4. Kapitel
Sandkastenspiele
Kanzler Marchand sah sorgenvoll zu, wie sein König in einem großen Sandkasten mit Zinnsoldaten spielte. Die waren kostengünstiger zu erwerben als Söldner; ein stehendes Heer gab es bis auf das Gards du Corps nicht. Jenes war eine vielköpfige reine Leibwache, eine Abschreckung vor ausgemachten militärischen Invasionen stellte es nicht dar. Die Manacardi-Linie bemannten ausländische Söldner, deren Loyalität und Kampfesmut direkt von ihrer Entlohnung abhingen.
„Sire, wir sollten die allgemeine Wehrpflicht einführen“, sagte der Kanzler. „Und mit Verlaub – Ihr solltet die Wahl einer Gemahlin nicht allzu lange hinauszögern. Der Duc de Laballe könnte eine längere Bedenkzeit Eurerseits bezüglich der Anziehungskraft seiner Tochter als Affront auffassen.“
Der König schnippte zwei Bataillone feindlicher Zinnkameraden im Sandkasten um und besetzte deren verwaiste Schanzen mit den eigenen Leuten, die er dafür per Handgriff aus ihren rückwärtigen Stellungen hob. Im wirklichen Leben waren Luftlandetruppen indes noch nicht erfunden worden.
„Hm“, sagte Le Roi und richtete mit vorschnellendem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand ein zusätzliches Massaker unter der gegnerischen Kavallerie an, die reihenweise in den Sand fiel. „Was haltet Ihr von der kleinen Laballe? Hübsche Äpfelchen im Korb, das schon, aber ich weiß nicht…“
„Sire“, hob der Kanzler wiederum an. „Ich weise Majestät darauf hin, dass Mademoiselle de Laballe nicht nur geballte Vorzüge im Mieder vorzuweisen hat, sondern auch die geballte Faust ihres Vaters hinter ihr droht. Ich erlaube mir außerdem die Bemerkung, dass Dero Gnaden bis auf das Gards du Corps als Königliche Leibwache derzeit auf keinerlei verlässliche Truppen zurückgreifen können, da die Zahlung des Solds aussteht. Ich habe diesbezüglich bereits Gespräche mit unserem Hauptfinancier geführt. Er hält mich hin.“
Der König brummte und brachte ein kleines Meisterwerk in Stellung: eine Tischkanone. Entzündete man ihre Lunte, wie er es nun tat, spie sie erst Goldregen übers Schlachtfeld – ein ganz großartiges Spektakel! – gab dann einen lauten Knall und ließ ein Fähnchen aus ihrem Lauf sprießen, das auf den Königlichen Farben die Aufschrift trug: „Victoire!“
„Sire“, versuchte Aristide Marchand es zum nächsten Mal, „Ich fürchte, dass wir realiter auf kaum zwei Dutzend Kanonen zurückgreifen können, während man munkelt, dass der Duc de Laballe über deren 200 gebietet, gleichfalls 6000 Pikenträger mit sechs Meter langen Lanzen, 4000 Infanteristen mit Arkebusen sowie eine Reiterei, die ebenfalls in die Tausende geht – ausnehmlich geübte tatarische Bogenschützen auf arabischen Hengsten. Man sagt, sie könnten in jeder Stellung aus dem Sattel schießen und in ihm gleichzeitig ihre Kinder zeugen.“
„Dann haben sie bewegliche Weiber“, sagte der König anerkennend und gönnte seinem Kanzler erstmals einen Blick. „Was ist mit Alaba sur Mere? Trägt Unser Geheimdienst Uns nicht seit Langem zu, dass er sich eine große Armee hält? Sollte er sie nicht in den Dienst des Reiches stellen?“
Der Kanzler rang die Hände. „Das Reich steht beim Comte bereits mit einer exorbitanten Summe für Söldner in der Kreide. Ich fürchte, er wird auf Bezahlung bestehen, bevor er seiner Lehenspflicht nachkommt.“
„Es ist höchst bedauerlich, dass der Patriotismus in diesem Reich vom schnöden Gewinnstreben korrumpiert ist“, seufzte der König. „Es wird Zeit, dass Manacardi endlich Gold liefert. Er hat ohnehin über den Zustand der Befestigungsanlagen Rapport zu erstatten. Man schicke nach ihm!“
„Sehr wohl“, entgegnete der Kanzler, zog sich kratzfußend zurück und bekreuzigte sich, sowie die Tür zu den Königlichen Gemächern hinter ihm geschlossen war. Er trat nach einem Lakaien, der nicht schnell genug die Türklinke losgelassen hatte, und schrie aus Leibeskräften: „Manacardi! Man bringe ihn! Sofort! Und mir ein Riechfläschchen!“
Eine geheimnisvolle Schöne und eine Wunderwaffe
Manacardi war nicht auf Anhieb aufzutreiben, seine Studierkammer bis auf einige leere Weinflaschen verwaist. Ein schwindelfreier Lakai fand ihn schließlich in erbärmlichem Zustand in seinem Observatorium vor, einer waghalsig auf die höchste Turmzinne gezimmerten Bretterbude, aus deren größter Scharte ein Teleskop in den Himmel lugte. Der Alchimist und Hofastrologe hatte sich nächtens der Sternenschau gewidmet, um das weitere Gedeihen der Königlichen Schicksalsläufe vorhersagen zu können.
