La Merde du Roi


Ein Märchen

von Hans-Jürgen Moritz

 

Inhalt:


Erster Teil


  • Präludium (Januar 2025)
  • 1. Kapitel (Februar 2025)
  • 2. Kapitel (März 2025)
  • 3. Kapitel (April 2025)
  • 4. Kapitel (Mai 2025)


 

Erster Teil

 

Präludium: Erleichterung bei Hofe

 

„Ping!“

Ein heller, überaus zarter, verspielter und delikater Laut tänzelte durch die dicke Luft im Schlafgemach der Majestät. Diese Luft, sie war zum Schneiden. Le Roi hatte geruht zu furzen. Begeistert reckten die Hofschranzen die Nasen und saugten mit Beifallsbekundungen die Flatulenz ihres Souveräns auf.

„Ah! Oh! Délicieux!“

Der Leibstuhlpage hob die Brokatdecke vom königlichen Abort, den zwei Lakaien wie jeden Morgen ans herrschaftliche Bett getragen hatten. Der Page klappte den Deckel des Leibstuhls auf, so dass die samtbeschlagene Öffnung sichtbar wurde. Dann trat er ehrfurchtsvoll zurück. Die golddurchwirkte Decke hatte er über den angewinkelten Unterarm gefaltet.

„Pingping!“

Der langgediente Hofgesäßmarschall Duc Clarence d‘ Arome, ein Mann von akkurater Haltung und unbestechlicher Pflichterfüllung sowie geringem Geruchsvermögen, schwenkte sein graziles silbernes Glöckchen nun zwei Mal zwischen Daumen und Zeigefinger, da der regierende Anus des Reiches anwesenden Adel wie Gesinde erneut mit einem Wind beglückt hatte.

Eine Herzogin in der zweiten Reihe des Halbkreises, der nach strikter Rangordnung um den königlichen Leibstuhl arrangiert worden war, führte ihr Spitzentaschentuch an die Nase, zitterte kurz und fiel in Ohnmacht. Ein unverzeihlicher Fauxpas. Der Hofgesäßmarschall setzte die Unbotmäßige im Geiste sofort auf seine schwarze Liste, während er das silberne Glöckchen ablegte und nach dem goldenen Gong griff. Dieses Dämchen würde dem morgendlichen Lever nie wieder beiwohnen dürfen, ihre Familie Ländereien und Status verlieren.

„Attention!“

Der Halbkreis aus Privilegierten rückte begierig näher an den Leibstuhl heran, bis der Hofgesäßmarschall den zwei Dutzend Auserwählten mit einer dezenten, aber entschiedenen Geste Einhalt gebot. Alle Augen richteten sich auf den König.

Majestät befanden sich schlecht, hatten sich stöhnend auf den linken Unterarm gelagert, die rechte Pobacke vom Schlafhemd befreit und die rechte Hand in die Hüfte gestützt. Der gesalbte Herrscher schloss die Augen, verkrampfte den Mund und blähte vier Backen; zwei oben, zwei unten. Gesicht und Gesäß waren insofern in perfekter Harmonie.

„Pingpingping!“

Der Marschall musste den Gong eiligst wieder fahren lassen, da der König seinerseits nun zum dritten Mal einen fahren ließ, ohne den Leibthron bereits bestiegen zu haben. Die Regeln waren ehern: das Glöckchen für die köstlichen Flatulenzen des Gesalbten, die eine sich langsam steigernde Ouvertüre waren – bis der Gong das große Crescendo ankündigte, die wunderbare Gabe der Monarchie an das Volk und den ganzen Erdkreis: den verehrungswürdigen Königlichen Kot.

Der König erhob sich. Beifall desgleichen.

„Le Roi se leve! Quelle beauté!”

Le Roi hatte es nun eilig. Die wieder herbeigesprungenen Leibstuhlträger stützen ihn zu beiden Seiten und hoben den Erhabenen auf den Kackthron.

Ehrfurchtsvolles Schweigen. Der Hofgesäßmarschall hatte alle Anwesenden im Blick. Seine Miene verbat jegliches Getuschel. Man bereitete sich auf einen bedeutungsvollen Moment vor, möglicherweise einen historischen. Ein Bischof in der ersten Reihe des Halbkreises um den Leibstuhl schlug sein Kreuz.

„Uäähhmmbpfff. Hmpff. Aarhrh. Pfffff. Hah!“

Wie immer fand der Herrscher die angemessenen Worte. Der goldene Gong erklang. Der Leibstuhlpage reinigte die royale Rosette mit der Brokatdecke. Unter nicht enden wollendem Applaus zog die Majestät sich danach ermattet ins Ankleidezimmer zurück.

Der Hofgesäßmarschall öffnete eine Schublade im Leibstuhl und entnahm ihr eine Porzellanschüssel. Die beneidenswerten Augenzeugen des königlichen Stuhlgangs durften nun näher herantreten und für einen kostbaren Moment im zierlichen Gefäß der Verdauungsgabe ansichtig werden.

Der Hofgesäßmarschall verhinderte allzu tiefe Einblicke, ließ jeden nur kurz an die Reihe kommen und wies dann den Weg zur Tür. Die Gesellschaft verstreute sich in den Gängen und Hallen des Schlosses. Etliche Adlige, Geistliche und Offiziere waren aufgewühlt und mussten sich auf der Stelle in diversen Nischen, unter Marmorbüsten und hinter Vorhängen entleeren. Es gab nur einen einzigen Leibstuhl im Schloss. Kein weiteres Klo. Aber drei Kapellen, ein Operntheater, fünf Küchen und zehn Speisesäle.

Der Hofgesäßmarschall vergewisserte sich, dass alle das Schlafgemach des Königs verlassen hatten und sämtliche Türen geschlossen waren. Er führte die Porzellanschüssel zu seiner nutzlosen Nase, betete im Geiste drei Rosenkränze für seinen Monarchen und sich selbst und entschwand in einer Tapetentür, um den Königlichen Kot archivieren zu lassen.

 

 

1. Kapitel

 

 

 

Das Universalgenie

 

„Was stinkt hier so köstlich?“, fragte der Bestellte Oberverweser des Königlichen Geheimen Fäkalarchivs, Chevalier Aristide des Pommes Diarre, und erhielt mit diesen rituell festgelegten Worten Einlass in die Verzweigungen des Königsgrabs der Exkremente. Die zwei Wachen wandten sich nach Luft ringend ab, als er an ihnen vorbei schritt, die vom Duc d’Arome empfangene Porzellanschüssel sorgsam vorantragend.

Das Geheime Fäkalarchiv nahm nach 30 Jahren gesegneten Regnums und Rektums Seiner Majestät, des Gesalbten und Unfehlbaren Königs, den weitaus größten Teil der Katakomben unter dem Schloss ein. Der Eingang neben dem taubenbeschissenen Fundament des einst geplanten, aber nie vollendeten Reiterstandbilds des equinophobischen Regenten war mit einer bleiernen Luke gesichert, die stets bewacht wurde.

Diarre stieg in den Hauptgang hinab. Links und rechts zweigten Seitenstränge voller Schubladentürme ab. Ihr Inhalt war kalendarisch sortiert und reichte bis zu frühesten Ausscheidungen Seiner Majestät zurück. Sie zu öffnen, erforderte wenig Mut: Diese Exkremente waren versteinert und geruchsneutral. Mit aktuelleren Verdauungsprodukten sah und roch es freilich anders aus.

Den Chevalier ließ das unbehelligt. Wie der Hofgesäßmarschall war er mit einem stillgelegten Geruchssinn gesegnet. Beide profitierten davon, dass ihre Familien sich hohe Stellen bei Hofe zu sichern wussten, indem sie ihren Söhnen die Riechnerven durchtrennen ließen. Da der Eingriff eine lebensgefährliche Schädelöffnung bedingte, bedurften diese Adelsgeschlechter steten Nachschubs an Stammhaltern. 

