schöner. Die Sonne lacht über der Großen Stadt, ihrem Großen und dem Kleinen Ring, und die Ringe, die Romeo und Iulia austauschen, sind schlicht, aber funkeln. Mehr noch glänzen die Augen der beiden, als sie sich bei den Händen fassen und dann einen Kuss austauschen.

Gefeiert wird dann doch noch, mit beiden Familien. Als Hochzeitsgeschenk hat Iulias Vater fünf Liter Zuika aufgeboten, wohlverschlossen, sogar versiegelt, in aufwendig getöpferten irdenen Krügen mit kunstfertigen Verzierungen. „Die dürft ihr nur bei Geburten oder so öffnen, zu ganz besonderen Anlässen halt“, raunt er seiner Tochter zu. Sein Atem verrät Iulia, dass er selbst heute schon wieder einen gefunden hat.

In den Saal der Traufeier treten Romeo und Iulia durch Birkenbögen ein. Ein paar Burschen aus beiden Dörfern haben junge Bäume geschnitten und die biegsamen Stämme arrangiert, wie es Brauch ist. An der Hochzeitstafel sieht es dann genauso aus, wie Stefan es vom 80. Geburtstag des Großvaters in Erinnerung hat: Am Kopf der Tafel sitzt natürlich das Brautpaar. Vor ihm erstrecken sich links wie rechts zwei gleichlange Schenkel zusammengestellter Tische, beidseitig besetzt. Das Stimmengewirr ist enorm. Auf der einen Seite wird strikt Rumänisch gesprochen, auf der anderen nur Deutsch.

Es gibt Ciorba, Mici und Mamaliga (Fleischröllchen mit Polenta), es gibt Hochzeitssuppe mit selbstgemachten Nudeln, gekochtes Rind- und Hühnerfleisch mit Soße und Kartoffelpürree, es gibt Gulasch und Paprikasch, denn es sitzen auch ein paar Ungarn und Szekler am Tisch, es gibt Baumstriezel und Hanklich. Und es fließen Sachsenwein, Zuika und Palinka.

Die Stimmung steigt. Iulias Vater stimmt ein Lied an. Alle kennen den Text, aber nur die Rumänen singen mit. „Sapte vai si o vale adanca“.  Als der linke Flügel der Hochzeitstafel richtig in Fahrt gekommen ist, heben die Sachsen von rechts kehlig an: „Siebenbürgen, Land des Segens, Land der Fülle und der Kraft!“

Stefan fasst sich an den Kopf und stöhnt: „Casablanca, andersrum!“ „Was?“, fragt Iulia verständnislos. „Ist egal“, erwidert er, fasst sie bei den Händen und sagt: „Schau mir in die Augen, Kleines!“


 Ein Jahr später:


Der kleine Michael ist ein Schreikind. Er raubt den Eltern jeden Nerv und jeden Schlaf. Unterstützung, Entlastung ist von den Großeltern nicht zu erwarten. Die sind endgültig verfeindet, haben der jungen Ehe ihren Segen entzogen.

Iulia und Stefan sind in eine kleine Wohnung in einem „Bloc“ der Großen Stadt gezogen, in eine Plattensiedlung aus Ceausescu-Zeiten. Er fährt mit dem Dacia für Uber und studiert nebenbei, Romanistik und Germanistik. Sie hat mit dem Kind alle Hände voll zu tun; wenn sie doch mal Zeit hat, übersetzt sie Sachbücher vom Deutschen ins Rumänische, Stefan hilft ihr dabei.

Ab und zu passt eine Tante auf den Kleinen auf. Dann fahren sie zur Troita auf der Anhöhe zwischen Kleingroßdorf und Sus des Jos.

Sie sitzen auf der windschiefen Bank und genießen den Ausblick. „Bereust du was, Iulia?“ fragt Stefan dort eines Abends. „Nichts“, sagt sie und ergreift seine Hand. „Gar nichts, Romeo.“ „Ich nur eins“, sagt er scherzhaft. „Wir haben die erste Flasche Zuika noch gar nicht geöffnet. Dabei könnten wir bald die zweite köpfen.“ Er streichelt seiner Frau zärtlich über den Bauch. „Die soll dann aber mein Vater entkorken“, antwortet Iulia, „und deiner muss endlich mittrinken.“ „Vielleicht“, sagt Stefan, „vielleicht.“

Sie müssen früh, mit der Abenddämmerung, wieder nach Hause; die Tante hat nicht ewig Zeit, und der Kleine wird schnell unruhig. Wenn die Nacht hereingebrochen ist, sitzt mitunter eine Nachtigall auf dem Dach der Troita und singt ihr Lied.