Bis um vier Uhr morgens, die beste Zeit zum Erfinden und Nachschenken, hatte Manacardi zuvor an einem gepanzerten Kampfwagen mit Kanone getüftelt, der Kavallerie in Zukunft völlig überflüssig machen sollte und sowohl gegen Volksaufstände wie Feinde von außen nützlich sein konnte.
Der Festungsbauer und Kriegsingenieur hatte lange inmitten von Modellen dieser Wunderwaffe und bizarrer Fluggeräte an seinem Kartentisch gesessen, über ein Perpetuum Mobile als Antriebskraft für den Kampfwagen sinnierend. Seine Feder war auf dem Pergament über Skizzen von Zahnrädern, Deichseln, Gewinden und Gelenken gekratzt. Sie sahen auf den ersten Blick überzeugend aus, ergaben aber im praktischen Zusammenspiel nicht den geringsten Nutzen.
Manacardi war noch nicht zu betrunken gewesen, um dies zu erkennen. Unwirsch lüpfte er den Deckel der Schatulle, die auf seinem Tisch stand. Sie enthielt die jüngste Probe des Königlichen Kots, den er zu analysieren und zu transformieren hatte. In reines Gold, wie es seine Hauptaufgabe war. „Scheiße“, sagte das Genie und ließ den Deckel fallen. „Kommt morgen ins Archiv.“
In seinem Herzen, im tiefsten Inneren seiner empfindsamen Seele, war Manacardi eigentlich ein Künstler, kein Kriegsknecht. Er warf einen wunden Blick auf die Staffelei am Fenster, auf der sein Meisterwerk prangte, das Porträt einer Schönen mit geheimnisvollem Lächeln und Silberblick. Es handelte sich um eine der Mademoiselles aus dem anrüchigen Haus der Madame d‘Izere, das der rüstige Gelehrte unten in der Stadt (sehr weit unten in der Stadt) gerne aufsuchte.
Der König hatte es abgelehnt, das Gemälde in seine Privatgalerie aufzunehmen. „Nutten kommen mir nicht ins Haus“, hatte er Manacardi bei einer Audienz am Mercredi de La Maitresse beschieden, „jedenfalls nicht so hässliche.“ Eines Tages, das wusste Manacardi, würde die Nachwelt darüber rätseln, auf welche Inspiration dieses, sein Meisterwerk zurückzuführen wäre, ob es die geheimnisvolle Schöne jemals gegeben hätte.
Das Genie kratzte sich im Schritt. Das Weinglas war schon wieder leer. Manacardi dachte an daheim. Ah, daheim! Wo die Sonne verlässlich die grünen Hügel beschien, auf denen die Reben pralle Früchte trugen! Wo geschickte Hände zur rechten Zeit die Beeren pflückten, kräftige Füße mit zierlichen Fesseln sie danach in Bottiche traten, aus denen sich ein blutroter Strom ergoss, den nur seine Landsleute zur Vollkommenheit zu keltern wussten!
Manacardi warf das Weinglas an die Wand. Dort trockneten mehrere Flecken, die von vielen vorangegangenen Abenden in derselben Stimmung rührten. Wie er den Norden hasste! Den essigsauren Wein! Den ständigen Nebel!