Diarre hatte überlebt und sich damit eine lebenslange glänzende Karriere gesichert. Wiewohl seine gesellschaftliche Stellung herausragend war, mied man bei Hofe im Allgemeinen den Umgang mit ihm und dem Hofgesäßmarschall. Der fehlende Geruchssinn wirkte sich bei beiden auf die eigene Körperhygiene aus, da sie sich selbst – und übrigens auch einander, sie waren stete Konkurrenten – nicht riechen konnten.

Zwar war dem gesamten Hofstaat der Umgang mit Wasser und Seife so unlieb wie körperliche Arbeit, jedoch pflegten die Kostgänger des Königs sich üppig mit Veilchenwasser und anderen Essenzen zu parfümieren. Hier legten der Duc wie der Chevalier eine Nachlässigkeit an den Tag, die des Öfteren in spontanen Ohnmachtsanfällen Anwesender resultierte, wenn einer dieser beiden hohen Würdenträger einen Raum betrat.

In den Katakomben war der Eigengeruch des Chevaliers vernachlässigbar, zumal da er hier auf eine bestens vorbereitete Person traf. Hofalchimist Artobaldo Manacardierwartete ihn im Archivierungsraum unter dem Schutz einer Gesichtsmaske; vor ihm glomm eine ganze Batterie von Räucherstäbchen auf dem massiven Marmortisch, hinter dem er saß.

Der Chevalier musterte indigniert den Südländer, von dem er keine allzu hohe Meinung hatte. Der Festungsbauer, Erfinder und Universalgelehrte sah wie üblich aus wie ein Narr und trug eine befleckte pinkfarbene Tunika. Seine langen Locken hingen ihm wild ins Gesicht. Der bis zum Bauchnabel reichende Bart ruhte auf der Tischplatte. Seit Langem ungekämmt, hatte die Manneszier sich zu einem struppigen Geflecht verzopft, das ohne Zweifel einigem Kleingetier Obdach und Brutraum bot.

Manacardi spielte im flackernden Kerzenlicht mit Kakerlaken, denen er mit dünnen Drähten allerlei Miniaturgefährte angehängt hatte; Kutschen und Fuhrwerke aus Balsaholz, sogar eine Lafette mit einer kleinen Kanone war dabei. Ihr Lauf bestand aus einer vorne offenen Patronenhülse.

Der Alchimist schubste das Personal seines Fuhrparks mit einem Stäbchen immer wieder in die ihm geeignet erscheinende Formation; offenbar sollte eine Parade daraus werden. Auch kleine Fähnchen fehlten nicht, sie trugen das königliche Wappen und waren auf die Wägelchen gespießt, teils auch in die Abdomen der Zugtiere – was deren Leistungsfähigkeit minderte bis ausschaltete.

Artobaldo Manacardi schien mal wieder getrunken zu haben. Er war zweifelsohne völlig verrückt und passte insofern gut in den Hofstaat. Das gedungene Genie fing viel an, aber brachte wenig zu Ende. Ein von ihm auf zwölf Meter Höhe geplantes Reiterstandbild des Monarchen im Schlosshof war in drei Jahren nur vier Meter über das Fundament hinaus gediehen, auf dem sich Taubendreck sammelte. Das lag nicht nur an Manacardi, denn es gab kein Modell.

Noch nie war es jemandem gelungen, den König auf einem Pferderücken zu erblicken. Es mangelte nicht an muskulösen Knappen, die den wohlbeleibten Herrscher auf ein Ross hätten wuchten können. Majestät lehnten solche Kraftanstrengungen jedoch grundsätzlich ab, weil Majestät Angst vor Pferden hatten. Auch vor Katzen, Spinnen und Revolutionen.

Letztere Phobie war die einzig berechtigte. Das Land lag darnieder. Der Adel murrte, die Patrizier klagten. Alle anderen hatten nichts zu sagen, aber würden sich beizeiten melden, wenn ihr Garten verdorrte, die Kinder hungerten. Dieser Zeitpunkt schien nahe. Alle Hoffnungen ruhten mehr denn je auf Manacardi, der die Nachfolge einheimischer Alchimisten angetreten hatte, die dem König erfolgreich eingeredet hatten, man könne aus seiner Scheiße Gold machen.

Manacardi blickte auf und wurde des Chevaliers gewahr. Er winkte jenen näher und sagte: „Ah, was haben wir denn da? Scheiße, nehme ich an?“

„Dottore belieben die Königlichen Exkremente zu meinen, nehme ich an?“, antwortete der Chevalier passend zum Geruch säuerlich und bedachte den Gelehrten mit einem strafenden Blick. Vorsichtig setzte Diarre die Porzellanschüssel vor Manacardi ab. „Ich wünsche gutes Gelingen. Es wäre an der Zeit. Sollten Eure Versuche wiederum zu keinem Erfolg führen, werde ich das Gelee Royale archivieren. Wie üblich. Wie seit, äh, etlichen Jahren.“

Der Chevalier wartete keine Antwort ab und entfernte sich zügig. Er hatte nicht die geringste Lust, mehr Zeit als nötig in Gegenwart einer indiskutablen Person weit unter seinem Stand zu verbringen, wie Manacardi sie ohne Zweifel darstellte. Zudem war die Anwesenheit des Chevaliers in den Gemächern des Königs wieder erforderlich, denn nach dem morgendlichen Lever stand heute ein weiterer Höhepunkt des Lebens bei Hofe bevor.

 

 

Mercredi de la Maitresse

 

 

Unter den 6543 Angehörigen des Hofstaats, Gesinde wie niedere Köche, Gärtner, Zugeh- und Putzmägde, Bratenwenderjungen und jederzeit ersetzbare Vorkoster nicht mitgerechnet, strebte jeder und jede immerfort nach einer besseren Position, näher beim König, höher in der Rangfolge. Nur Jeanette de Courtesoir, aus Landadel gebürtig, war mit ihrer Rolle als Hofschnalzerin seit Jahren zufrieden. 

Jeanette war ein einfältiges und unansehnliches Ding. Was ihr an Esprit und Schönheit fehlte, machte sie mit Zungenfertigkeit und Ausdauer wett. Seit Generationen dienten die Frauen ihres Geschlechts dem Geschlecht des amtierenden Monarchen. Wortwörtlich.

Jeanettes Aufgabe als Hofschnalzerin erforderte geringe Geisteskräfte, aber hohes Einfühlungsvermögen und war je nach Manneskraft des Souveräns von raffinierter Delikatesse. Jeanette lag das Blasen im Blut. Ihr Clan war aus einer Familie von geschäftstüchtigen Glasbläsern hervorgegangen, die sich einen niederen Adelstitel erkauft hatten. Ihre Eltern besaßen weit von der Hauptstadt entfernt ein karges Stück Land, dem die wenigen Bauern dort mit Mühe die eigene Existenz nebst Steuerlast abrangen.

Die Kunst des Blasens gab in Jeanettes Familie die zahnlose Muhme auf die hohlwangige Jungfrau weiter, um die Stellung des Geschlechts bei Hofe zu sichern. Genau das tat Jeanette de Courtesoir nun gerade nach dem morgendlichen Lever des Monarchen. Ihr kam die ehrenvolle Aufgabe zu, das Königliche Gemächt für den Beischlaf aufzustellen.

Dieser Berufung widmete Jeanette sich hingebungsvoll. Majestät standen entkleidet hinter einem Wandschirm, der knapp unter Bauchnabelhöhe eine kreisrunde Öffnung aufwies. Durch diese lugte, was Jeanette mit ihrer Zungenkunst zu triumphaler Stattlichkeit aufzurichten hatte. 

Majestät waren nicht mehr der Jüngste, hatten ein paar Kleinigkeiten gefrühstückt – gefüllte Wachteln, Kapaune nebst Austern – und waren eigentlich ruhebedürftig. Jedoch war heute Mercredi de La Maitresse, der Tag der wöchentlich und öffentlich zu vollziehenden Kopulation mit der Konkubine des Herrschers. Die Königliche Maitresse, Marquise Marie Susette de Lamelle, war nebenan, im Schlafgemach des Monarchen, bereits aufgebockt.

Mademoiselles Oberkörper ruhte auf einem Kissenstapel am Fußende der herrschaftlichen Schlafstatt. Rückseitig war die Maitresse bloßgelegt. Ihre Reifröcke teilten sich zu beiden Seiten ihres ausladenden, gepuderten Hinterns wie ein Theatervorhang. Es wurde noch nicht gespielt. Das Werk der Souffleuse im Nebenraum war bislang unvollendet. 

Jeanette gab wie immer ihr Bestes. Das Szepter des Herrschers honorierte ihre Bemühungen und richtete sich zögernd auf. Die Geräusche hinter dem Wandschirm deuteten auf gesteigertes königliches Wohlbefinden. Die Hofschnalzerin erlaubte sich, soweit ihre angespannte Gesichtsmuskulatur es zuließ, die Andeutung eines Lächelns. Gelernt war gelernt. Majestät waren amüsiert. Jeanette neigte nicht zum Prahlen, aber jetzt nahm sie den Mund recht voll.

Sie fühlte einen festen Griff um ihre Schulter. Der Hofkopulationskorporal, Chevalier Pierre sur Lubricant, der ihre Bemühungen genauestens überwacht und protokolliert hatte, bedeutete ihr, nunmehr vom Königlichen Gemächt abzulassen, auf dass Majestät sich nicht vorzeitig verströmten. Jeanette entließ den Herrscherstab mit Bedauern und einem satten Schmatzen aus ihren Lippen, verabschiedete sich mit einem demutsvollen Knicks und verließ das Gemach.

Als die Hofschnalzerin die Tür hinter sich geschlossen hatte, traten Majestät in all Ihrer Pracht hinter dem Wandschirm hervor. Nun war Eile geboten. Die königlichen Erektionen hatten sich in letzter Zeit als nicht zu dauerhaft erwiesen. Emsig trat der Korporal hinzu. „Majestät gestatten?“

Der König nickte huldvoll. Des Marschalls seidenbehandschuhte Hände streiften der Nationalen Erektion ein Kondom aus Schafdarm über und verschnürten es mit einem Seidenfaden über der Schwanzwurzel des Regenten. Dann setzte sich eine kleine Prozession zum Schlafgemach in Bewegung: Der König schritt mit majestätisch wippendem Szepter voran, es folgten der Korporal, der Hofmaler Caspère Davide und zwei kräftige Lakaien, die dem gekrönten Haupt mit vereinter Hilfestellung aufs Maitressenhinterteil zu helfen hatten.

Mademoiselle war angewärmt und lubriziert. Ausgewählte Würdenträger hatten rund ums Bett ihre Sitze eingenommen. Es handelte sich ausnahmslos um höchsten Adel und Klerus, der zu dieser Gelegenheit in Gegenwart des Monarchen sitzen durfte, wenn auch nur auf Tabourets, gepolsterten Hockern ohne Arm- oder Rückenlehne, die längeres Sitzen eher zur Qual denn zur Vergünstigung machten.

Aller Erfahrung nach war das Königliche Kopulationsschauspiel zum Glück ein Einakter von überschaubarer Länge. In der streitbaren Jugend des Monarchen hatte es sich durchaus anders verhalten und waren Hexenschussattacken im Publikum an der Tagesordnung gewesen.

Die Majestät stieg unter „Ahs“ und „Ohs“ der Anwesenden auf und regte sich, soweit es möglich war – die Leibesfülle des Souveräns wirkte beschränkend und verursachte klatschende Geräusche auf dem ebenfalls üppigen Hinterteil der Mademoiselle.

Die Maitresse selbst, man konnte es nicht recht deuten, klang, während sie der verhaltenen Hüft-Rhythmik ihres Herrschers entgegenstrebte, wie eine hohe, aber rostige Orgelpfeife, vielleicht auch ein wie ein kleiner Singvogel im Winter, der unter der Schneedecke ein Korn entdeckt, froh tiriliert, es hungrig schluckt, aber beinahe daran erstickt.

Der Hofmaler machte Skizzen des Geschehens. Der Rest ging schnell. Donnernder Applaus stieg auf, als Majestät zu kommen geruhten und in den Armen der Lakaien erschlafften. Mademoiselle schüttelte für das Publikum das gnädigst bediente Hinterteil – unziemliche Koketteterie, die der Hofkopulationsmarschall sofort unterband. Die Mademoiselle murrte. Offenbar hatte sie vom König mehr erwartet.

 

 

Le Maitre

 

 

In der ersten Reihe klatschte pflichtgemäß einer der wichtigsten Finanziers des Hofes, den man in der Hauptstadt nur „Le Maitre“ nannte. Über den Maitre sprach man nicht, man raunte von ihm. Sein sagenhafter Reichtum war stadtbekannt. Er lieh dem König regelmäßig Geld. Es schien unwahrscheinlich, dass sein Vermögen ausschließlich aus dem ihm zugeeigneten Königlichen Privileg für das Einsammeln und Verwerten der Fäkalien der Hauptstadt stammte. Sein Personal war unter vielen Namen bekannt. Der unflätigste davon war: die Scheißkerle.

Der Maitre war kein Einheimischer. Er hatte kurz nach der Inthronisation des Königs seinen Wohnsitz in der Stadt genommen und musste dafür beträchtliche Summen aufwenden. Er entstammte keinem alteingesessenen Geschlecht und wollte offensichtlich auch kein neues begründen. Er umgab sich lediglich mit einer Bande von abgerissenen Straßenkindern, den Scheißkerlen, die Fäkalien kübelten und denen er ein Zuhause gegeben hatte.

Nie sah man den Maitre in Begleitung einer Frau, soweit man ihn überhaupt sah. Verließ er sein Haus, um bei Hofe vorzusprechen, eilte er in einer Kutsche mit zugezogenen Vorhängen durch die Stadt, die zwei Rappen zogen – starke, feurige Pferde, denen der Atem auch im Sommer sichtbar aus den Nüstern zu entweichen schien; Rösser mit in Zweigesstärke am Nacken hervortretenden Adern, wie sie im Königreich niemand züchtete und wohl auch kaum ein einheimischer Reiter oder Kutscher jemals hätte zügeln können.

Auf dem Bock der Kutsche des Maitre hielt die Zügel stets eine Gestalt in den knöchernen Fingern, die mit weit heruntergezogener Kapuze kutschierte. Manche in der Stadt, die die Augen des Kutschers dennoch erblickten, schworen, dass sie wie glimmende Kohlen glühten. Aber die Leute reden viel, und meistens ist es Unsinn.

Man traf den Maitre nie beim Gottesdienst an. Jedoch bedachte der Kardinal ihn jedes Mal mit Dankesworten, wenn er an hohen Feiertagen die Messe zelebrierte. Der Maitre war ein edler Spender. Das Waisenhaus, das Spital, das Kloster, der Stadtbrunnen, das Rathaus – sie alle wären verfallen, hätte der Maitre ihren Erhalt nicht großzügig finanziert.

Der König war chronisch klamm. Und der Zustand seiner Hauptstadt war ihm egal. Wichtig waren nur Unterhalt und prächtige Ausschmückung seines Hofes. Wenige Kerzen wurden für den Monarchen in der Kathedrale seiner Kapitale entzündet. Viele Waisen, Kranke, Mönche, Bürger und Stadträte bezogen den Maitre hingegen in ihre Fürbitten ein.