Der Gelehrte war einer der wenigen Ausländer, die im Königreich geduldet wurden. Neben ihm gab es nur noch den Maitre, der als Auswärtiger wohlgelitten, weil einträglich war. Durchreisende sah man hierzulande gern, aber nach einigen Tagen am liebsten nur noch von hinten, nachdem sie Handelswaren gebracht, ihre Zeche bezahlt und ihren Samen bei den Mademoiselles der Madame d‘Izere hinterlassen hatten. Mehr ethnische Durchmischung war nicht erwünscht.
Manacardi kannte seinen Wert für das Königreich. Die Manacardi-Linie an der Grenze zu den wachsenden Ländereien des stets angriffsbereiten Duc de Laballe war unüberwindlich, und das war sein, des Festungsbauers, Kriegsingenieurs und Universalgelehrten Werk. Ein im Grunde unbezahlbares Verdienst.
Nur mit dem angeblich verheißungsvollen Kot des Königs wollte es nicht so recht vorangehen. Das war ein großes und sich stetig aufhäufendes Problem. Nach allen sorgsam protokollierten Destillationen und Feuerproben blieb nur eine Schlussfolgerung: Es handelte sich bei den Hinterlassenschaften des Erlauchten schlicht um Scheiße, weiter nichts.
Scheiße, Scheiße, Scheiße, dachte Manacardi. Vielleicht wussten die Sterne Rat. Also hatte er sich, in einer Hand die letzte Flasche des guten Rotwein-Vorrats aus der Heimat, auf die Leiter zum Observatorium geschwungen, sein halsbrecherisches Manöver zwar erfolgreich abschließend, dann aber der Schwere der eigenen Gedanken und des Weines erliegend. Der Lakai bekam ihn kaum wach.
„Euer Gnaden, Seine Majestät verlangen nach Euch!“
Als Manacardi unsicheren Schritts an den Sandkasten seines Arbeitgebers trat, versuchte er den König sofort von den Vorzügen eines von Raupenketten vorwärtsgetriebenen Kampfwagens mit Kanone zu überzeugen, der auch schwieriges Terrain überwinden konnte. Kanzler Marchand unterband diese Phantastereien sofort.
„Verehrter Dottore, wir wünschen andere, drängendere Themen mit Euch zu besprechen. Wie steht es um die Kot-Analyse? Ihr habt kürzlich erst“ – Marchand zog einen der zahlreichen Zettel aus der Tasche, die er jederzeit unfehlbar zur Untermauerung seiner Ausführungen zu zücken wusste – „Mal sehen – ah ja, 25 zusätzliche Louisdors erhalten, die Ihr für Laborgerät veranschlagt habt. Welche Erkenntnisse hat diese Anschaffung über die ohne Zweifel exquisiten Ausscheidungen unserer Majestät ergeben?“
Der König ließ die Spielzeugkanone, die Ladehemmung hatte, sinken, ballerte stattdessen eine Hinternladung seines gesalbten Anus in den ohnehin schlecht belüfteten Raum und nickte beifällig.
Marchand rang nach Luft, Manacardi bekreuzigte sich. Die 25 Goldstücke hatte er für den Destillationsapparat gebraucht, aus dem er aus den minderwertigen einheimischen Weintrauben dieser Barbaren halbwegs brauchbaren Grappa herzustellen gedachte. Aber das war natürlich nicht die passende Antwort.
Die Zahnrädchen im Gehirn des Genies ratterten, wie es für seine so zahlreichen Erfindungen auf dem Papier auch vorgesehen war. Manacardi nahm dem König die Spielzeugkanone aus der Hand. Er hob sie Marchand entgegen.
„Dies“, sagte er, „ist die Vergangenheit. Viel Rauch und Lärm um nichts. Viertelpfünder, Kartätschenladungen – alles vergangenes Jahrhundert. Wir“ - das Genie fasste nun den König fest ins Auge – „wir, Majestät, erobern das nächste Jahrtausend!“.
Ein guter Anfang. Der König fing Feuer. Das lag aber auch daran, dass die Lunte der Spielzeugkanone, die in seiner Hand verblieben war, immer noch glomm.
„Autsch!“
„Genau, Majestät! Ich hätte es nicht besser sagen können. Schmerzen werden Euren Weg pflastern. Die Schmerzen Eurer Feinde. Ich bin bereit. Seid Ihr es auch? Seht dieses Modell meines Kampfwagens und bereitet Euch auf die Weltherrschaft vor!“.
Manacardi holte eine flache Schachtel aus den Untiefen seiner Tunika und öffnete sie. Auf ihrem Boden lag das Modell eines kleinen Wägelchens aus Balsa-Holz, vor das zwei inzwischen verendete Kakerlaken gespannt waren.
Marchand seufzte. „Dottore, mit Verlaub. Wenn Ihr mir kurz folgen wollt.“ Der Kanzler wandte sich entschuldigend an den König, dessen Einverständnis einholend, und zog Manacardi in eine Ecke des Raumes, während Majestät die Schachtel hin und her schüttelte, offenbar in der Hoffnung, er könne die Zugtiere seiner neuen Wunderwaffe damit ins Leben zurückholen.
Der Griff des Kanzlers um den Tunikaärmel des Gelehrten wurde zu einer stählernen Klaue, sowie Marchand sich vergewissert hatte, dass der König anderweitig beschäftigt war.
„Dottore“, zischte Marchand, nachdem er Manacardi zur Seite und außer Hörweite gezogen hatte, „Ihr seid so gut wie nutzlos, und Ihr wisst es. Ihr solltet nicht versuchen, daraus noch größeren Vorteil zu ziehen. Eure Befestigungsanlagen werden bald überholt sein, denn wir können sie nicht mehr bemannen, solange der Sold dafür fehlt. Die Hoffnung auf einen Geldsegen aus dem hochherrschaftlichen Hinterteil unseres Monarchen wisst Ihr zwar ständig aufrechtzuerhalten, aber mir und Euch, sofern Ihr noch bei Verstand seid, was ich bisweilen bezweifele, sollte klar sein: Diese Hoffnung ist für den Arsch. Glaubt nicht, dass ich Eurem Treiben noch viel länger zusehen werde. Die Zeiten sind ernst. Unsere Probleme verlangen nicht nach Losung, sondern nach Lösung.“
„Cazzo!“
„Was?“ Marchand verstärkte seinen Schraubstockgriff, während Manacardi wimmerte. „Ich stimme zu, sono d‘accordo“, beeilte das Genie sich zu sagen. „Was also schlagt Ihr vor, Cancelliere?“.
„Ich schlage nicht vor, ich befehle Euch: Überzeugt Majestät als deren Sterndeuter davon, dass die Gestirne nicht nur günstig stehen, sondern geradezu verlangen, dass der König sich vermählt. Und wenn Euch Euer Kopf lieb ist, dann sorgt dafür, dass unser Souverän weiß: Dafür gibt es nur ein verheißungsvolles Sternbild.“
„Virgo?“
„Scheißegal. Sie heißt Claudine de Laballe. Merkt Euch den Namen. Ich habe bereits entsprechende Arrangements getroffen. Natürlich wahren wir die Form, es wird andere Aspirantinnen geben. Sie alle sind bereits eingetroffen, morgen ist Brautschau. Die Wahl des Königs darf aber nur auf diese eine treffen. Das Firmament hat sie ihm vorausbestimmt. Haben wir uns verstanden?“
„Naturalmente.“
„Noch etwas, Dottore: Ihr werdet einen neuen Assistenten bekommen.“
Bruderliebe
Claudine de Laballe war empört. Diese Hinterwäldler! Diese schmutzige Stadt! Dieses erbärmliche Schloss! Am schlimmsten aber: dieser schwachsinnige König!
Noch war sie ihm zwar nicht von Angesicht zu Angesicht begegnet. Aber sie hatte die übelsten Befürchtungen. Wie’s Gescherr, so der Herr! Und sie konnte nur sagen, dass sämtliche Untertanen dieses Königs, denen sie bisher begegnet war, mehr als degoutant waren.
Diese beiden Kackbrüder auf dem Weg zum Stadttor zum Beispiel - schmutzig, stinkend, ein Sinnbild des ganzen verrotteten Nachbarkönigreichs! Damit war es ja schon losgegangen. Auch ansonsten: Müll und Dreck, wohin man sah.
Wenn Claudine aus ihrem Zimmer auf den Schlosshof hinunterschaute, vergewaltigte ihr Schönheitsempfinden ein riesiger Haufen Taubendreck auf einem Sockel, aus dem ein halb fertiger Pferdeleib ragte. Dieser Kack-König ließ offenbar ein Denkmal aus Scheiße modellieren.
Die einzige Tochter des Duc de Laballe fand die wildesten Gerüchte bestätigt, die über ihren Gastgeber in Umlauf waren. Er sollte von seinen eigenen Exkrementen besessen sein, sie für eine Gabe Gottes, je nach Verstopfungs- oder Durchfallsgrad für den Stein der Weisen oder Gelee Royal halten.