Die Elendsquartiere wucherten. Selbst die Patrizier verarmten. Handel und Handwerk stagnierten. Die Stadt war schlecht verwaltet, das Königreich im Niedergang. Adel und Klerus war es egal, solange der König immer neue Ergötzungen für sie ersonn. Kürzlich hatte er zum zweiten Mal in diesem Jahr die Steuern erhöht – für ein mehrtägiges Feuerwerksspektakel. Chinesische Pyrotechniker waren dafür angeworben worden, dem 40. Geburtstag des Monarchen einen würdigen Rahmen zu geben. Drei Nächte lang glomm die Stadt im Feuerschein stundenlanger Raketensalven.

Die Kühe in den Höfen rundum gaben keine Milch mehr, weil der Lärm sie verschreckte. Den König rührte es nicht. Milch brauchte er im Gegensatz zu seinen Untertanen nie, nur Champagner.

Wenn der Maitre sich für einen Gang zu Hofe rüstete, warf er stets einen langen prüfenden Blick in seinen mannshohen Spiegel, eine Kostbarkeit aus Venedig, die weit und breit nur er besaß, nicht einmal der König. Der musste sich mit poliertem Metall bescheiden, um in den Wandelhallen seines Palastes und im Ankleidegemach einen verschwommenen Blick auf seine eigene, ohnehin wenig sehenswerte, schwammige Gestalt zu erhaschen.

Der Maitre blickte im Spiegel in das Gesicht eines alten Mannes; alt genug, um Vater des Königs zu sein. Sein Haaransatz wich zurück, seine Schläfen waren schon grau. Die schwarzen Augen unter buschigen Brauen waren zwingend.

Seine Haltung war immer noch kerzengerade. Der Gehstock mit dem elfenbeinernen Knauf in Gestalt einer Weltkugel diente der Unterstützung seiner Autorität, nicht seines Ganges. Der Knauf war hilfreich, um sich in den dunklen Gassen der Stadt Strauchdiebe vom Leibe zu halten. Einen Halunkenschädel konnte dieser Knauf mit einem einzigen Hieb zertrümmern.

Le Maitre hielt sich öfter in den düsteren Teilen der Stadt auf, wo der Knauf nötig sein könnte, immer auf der Suche nach neuen Untergebenen. Hungrig mussten sie sein, schmutzig und verzweifelt. Und nicht allzu alt, dann konnte man sie noch formen und biegen, ihm gefügig machen.

Bei seinen Streifzügen durch die Armutsviertel verließ der Maitre sich nicht nur auf seinen Gehstock. Roman, der Zigeuner, war mit dem Messer gewandt und wich seinem Herrn bei solchen Ausflügen nie von der Seite. Meist teilten sich die zerlumpten Massen ehrfurchtsvoll vor dem Paar. Nur ein paar auswärtige Beutelschneider versuchten bisweilen ihr erfolgloses und blutiges Glück.

Eigentlich hasste der Maitre Gewalt. Er wusste jedoch, dass sie immer mit Macht einherging. Und Macht war seine Berufung. Nie schlug er seine Zöglinge, die ihm grundsätzlich aufs Wort folgten. Es gab andere Methoden, sie zur Räson zu bringen. Erwiesen sie sich als anstellig und gelehrsam, investierte er in sie. Dem, den sie „den Hübschen“ nannten, würde er demnächst das Schreiben und Lesen beibringen lassen. Er sah Potenzial in dem Jüngling. Wofür, wusste er schon. Hatte es immer gewusst.

Der Maitre schaute während seines pflichtgemäßen Applauses nach der Königlichen Kopulation verstohlen um sich. Zu seiner Rechten saß Comte Francois de Alaba sur Mere, ein weiterer Geldgeber des Königs und offiziell dessen Lehensmann.

Dem Comte gehörten ausgedehnte Ländereien, deren Wert sich kürzlich durch Goldfunde deutlich erhöht hatte. Sein Herrschaftsgebiet gehörte nicht dem Königreich an, war diesem jedoch mit einem Freundschafts- und Beitragspakt verbunden und stellte dem König viele Söldner.

Alaba sur Mere war ein Mann, mit dem der Maitre rechnen musste. Wie ihm seine Spione zugetragen hatten, investierte der Comte seinen neuen Reichtum nahezu ausschließlich in den Aufbau einer eigenen Armee. Und das Königreich war mit der Entlohnung der Söldner in chronischem Rückstand.

Sur Mere, ein aufrecht sitzender Mann in mittleren Jahren mit scharfem Profil, aus dem eine Adlernase hervorstieß, regte wie der Maitre seine Hände nur verhalten, ein abschätziges Zucken spielte um seine Mundwinkel. Das höfische Schauspiel schien ihn abzustoßen.

Ganz anders die Nachbarin des Maitres zur Linken. Äbtissin Canard Latroisse war begeistert. So etwas wie den Mercredi de la Maitresse bekam sie in ihrem Nonnenkloster nicht zu sehen – dachte sie. Hauptsächlich deshalb, weil sie nicht wusste, was in den Klausen der Schwestern wirklich vor sich ging. Die Wangen der Äbtissin waren gerötet, ihre rechte Hand verstohlen in ihren Schoß gewandert.

Auch die Äbtissin schuldete dem Maitre Geld, viel Geld. Er beließ es dabei und drang nie auf Bezahlung. Ihm genügte es, sie in beständiger Sorge zu wissen. Angst, das wusste der Maitre, war ein verlässlicher Bundesgenosse. Angst war Macht.

Das Ergebnis des Königlichen Höhepunkts wurde zur gefälligen Einsichtnahme der ausgewählten Augenzeugen im aufgeschnürten Schafdarm herumgereicht. Wiederum erhoben sich anerkennende „Ahs“ und „Ohs“. Dem Maitre entging jedoch nicht, dass die Verhütungshilfe kaum milchig benässt war.

Der Monarch hatte die Beischlafgehilfen abgeschüttelt. Sie beeilten sich, seine erschlaffende Blöße mit einem Seidentuch zu bedecken. Majestät geruhten nun ermattet zu ruhen. Ansonsten erhob man sich. Der Hofkopulationskorporal nahm die vielbestaunte Königliche Inspiration im Schafdarm aus der letzten Zuschauerreihe entgegen und verschnürte das Kondom sorgsam. Er verschwand mit seiner kostbaren Fracht durch eine Tapetentür. Adel und Klerus wandten sich zur Rechten, wo die Flügeltüren zum Empfangssaal geöffnet waren, in dem Erfrischungen gereicht wurden. Serviert wurden heiße Milch und Kakao.

„Majestät heute wieder ganz exzellent und köstlich viril, nicht wahr?“. So wandte sich Kardinal Francois-Magot Susduperieuan den Maitre, als beide gemeinsam in den Saal eintraten. Der Kardinal war ein stadtbekannter Päderast, dem verarmte Patrizierfamilien eifrig ihre Kindlein zuführten, um ihre gesellschaftliche Stellung zu sichern. Er hielt sein Schnupftuch vor den geschminkten Mund und wedelte einen Lakaien weg, der ihm Kakao in einer dünnwandigen Porzellantasse anbot.

„Fürwahr, fürwahr“, entgegnete der Maitre anerkennend und griff dankbar nach einem Silberlöffelchen Kaviar, nicht ohne vor dem Verzehr daran zu riechen. Der Kardinal, der so ähnlich wie der Fischrogen roch, war ganz eindeutig ein sodomitischer Idiot, aber potenziell gefährlich. Wie alle, die Zugang bei Hofe und nichts anderes als die Verbesserung ihrer Stellung im Kopf hatten.

Der Maitre schützte ein menschliches Bedürfnis vor und ließ den weibischen Kardinal stehen. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und hielt Ausschau nach Marchand.