Claudine schüttelte sich. Sie wandte sich vom tristen Blick aus dem Fenster ihres Gästezimmers ab, hielt ihr Riechfläschchen unter die zierliche Nase voller Pockennarben und musterte das ihr zugewiesene Gemach. Erbärmlich.
Das finstere Loch konnte ihren Reisekoffern und Hutschachteln kaum Raum bieten. Es gab keinerlei Perückenablagen, nur eine windschiefe Kommode. Auf der stand eine Porzellanschüssel, neben der ein Krug mit Wasser und ein weißes Stück irgendwas; Zucker war es nicht, es schmeckte ganz widerlich, wenn man reinbiss, und schillernde Blasen stiegen einem aus dem Mund. Unerhört! Ein Giftanschlag?
Wasser! Der Affront, der Gedanke allein! Claudine pflegte nur Wein zu trinken. Sie seufzte, zerdrückte mit den Fingerspitzen eine Laus, die aus ihrer gepuderten Perücke den Abstieg zur Schläfe gewagt hatte, und schaute sich den ganzen übrigen Schlamassel an. Ach herrje, das Bett! Für eine Adlige ihrer Anmut und Zartheit viel zu hart; nur drei Matratzen und zwei Unterbetten, drei Oberdecken und fünf Kissen! Fünf! Wollte man sie hier wie eine Magd behandeln?
Ach, leider wusste sie ja, welches Schicksal ihr Vater ihr an diesem Hofe vorherbestimmt hatte.
„So, jetzt mal Fresse halten, Süße, und fang nicht gleich wieder an zu heulen“, begann das Gespräch, nach dessen Ende Papa sie mitsamt ihrem ritterlichen Bruder und Gefolge an diesen rückständigen Hof entsandt hatte. „Du hast jetzt genug mechanische Nachtigallen, kastrierte Mohren, Hofzwerge, kandierte Datteln und Zuckerwatte verbraucht. Du bist 16 Jahre alt, meine einzige Tochter und vielleicht noch fünf Jahre lang ansehnlich genug, dass man dich jemandem andrehen kann. Du bist doch wohl noch Jungfrau? Sonst gnade dir Gott! Also: Wir werden dich vermählen. Es gibt gerade Bedarf, in der Nachbarschaft. Pack deine Plünnen und lass dich von deinem Bruder eskortieren, als Beweis unserer Wehrhaftigkeit, damit klar ist, was passiert, wenn du nicht geheiratet wirst. Aussteuer, Erbfolge, das ganze Pipapo, wird dann schon geklärt werden. Dein zukünftiger Gemahl ist ein Schwachsinniger, dessen ebenso debilen Hofschranzen seine Kacke als Gottesgabe verehren. Sein Königreich werden wir uns ausnahmsweise mal ohne Blutvergießen einverleiben – das ist deine Aufgabe. Dein Bruder wird den Rest erledigen.“
Ihr Bruder, der Ritter in silberner Rüstung. Er war fünf Jahre älter als sie und übertraf den Vater an Grausamkeit, Verschlagenheit und Missgunst. Ihre Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit mit ihrem Bruder waren – schmerzhaft.
Claudine weinte in ihrem Gemach im fremden Land. Ihr Bruder klopfte, wartete ihren Zuruf aber nicht ab und trat sofort ein.
„Henri!“
„Claudine!“
Er war wie immer in Rüstung, in der er wahrscheinlich auch schlief, trug den Helm immerhin unter dem Arm und durchbohrte sie mit seinen giftgrünen Augen.
„Ich finde dich nicht vorbereitet“, kam er sofort zur Sache.
„Mon frère…“, begann sie.
„Ach, lass den Scheiß“, versetzte er ärgerlich, warf den Helm auf ihr Bett und streckte ihr den eisenbewehrten Zeigefinger entgegen. „Du hattest genug Zeit, dich frisch zu machen. Verführerisch auszusehen. Ich sehe nichts dergleichen. Du bist eine verflennte kleine Ratte mit blassen Wangen, die werde ich dir gleich massieren.“
Er zog vorher immerhin den Eisenhandschuh aus. Sie duckte sich, was nicht viel nutzte, um seinen Schlägen auszuweichen.