Kanzler Aristide Marchand war die wirklich bestimmende Figur bei Hofe. Auf sein Geheiß begannen Karrieren oder rollten Köpfe. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Kanzler nach eigenem Gutdünken die Staatsgeschäfte führte, während der König es vorzog, mit seinen Zinnsoldaten zu spielen.

Es war Marchand zu verdanken, dass das Königreich sich überhaupt noch gegen seine Feinde behaupten konnte. Im Westen hatte das aufstrebende Großherzogtum Laballe sich kürzlich erst ein paar kleinere umliegende Fürstentümer einverleibt. Duc de Laballe war für seinen Landhunger und für seine Folterkeller bekannt.

Der Kanzler besaß nur einen Trumpf: Artobaldo Manacardi. Der Alchimist mochte an der Aufgabe scheitern, aus Scheiße Gold zu machen, hatte aber als genialer Festungsbauer und Universalgelehrter die bedrohten Grenzen des Reichs mit einem ausgeklügelten System von Wehrtürmen, Schanzen und Garnisonen gesichert – der Manacardi-Linie. Leider erfand er auch immer wieder Wunderwaffen, deren kostspielige Prototypen zumeist nutzlos explodierten.

Auch wurde es immer schwieriger, Gehilfen für Manacardi zu finden, deren er bisweilen bedurfte. In der Stadt hatte sich herumgesprochen, dass er seine Assistenten von den Zinnen des Schlossturms völlig untaugliche Fluggeräte ausprobieren ließ. Die Ergebnisse waren als Leichen im Burggraben zu besichtigen und hatten mehrere Witwen und Dämme hinterlassen. Letztere stauten das Wasser an den falschen Stellen und stanken fürchterlich.

Manacardis Laboratorium im Südturm des Schlosses war ein ebenfalls übelriechender und auch qualmender Ort, der ständige Brandgefahr verbreitete. Dem König war das egal. Seine bescheidenen geistigen Gaben erschöpften sich seit Langem darin, von seinem Alchimisten und dessen ebenso gescheiterten Vorgängern den wunderbaren Stoffwechsel zu erwarten, für dessen Vergoldung sein eigener Stoffwechsel das Ausgangsprodukt liefern sollte.

Dies ward ihm verheißen: Gold aus dem Arsch.

Lange hatten des Königs Eltern darum gebangt, ob sie jemals mit einem Stammhalter gesegnet sein würden. Einem fremdländischen Wanderprediger und Wunderheiler war es gelungen, sich in das Vertrauen der Königinmutter und zugleich in ihr Boudoir zu schleichen. Seine Segenssprüche und Kräutertrünke kredenzte er mit dem Versprechen, das inniglich ersehnte Königskind werde einzig unter den gesalbten Häuptern dastehen, vor allem einen gesegneten Anus besitzen, aus dem das Gold nur so hervorsprudeln werde. So wie im Märchen, in dem aus dem Hinterteil des Esels die Goldstücke herauskullern. Diese Eselei verfing bei Hofe, wo jeder Paarhufer besser regiert hätte als das ausführende Personal.

Der genaue Wortlaut der Weissagung war umstritten, Fremdländer sprechen nun mal fremdländisch. Ras-Al-Putin, so der nur phonetisch festgehaltene Name des weit aus dem Osten kommenden Heilkundigen, erlangte zeit seines Lebens geringe Kenntnisse der Sprache des Königreichs. Er war darin der Mehrheit der autochthonen Bevölkerung gleich, verschaffte sich aber ungleich mehr Einfluss als sie, auch auf Hormonhaushalt und Gebärfreudigkeit der Königin. 

Der Wundertäter zog sich kurz nach Geburt des langersehnten Prinzen sowohl aus dem Vertrauen der Königin als auch aus ihrem Unterleib auf Nimmerwiedersehen zurück. Es wurde viel über einen möglichen Bastard-Prinzen gemunkelt, aber der Thronfolger wurde vom König als leibliches Kind angenommen.

Der Kern der Verheißung Ras-al-Putins über das Schicksal und die Mission dieses Kindes – darin waren und blieben die Gelehrten der eigens gegründeten Königlichen Akademie „L‘Art pour L’Anus“ zur Vertiefung der Kenntnisse um die „Exquisiten Exkremente“ sich einig, schon um ihre Dotationen zu sichern – bedeutete, dass die Fäkalien des Thronfolgers unbedingt erhaltens- und verwertungswert seien. Deshalb übertraf der Umfang des Königlichen Kotarchivs den Erfolg Manacardis bei Erfüllung seiner damit verbundenen Aufgabe bei Weitem.

Marchand sah der Narretei zu, weil er wusste, dass Manacardis Fähigkeiten als Festungsbauer eine Lebensversicherung für das Reich darstellten. Ohne Bedenken bewilligte der König jedes Jahr im Glauben an Goldberge aus Scheiße den umfangreichen Posten des Staatsbudgets, der die Überschrift „Manacardi“ trug. Tatsächlich verbarg sich dahinter der gesamte Wehretat, mit dem Marchand dafür sorgte, dass nicht nur Zinnsoldaten Rektum und Regnum seines Monarchen sicherten, sondern wenigstens ein treues Gard du Corps.

Marchand also. Ein kluger Kopf. Warum er seinem schwachsinnigen König gegenüber so loyal war, stellte für den Maitre ein Rätsel dar. Er hatte vor, es zu lösen. Der Maitre erspähte Marchand in einer Gruppe von Höflingen und gesellte sich hinzu.

„Ah, Maitre“, wandte der weit ranghöhere Kanzler sich sofort zu ihm, eine Geste des Wohlwollens. Marchand wusste sehr genau, wie viel der Staat dem Maitre, einem Mann ohne Rang und Stand, einem Fremdling zumal, schuldete. „Welche Freude! Wie befinden Sie sich?“ Der Maitre erwiderte das geschäftsmäßige Lächeln des Kanzlers mit ebenbürtiger Kälte. „Nicht allzu schlecht, mon Chancelier, nahezu vorzüglich. Et vous?“

Marchand scheuchte die Höflinge weg, trat an den Maitre heran, fasste ihn am Ellenbogen und steuerte ihn in einen ruhigeren Winkel des Empfangsaals. „Lassen wir das. Sie wissen, wie es um uns steht. Die nächste Rate braucht Aufschub.“

Der Maitre blickte in eisgraue Augen. Marchand schaffte es, sowohl ihn zwingend im Blick zu halten, als auch das Geschehen im Empfangssaal wachsam zu überblicken. Die rechte Hand des Kanzlers ruhte auf seinem Zierdolch. Der Maitre war überzeugt davon, dass dieser trotz der verharmlosenden Bezeichnung scharf geschliffen war. Wie die Zunge des Kanzlers.

„Tatsächlich“, sagte der, „brauchen wir mehr Geld. Viel mehr.“ Der Maitre machte eine unbestimmte Handbewegung. „Nun, mon Chancelier, Sie kennen mich als Freund des Hofes – doch nicht als Hofnarren.“ Le Maitre zog einen Zettel aus der Innentasche seines Mantels hervor und entfaltete ihn zu beträchtlicher Größe. Es handelte sich um eine Aufstellung der königlichen Schulden.

Marchand winkte ab und entnahm seiner blütenreinen Weste ebenfalls einen Zettel. „Ich kenne das, wir werden uns darum kümmern. Dies jedoch hat Vorrang.“ Der Maitre atmete tief ein, als er die Zahlen auf dem Papier des Kanzlers las. „Ich sehe, der König hat eine größere Anschaffung vor. Darf man fragen, worum es sich handelt?“

„Man darf. Um etwas sehr Kostspieliges: eine Frau. Die Farce des Mercredi de la Maitresse muss ein baldiges Ende finden. Das Reich braucht eine Landesmutter, vor allem aber einen Thronfolger. Majestät werden heiraten, und zwar klug. Sie muss aus dem richtigen Hause stammen. Aus einem Geschlecht, mit dem wir ein starkes Bündnis eingehen können, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Darf ich auf Sie als Patrioten zählen?“

„Mon Chancelier, der Farcen und der Zettel sind viele. Wie könnte ich ein Patriot sein, da doch fremd in diesem Land – nur von Ihrer Gastfreundschaft abhängig?“

„Verstehe. Sie wollen Bürgerstatus. Was sonst? Einen Titel? Ein Landgut?“

Der Maitre schätzte Menschen, die ohne Umschweife zur Sache kamen und ihm seine zur Neige gehende Lebenszeit nicht raubten. Er deutete eine Verbeugung an. „Nur eine kleine Gunst, mon Chancelier. Akzeptiert einen meiner Zöglinge bei Hofe.“

Die rechte Kanzleraugenbraue zog sich nach oben. „Das lässt sich sicherlich machen. Kommen Sie, mein Freund, lassen Sie uns das Nähere besprechen.“ Vor beiden öffnete sich eine Tapetentür, durch die sie vorgeblich angeregt über Nichtigkeiten plaudernd schritten. Der Maitre streichelte dabei die elfenbeinerne Kugel auf seinem Gehstock.

Im Geheimraum hinter der Tapetentür lud Kanzler Marchand den Maitre auf ein Chaiselongue, wählte für sich selbst einen wesentlich unbequemeren Holzstuhl, auf dessen Sitzkante er sich vorbeugte, während sein Gast den Raum musterte. „Seien Sie unbesorgt, wir sind allein, geschätzter Maitre, oder darf ich sagen – ja, was dürfte ich denn eigentlich sagen? Seit so vielen Jahren sind Sie hier eine Stütze der Gesellschaft, doch Ihren Namen kennt niemand.“ Ein lauernder Unterton hatte sich in die Artigkeiten des Kanzlers geschlichen.

„Werter Kanzler, ich trug in meinem Leben schon viele Namen, keiner wurde mir gerecht. Belassen wir es doch bei Le Chancelier und Le Maitre, das sagt genug.“

„Wie Sie wünschen. Um auf die Natur der derzeit drängenden Staatsgeschäfte zurückzukommen…“

„Diese Natur, mon cher Chancelier, ist immer dieselbe. Es gibt den Staat, und es gibt Geschäfte. Man darf sich glücklich schätzen, wenn beides miteinander in Einklang zu bringen ist.“

Marchand runzelte die Augenbrauen. „Fürwahr, fürwahr. Darf ich fragen, ob Sie Ihre Geschäfte in der von mir angedeuteten Weise an das Wohl des Staates anzupassen gedenken?“

„Gewiss.“

„Das heißt?“

„Sie dürfen fragen.“

„Maitre, ich bitte Sie. Was ist Ihr Preis?“

„Er läuft, wenn er sich meinen Anweisungen gemäß verhält, woran ich keinen Zweifel habe, gerade durch die Unterstadt und sammelt Scheiße und Pisse.“

 

 

 

2. Kapitel

 

 

In der Gosse

 

 

Ich habe keinen Namen, ich habe keine Eltern. Soweit ich es beurteilen kann, wurde ich wahrscheinlich in einem Pisspott geboren. Dies ist mein Broterwerb: Ich laufe durch die Gassen und sammle Scheiße und Pisse. Der Maitre hat mir diese Arbeit geschenkt. Ich bin froh, dass ich sie habe. Ich bin froh, dass es den Maitre gibt.

Der Maitre hat mich unter einer Brücke aufgelesen, wie er sagt, als ausgesetzten Säugling. Seitdem gibt er mir Brot. Er gibt uns allen Brot: Jean, Philippe, der dürren Antoinette und Roman, dem Zigeuner, der sich stolz selbst Zigeuner nennt. Abends bekommen wir Brühe, sonntags mit einem Stück Fleisch.

Le Maitre kümmert sich um uns. Wir schlafen in seinem Keller, es gibt dort Strohsäcke und einen Ofen. Der Maitre achtet darauf, dass wir uns waschen, wenn wir von unseren Touren kommen. Er hat uns das Beten beigebracht. Er sagt, es gibt für jeden einen Platz auf Erden. Wenn wir fleißig arbeiten, wird vielleicht noch was aus uns.

Sie nennen mich „den Hübschen“. Antoinette macht mir gerne schöne Augen, aber sie ist mir zu dünn. Letztes Jahr war ich zum ersten Mal bei den Mademoiselles von Madame d‘Izere. Der Maitre sagte, ich sei jetzt ein Mann und müsse das mal ausprobieren. Er hat dafür bezahlt. Es war schön. Im Salon von Madame d‘Izere gab es danach Kuchen, den hatte ich noch nie gegessen. Kuchen schmeckt besser als Brot, aber macht nicht so satt. Man will immer mehr davon.

Ich laufe durch die Ruelle des Forgerons und begutachte die Nachttöpfe, die vor den Türen stehen. Früher haben die Leute ihre Pisspötte aus dem Fenster auf die Straße geleert, das hat auch manchen Edlen getroffen, der mit seiner Equipage durch die Stadt unterwegs war. Der König hat das Ausschütten der Nachttöpfe in die Gosse verboten. Der Maitre hat die Lizenz dafür, Pisse und Scheiße einsammeln zu lassen. Wir sind die Mannschaft, die das erledigt. Le Maitre verkehrt bei Hofe. Er ist ein angesehener Mann. Und reich. Er macht aus Scheiße Gold.

Die Arbeit ist nicht leicht. Man muss aufpassen. Pisse gehört in das Fass auf meinem Karren. Scheiße sammle ich in einem großen Zinkbottich mit einem schweren Deckel. Man muss beides säuberlich scheiden. Und natürlich immer mit Handschuhen arbeiten. Der Maitre hat uns auch eingeschärft, uns nach der Arbeit gut zu waschen.

Der Gestank stört mich nicht. Das ist komisch, denn mein eigener Kot riecht gar nicht. Kein bisschen, egal was ich esse. Pinkeln tue ich viel, immer dieselbe Farbe, ein Strahl mit der Farbe von Bernstein. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben krank gewesen zu sein.

Den Urin liefern wir den Gerbern unten am Fluss. Den Kot bringen wir vor die Stadtmauer, zum Champ de la Merde. Dort muss er lagern, bis er als Dünger brauchbar ist. Man nennt uns bei vielen Namen. Einer davon ist: „die Goldgräber“.

„Hey, Hübscher!“. Ich blicke auf. Aus dem Fenster im Obergeschoss des Hauses des Schmieds Gramasse grinst mir die schielende Babette zu, seine Tochter. Sie hat ein Gesicht voller Pockennarben, und man weiß nie, ob sie einen anschaut oder an einem vorbei. Aber sie hat die größten Titten in der Stadt. Die hat sie jetzt aufs Fensterbrett gewuchtet, ich kann ihr Gesicht darüber kaum sehen. Sie trägt kein Mieder, und unter ihrer dünnen Bluse zeichnen sich die Brustwarzen deutlich ab.

„Hey, Babette“, rufe ich zurück, winke mit einer Hand, greife mit der anderen einen Nachttopf und rieche daran. „Was gab es gestern Abend zu essen? Kohl?“ Sie lacht, lässt einen krachenden Furz fahren und schließt das Fenster.