„Hör auf zu heulen, sage ich. Und pack deine Äpfel in den Korb!“
Äpfel? Korb? Sie verstand nicht, aber traute sich nicht, es einzugestehen, auf dass er sie nicht wieder schlüge. Stattdessen wischte sie sich einen dünnen Blutstrom aus dem Mundwinkel.
Henri griff ihr grob an die Brüste. „Das hier, blöde Pute! Das muss so weit wie möglich bloßgelegt und präsentiert werden! So dass es gerade noch schicklich ist, aber Appetit macht!“
Er grinste sie an. „Brautschau in zehn Minuten. Im Audienzsaal. Du wirst dich unserer Familie würdig erweisen.“
Brautschau
Der Audienzsaal war für einen Staatsakt dekoriert. Die königlichen Farben – Kackbraun und Pissgelb – schmückten ihn auf Standarten, Girlanden, Bordüren. Der zurzeit noch verwaiste königliche Thron, ein Traum aus verschlissenem Samt und durchgesessenen Sprungfedern, war illuminiert.
Eine geniale Konstruktion Manacardis aus polierten metallischen Reflektionsflächen (die revolutionäre Einführung von venezianischen Glasspiegeln bei Hofe hob der Gelehrte sich für einen passenden Zeitpunkt auf) lenkte gebündeltes Kerzenlicht aus einem Nebenraum auf die Sitzfläche. Und damit auf den Schritt des Souveräns, wie klar wurde, als Majestät schließlich huldvoll Platz nahm und die Anwesenden seiner Blicke würdigte.
Was der König sah, gefiel ihm nicht. Im Audienzsaal drängelten sich die üblichen Hofschranzen und Würdenträger. In der ersten Reihe standen vor ihm drei Eheangebote, umgeben von ihren Hofdamen und Bannerträgern. Der König kannte die Wappen nur allzu gut: die zwei Drachen des gefährlichen Laballe. Die drei Sumpflilien des tributpflichtigen Choque entre Deux Mères(dessen zwei kümmerliche Gewässer eigentlich nur stinkende Tümpel waren), die lachhaft unangebrachte Sonne des düsteren Hieremont im unwirtlichen Norden, wo kaum ein Lichtstrahl hindrang.
Der Gedanke an diese Herrscher war für den König schlimm genug. Noch beunruhigender aber war der Anblick ihrer Töchter.
Mademoiselle Fleuribal d’entre Deux Mèresbefand sich zwar im besten heiratsfähigen Alter, der König schätzte sie auf allerhöchstens elf. Ihr Gesicht jedoch war eine teigige Fläche mit wenigen Anhaltspunkten. Zwei kleine Schweinsäuglein lugten über einer knopfigen Nase hervor, das Mädchen hatte Hängebacken. Immerhin: Ihre Zähne schienen komplett zu sein.
Unter dem Gebirge ihres frühzeitig entfalteten Busens erweiterte die Statur der Mademoiselle sich vom vermuteten Bauchnabel abwärts zu einer Hüfte, von der man nur gnädigerweise annehmen konnte, dass der Reifrock ihren Umfang überzeichnete. Das ganze Fleischmassiv setzte sich zu stämmigen Beinen fort, die das Vorbild für manche Pfahlbauten im sumpfigen Heimatland der Prinzessin abgegeben haben mochten. Die Mademoiselle schwitzte außerordentlich, bewegte mit den plumpen Fingern ihrer linken Hand fortgesetzt einen Fächer und hielt in der Rechten einen Lutscher, an dem sie begierig schleckte.
Nun ja. Charlotte sur Hieremont aus dem hohen Nordenwar der Gegenentwurf. Von außerordentlich vornehmer Blässe, das wohl – und angesichts des Klimats ihrer Heimat kein Wunder. Aber so spillerig, dass man sich einen Splitter an ihr einreißen würde; und nahezu biblisch alt – 21.
Ihr fettiges schwarzes Haar, durch keinerlei Friseurkunst auftürmbar, hing zu beiden Seiten ihrer spitzen Schultern strähnig herunter. Ihr Decolleté glich einer Steppenlandschaft. Ihre Hände und Finger waren so schmal und dünn, dass sie die feinen langen Seidenhandschuhe, die sie trug, in der Ellenbeuge schnüren musste, sonst wären sie ihr abgefallen.