Es ist ganz früh am Morgen, die Gassen sind noch ruhig. Wir machen unsere erste Runde, wenn die Leute sich nach dem Schlafen entleert haben. Roman pfeift. Das heißt, ich soll mich beeilen. Er steht vorne an der Ecke und winkt mir auffordernd zu. Der Zigeuner begleitet mich zu meinem Schutz und rührt ansonsten keinen Finger. Niemals würde er meine Tätigkeiten verrichten, sie würden ihn nach den Sitten seines Volkes unrein machen. Vorne sehe ich Roman schon um die Ecke biegen und mir zuwinken.

Der Zigeuner ist ein komischer Vogel: Augen wie Kohlen, gebückte, aber sprungbereite Haltung; bunte Hemden, Pluderhosen, immer barfuß, auch im Winter. Der Maitre hatte ihn bei sich, als er in die Stadt kam.

Niemand weiß, woher der Maitre kam, und er redet nie darüber. Eines Tages, so sagt man, war er plötzlich da, mietete ein unauffälliges Haus und ließ schwere Truhen von seiner Kutsche abladen. Die waren wohl aus einem dunklen Holz gemacht, das es hierzulande nicht gibt. 

Roman ist etwas älter als wir und spielt sich gerne als die „rechte Hand“ des Maitre auf. Dabei muss er genauso kuschen wie wir alle. Le Maitre duldet keinen Widerspruch. Wer sich nicht an die Regeln hält, fliegt sofort. Die Regeln sind einfach: morgens, mittags, abends beten. Um fünf Uhr aufstehen, um neun Uhr zu Bett. Zwei Mal pro Tag Exkremente sammeln. Äußerste Reinlichkeit. Keine Extratouren.

Etliche sind schon rausgeflogen, weil sie auf dem Markt einen Apfel mitgehen ließen oder der Versuchung einer pflückreif baumelnden Taschenuhr nicht widerstehen konnten. Der Maitre setzt Verbrecher vor die Tür. Und lässt sie nie wieder ein.

Ich muss mich sputen. Noch drei Hausnummern, noch acht Nachttöpfe. Die Schmiedegasse ist immer noch menschenleer. So mag ich die Stadt am liebsten: ohne ihre aufgeblasenen Bürger, die uns für den letzten Dreck halten, aber ohne unsere Dienste in ihrem eigenen ersticken würden.

Ich glaube, ich stamme nicht aus dieser Stadt. Ich fühle mich hier nicht zu Hause. „Wahrscheinlich bist du ein verzauberter Prinz von hinter den Großen Bergen“, zieht die dürre Antoinette mich auf, wenn ich davon anfange. Also halte ich mein Maul. Das habe ich beim Maitre gut gelernt, das Maulhalten.

Wir müssen mit unseren Karren zum Stadttor und hinaus zum Champ de Merde. Eine verschlafene Wache dreht uns den Rücken zu, als wir das Tor passieren. Draußen müssen wir ein Stück den Handelsweg entlang, bevor wir zum Scheißeacker abbiegen können.

Roman, der mich den Karren alleine ziehen lässt, deutet mit dem Kinn nach vorne. „Schau mal da!“. Eine Staubwolke nähert sich der Stadt. Mindestens ein Dutzend Reiter unterwegs. „Müssen vornehme Leute sein“, sagt Roman. „Ich kann drei Kutschen sehen.“ Der Kerl hat Augen wie ein Luchs. Ich sehe nichts als aufgewirbelten Staub, so sehr ich die Augen auch zusammenkneife.

Doch dann höre ich Hufgeklapper und Rufe. In der Staubwolke kann ich jetzt Standarten und Fahnen ausmachen. Eine Reitergruppe setzt sich vom Pulk ab. Sie geben ihren Pferden mitleidlos die Sporen und preschen auf uns zu. Es sind drei, vorneweg ein Hüne in silberner Rüstung, das muss der Anführer sein. Er reitet uns beinahe über den Haufen.

„Platz da, Gesindel“, schreit der Kerl und tritt nach uns. Roman stürzt gegen mich, ich taumele gegen den Karren, der Karren kippt um. Pisse und Scheiße ergießen sich über den Handelsweg. Ein ganzer Morgen Arbeit umsonst.

Das Pferd des Silbernen tänzelt und bläht die Nüstern. Er hält eine Bullenpeitsche in der Hand, schwingt sie über unseren Köpfen. Die beiden Kumpane des Hünen schlagen mit den Breitseiten ihrer Schwerter nach uns. Wir hopsen zwischen den Pferden umher wie Knallfrösche, versuchen Peitsche, Klingen und Hufen auszuweichen.

Vergeblich. Ein Schwert erwischt Roman am Kopf. Er fällt mitten in die vergossene Scheiße und schreit wie am Spieß – nicht aus Schreck, sondern aus Scham. Für den Zigeuner ist der Kontakt mit den Exkrementen noch viel unangenehmer als für unsereinen, er macht ihn nicht nur schmutzig, sondern unrein – eine große Schande.

Die Ritter grölen. Der Hüne hält sein Pferd vor mir an, drückt mir den Knauf seiner Peitsche auf die Kehle und brüllt: „Räum deinen stinkenden Kumpel und den anderen Unrat weg, Missgeburt! Und ein bisschen dalli!“

Das Schwein hat sein Visier hochgeklappt, ich schaue mir die Visage dahinter genau an. Feiste Wangen, ein Schnurrbärtchen wie zwei Schnürsenkel, giftig-grüne Augen, eine vom Wein gerötete Nase. Dieses Gesicht merke ich mir. Ich ziehe meine Jacke aus und wische damit notdürftig den Weg frei. Roman schleppt sich stöhnend an den Straßenrand.

Die Vorhut prescht weiter Richtung Stadt. Jetzt passiert uns der Tross: sechs weitere Reiter in Rüstung vorneweg, dahinter drei Kutschen. Die ersten drei Ritter tragen verschiedene Standarten: eine mit drei Lilien, eine mit einer Sonne, eine mit zwei Drachen.

Aus den Fenstern der vorbeifahrenden Kutschen, auf deren Türen sich die Wappen wiederholen, schauen mich gepuderte Damengesichter an. Die Dämchen, ganz junge Dinger mit Schönheitsflecken und Turmfrisuren, fächeln sich Luft zu und halten Riechsalzfläschchen unter ihre Nasen.

Drei Reiter schließen den Zug ab. Einer tritt nach mir. Ich stolpere und falle auf Roman. Er stinkt und stöhnt entsetzlich. Ich schaue mir seine Platzwunde auf der Stirn an. Viel Blut, aber nichts Ernstes, hoffe ich. Ich habe nichts Sauberes mehr, um das Blut abzuwischen. Roman ist ohnmächtig. Ich berge seinen Kopf in meinem Schoß und schaue der Reisegesellschaft nach. Zwei stechende grüne Augen haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingeprägt.

 

 

Erstes Zwischenspiel: Die Braune Hand erhebt sich

 

 

Der König muss weg. Das war der Kernpunkt des Manifests des Geheimbunds Braune Hand. Es war ein übersichtliches Programm, denn es enthielt nur diesen einen Punkt. Der Geheimbund war außerdem so extrem geheim, dass seine Existenz nur einem seiner Mitglieder bekannt war, dem bislang einzigen.

Princep Siklovicgrub seine unvollständigen Schneidezähne tief in seine rissige Unterlippe, auf der noch etwas Kautabak nacharomatisierte, während er den Satz „Der König muss weg“ unter äußerster sprachlicher wie körperlicher Anstrengung zu Papier brachte.

Die Anfänge des Geheimbunds des Aufrührers waren wie alle Wiegen großer Heilsversprechen bescheiden, so armselig wie seine Behausung und seine Bildung. Erstere machte mit einer windschiefen Kate vor der Stadt nahe den Rieselfeldern, die mit einem wackelnden Schemel, einem Brett auf Ziegelsteinen als Tisch und einem Strohsack als Bett möbliert war, deutlich mehr her als Letztere. 