Der König begriff die Brautschau als die Farce, die sie war. Angesichts des bedrohlichen Machtzuwachses des Herzogtums Laballe, das auf einen Königstitel schielte, war Claudine de Laballe die einzig logische Wahl. Und die vom Königlichen Sterndeuter eindeutig vorherbestimmte.
Es traf sich gut, dass die Laballe-Tochter auch die einzige halbwegs ansprechende Kandidatin war. Die beiden Mitbewerberinnen waren aus reiner Etikette eingeladen worden, um den kleineren Nachbarn nicht das Gefühl zu geben, gänzlich bedeutungslos zu sein.
Der König hatte vorab Porträts der drei Fräuleins gesehen, von den Hofmalern der beteiligten Reiche natürlich geschönt. Claudine de Laballe hatte ihm am besten gefallen, und so war es auch jetzt. Natürlich konnte er Claudine nicht in Herz sehen (er wäre über die Finsternis darin erschrocken gewesen). Der äußere Anschein des Dämchens war aber ansprechend.
Gut, die Pockennarben – das war mit einer Tinktur Manacardis vielleicht noch besser wegzuschminken. Aber die Äpfelchen im Korb, so appetitlich präsentiert, die stolze, aufrechte Haltung, der gerade, durchgebogene Rücken! Doch…
…der Standartenträger der jungen Laballe gab Le Roi zu denken. Diese stechenden, giftgrünen Augen, der Ruf, der dem Ritter in silberner Rüstung voraneilte!
Henri de Laballe war der einzige Sohn des Herzogs Laballe. Mehr noch als sein despotischer Vater war er bei den eigenen Untertanen gefürchtet wie der Leibhaftige. Er führte nicht nur die Leibgarde des Herzogs, sondern war auch oberster Steuereintreiber.
Die Steuerlast im Herzogtum der Laballes war enorm. Sie umfasste Abgaben auf die Größe der Fenster eines Hauses ebenso wie auf die Zahl der Kinder (je weniger, desto mehr Steuern, denn der Herzog brauchte Soldaten) und den Leibesumfang (halbjährliche Bauchmessungen der männlichen Untertanen gaben Aufschluss darüber, wie viel sie sich selbst einverleibt und ihrem Souverän vorenthalten hatten).
Die Folge war eine Bevölkerung aus gertenschlanken Großfamilien, die sich in fensterlosen Verschlägen drängelten, in ständiger Angst vor den Akzisebeamten, die unablässig schnüffelnd durchs Land streiften, denn natürlich war auch eine Kaffeesteuer zu bezahlen.
Henri de Laballe ließ es sich nicht nehmen, regelmäßig selbst seine Schnüffler anzuführen und Häuser, Güter und Höfe persönlich zu inspizieren. Groß war seine Enttäuschung, wenn er keine Übertretungen feststellen konnte, diabolisch seine Freude, wenn ein Steuerhinterzieher ertappt und seiner gerechten Strafe zuzuführen war. Zu diesem Zweck trug Laballe stets eine Bullenpeitsche mit sich.
Auch jetzt baumelte sie von seiner Hüfte. Der König musterte de Laballe näher, schaute dann aber lieber wieder weg. Die rechte Hand des Hünen, im Eisenhandschuh, ruhte auf dem Schwertknauf. Ein mächtiges Schwert war das, schenkellang. Der ganze Kerl mochte um die 2,10 Meter messen. Das Auffälligste an ihm war seine silberne Rüstung. Sie trug als feinziselierte Ornamente Totenköpfe.
Der König bedeutete den drei Ehe-Aspirantinnen, sich aus ihrem Hofknicks zu erheben, dabei sagte er: „Die, äh, Anmut und hochrangige Stellung der hier versammelten Damen wie auch Respekt und Sittsamkeit verbieten es, so viel Schönheit und edles Geblüt nicht länger im Staube verharren zu lassen.“
Ein Raunen ging durch den versammelten Hofstaat. So einen langen und durchformulierten Satz hatte man im Audienzsaal schon lange nicht mehr gehört, das letzte Mal anlässlich der Enthauptung von Eduard dem Geschwätzigen, der vor seinem Kopf mal wieder viel zu viele Worte verlor.
Auch der König verlor etwas: den in seiner Handfläche verborgenen Sprechzettel, von dem er abgelesen hatte. Das Papier segelte in grausamer Langsamkeit vor seinen rechten Fuß, den er hastig darauf stellte.
„Nun.“ Hilfesuchender Blick zu Zeremonienmeister Aristide de Petète zur Linken. Dieser trat einen Schritt vor und stieß seinen Zeremonienstab aufs löchrige Parkett. Holz splitterte. Souverän übersah der Zeremonienmeisterdie neue Lücke im Bodenbelag und sagte feierlich: „Majestät geruhen nun die Proben der Fertigkeiten der Mademoiselles entgegenzunehmen.“ Gleichzeitig überreichte de Petète dem König einen goldenen Apfel.
Le Roi starrte auf die künstliche Frucht. „Wo haben wir plötzlich so viel Gold her?“, fragte er entgeistert. „Leihgabe des Maitre“, flüsterte Petète ihm ins Ohr. „Für das Urteil des Paris.“ „Urteil? Paris?“ Der Souverän war unvorbereitet. Und dies nicht Troja. Oder doch?
Die fette Fleuribal durfte als erste Aspirantin vortreten. Wiederum deutete sie einen Knicks an, der sie beinahe aus dem Gleichgewicht brachte. Dann begann sie… Laute von sich zu geben, so viel ist verbürgt.
Über den Ursprung und die gewollte Bedeutung der Darbietung ist man sich im Königreich bis heute nicht im Klaren. Die einen sagen, Fleuribal wollte singen. Die anderen halten einen plötzlichen, durch die Aufregung verursachten Reflux für wahrscheinlicher, der heiß in ihrer Kehle aufstieg und sich Gehör verschaffte.
Einzelne Sentenzen waren verständlich. „Nun bin ich hier… öööhmm, verschreib‘ mich dir, tiriiiiliii, gehör‘ hierher, ich bitte sehr, knuffpuffhöhöhö…“ Die Jungfrau klang wie ein getretener Blasebalg.
Dann barst ihr Mieder.
Höflinge sprangen hinzu und verdeckten die beträchtliche Blöße der beleibten Mademoiselle mit ihren eilig ausgezogenen Westen und Jacken. Tränen, Abgang in die zweite Reihe, Tuscheln, Kopfschütteln.
Die bohnenstangige, dünngliedrige Charlotte aus dem Norden trat nun nach vorn. Ihr gewähltes Metier war das Ballett. Grausames Spiel vieler Kinder im Königreich war es, langbeinigen Weberknechten ein bis zwei ihrer Spinnen-Extremitäten auszureißen, um dann begeistert zu verfolgen, wie die Tiere in einen schwankend getakteten Seemannsgang gerieten. Das gewünschte und beim Kinderspiel vielbeklatschte Ergebnis sah ähnlich aus wie das Vortanzen der Prinzessin.
Im Audienzsaal herrschte Erstaunen. Vor allem aber Stille. Keine Hand rührte sich zu Applaus. Charlotte, die in einem bemerkenswert abgeknickten Spagat zu Boden gegangen war, sortierte ihre Gliedmaßen so sorgsam wieder in eine aufrechte Haltung zurück, wie man die Gelenkstangen eines Zelts nach Bedarf ausrichten würde.
Die schmalbrüstige Mademoiselle war bei der Wiederherstellung ihrer aufrechten Hungerödem-Anatomie ohne Zweifel einzigartig. Das fiel sogar dem König auf, dem gewohnheitsmäßig viel entging.
Und nun: Auftritt Claudine. Sie trat nach einem scheuen Seitenblick auf ihren Bruder vor. Henri de Laballe streichelte seine Bullenpeitsche und nickte der Schwester aufmunternd zu. Diese nestelte ein gefaltetes seidenes Taschentuch aus ihrem Ausschnitt, das bestickt war. Offenbar wollte sie es dem König als Probe ihrer handarbeitlichen Fertigkeiten überreichen.
Le Roi nahm das Seidentuch huldvoll entgegen und entfaltete es. Dabei entfiel ihm der güldene Apfel und rollte vor die Füße der einzig aussichtsreichen Bewerberin. Sie nahm die Frucht sofort auf und presste sie an ihren Busen, offenbar entschlossen, sie nie wieder herzugeben.
Der König starrte auf das Taschentuch. Es war in der Tat verziert, aber nicht mit Blümlein, Vögelchen oder anderem Firlefanz. Vielmehr stand auf dem Stück Stoff in Feinstich:
„Sire! Wählt meine Tochter oder den Krieg. In Vorfreude, Duc de Laballe“.
Der König zwinkerte.
In diesem Moment explodierte die Bombe.
Fortsetzung im Juni