Nach Aufdeckung der an diesem Abend im Schein einer Tranfunzel entstandenen Verschwörung rätselten Schriftsachverständige lange über den originalen Wortlaut des Manifests. Man einigte sich auf „Dr Knög mss wech“ und destillierte daraus den aufrüttelnden Befreiungsschrei „Der König muss weg!“, den Siklovic gerade zu Papier gebracht zu haben glaubte, unerschrocken, ungewaschen und unerhört – noch.

Siklovic brauchte Mitverschwörer weniger dringend als eine Bombe. Eine Bombe musste sein, das war klar. Wer hätte schon einmal von einem Attentat ohne Bombe gehört? Genau genommen hatte noch nie jemand unter den duldsamen Untertanen des Königreichs im Niedergang, seit Jahrhunderten von einer ungebrochenen Abfolge unfähigster Herrscher inzestuösen Geblüts regiert, jemals etwas von einem Attentat oder Plänen dazu gehört, obwohl es genug Gründe dafür gegeben hätte. Bislang gab es nur Eisbomben. Aber  nicht als Instrument zur Befreiung der Massen, sondern als exklusiven Gaumenkitzel bei Hofe.

Das mit der Bombe würde sich finden. Man könnte zunächst über  Mitverschwörer nachdenken. Princep Siklovic beugte sich tief über ein zweites Stück Papier, auf dem er folgende Gründungsmitglieder seines tödlichen Geheimbunds vorsah:

Alle seine Brüder und Vettern, nur nicht Andros, der hatte ihm mal eine Ziege gestohlen. Dann noch Babette, die Tochter des Schmieds, denn die hatte die größten Titten der Stadt. Princep legte Wert auf angemessene Repräsentanz des weiblichen Bevölkerungsteils in der Befreiungsbewegung.

Wer kam noch in Frage? Und wo sollte die verdammte Bombe herkommen? Ohne Bombe keine Revolution. Eine Guillotine wäre auch schön. Danach vielleicht Weltherrschaft.

Princep kaute nachdenklich und irgendwie auch selig am hinteren Ende seines Bleistiftstummels. Wahrscheinlich war Finanzierungshilfe aus dem Ausland nötig. Ein neuer Bleistift auch. Princep stieß ein wenig Graphit auf.

Da es zum Schreiben nun eh zu spät war, löschte Princep die Lampe und legte sich auf seinen Strohsack. Er erwog kurz einen Gang zum nahegelegenen Weiher, um sich zu waschen, zog es dann aber wie jeden Abend vor, sich vom Gestank seiner Ziegen vor der Haustür nicht abzuheben – aus Tarnungsgründen.

Princep war ein durchtriebener Verschwörer, mit allen Wassern nicht gewaschen. Man würde noch von ihm hören. Und riechen.

 

 

 

Die Tür zur Welt der Wunder

 

 

Roman geht es nicht gut. Wir haben es zurück nach Hause geschafft, der Maitre ist nicht da. Er ist „bei Hofe“. Wie das klingt. Ob der Silberschurke mit den giftgrünen Augen da auch rumhängt? Der Roman so in die Scheiße geritten hat? Romans Platzwunde am Kopf ist eigentlich nicht so schlimm, aber sie wird sich entzünden, weil er kopfüber in den Kot gefallen ist. Es gibt einfach zu viel Scheiße in der Welt.

Es dauert nicht lange, bis Roman fiebert, Roman redet. Vom Durchgang in das Reich der Seelen. Von Lajavo, Schande. Vom Zigeunergericht, dem Kris. All dies ergibt wenig Sinn, aber macht mir viel Angst. Ich halte Roman fest. Antoinette sagt, er ist hinüber. Wo ist der Maitre? Der Maitre könnte bestimmt helfen. Aber er ist nicht da.

Ich muss was tun. Ich gehe in die Rue du Pharmacien. Die Apotheke ist ein Ort, an dem ich zuvor nur einmal war, in Begleitung des Maitres, der sich damals nicht wohl fühlte. Wenn man vor der Tür der Apotheke steht, muss man an einer Glocke ziehen.

Eine Luke öffnet sich in der schweren Eichentür. „Sieh an, sieh an“, sagt der Apotheker und blickt über ein Nasengestänge auf mich, das zwei Lupen hält. „Was braucht der Maitre heute? Mehr Entwurmungsmittel für seine räudigen Welpen?“

Ich balle meine Fäuste, aber ich tue es hinter dem Rücken, während ich mich verneige. Als ich mich wieder aufrichte, warnt irgendetwas in meinem Blick den Apotheker. „Der junge Herr wünschen?“, fragt er und greift an den Fensterladen, bereit, ihn sofort zuzuwerfen.

„Roman hat Fieber“, stoße ich hervor.

„Wie hoch ist das Fieber?“.

„Tödlich, sagt Antoinette.“

„Ah, Frau Doktor Antoinette, die Koryphäe, naturellement. Es gibt außerhalb des Schlosses keine Ärzte, schon gar keine weiblichen, und solche wird es gottlob auch nie und nirgends geben.“

Alle in der Stadt gehen zum Apotheker, wenn sie etwas zwickt und drückt und peinigt. Er ist Bader, Chirurg, Dentist, Wundheiler, Hebamme in einer Person. Oben auf dem Schloss gibt es ein Dutzend echte Ärzte. Sie sind ausschließlich für den König und seinen privaten Hofstaat zuständig und lassen sich in der Stadt nie blicken.

„Roman stirbt“, beharre ich. „Bitte, Euer Gnaden, er braucht Eure Hilfe!“

Der Apotheker schaut mir zweifelnd, aber nicht unfreundlich in die Augen. „Nun ja, das wird sich weisen. Und wäre es so, wird es Gottes Wille sein, si Dieu le veut. Der junge Herr möge mir folgen.“ Die Tür mit der Luke, an der der Apotheker Kundenwünsche abhandelt, Bestellungen annimmt, Pülverchen und Tinkturen ausreicht, schwingt nach innen. Zum ersten Mal sehe ich, was sich hinter ihr verbirgt: eine Welt voller Wunder.

Ich trete in einen Raum, der vom Fußboden bis zur Decke mit Regalen und Kabinetten gefüllt ist, alle aus demselben Holz, Kirsche, glaube ich. Große und kleine Schubladen tragen Emailleplaketten mit Aufschriften. Ich kann sie nicht entziffern, denn ich kann nicht lesen. Porzellangefäße in allen möglichen Größen stehen auf den Regalen, auch Flaschen mit klaren und trüben Flüssigkeiten. In manchen schwimmt etwas und sieht nicht gut aus.

Aus der Mitte der Wunderkammer wächst ein massiver Marmorblock aus dem schwarz-weiß gequaderten Fliesenboden. Auf dem Block kann ich Messer, Zangen, Mörser, große Löffel und Schalen erkennen sowie andere geheimnisvolle Geräte, die ich noch nie gesehen habe. Über dem Block hängt eine Waage mit zwei Messingschalen von der Decke.

Und da schwebt noch etwas an Ketten von den Deckenbalken, quer durch den Raum: ein riesiges Tier, wohl vier Meter lang, grün-grau geschuppt, mit klauenbewehrten Füßen und einem aufgesperrten Maul, in dem nadelspitze Zähne stecken. Es ist ganz grauenhaft. Ein Drache, ganz gewiss ein Drache!

„Du kannst den Mund wieder zumachen, mein Junge“, sagt der Apotheker belustigt und schließt die Tür hinter mir. Ich wende mich ihm zu. Er ist ein dünner Mann mit bleicher Knitterhaut wie Pergament und trägt eine Lederkappe mit Ohrenklappen, unter denen graues Haar hervorlugt. Er trägt eine Schürze vor dem Wams und Schnabelschuhe mit Spangen, silbernen Spangen, ordentlich geputzt.

Ich deute zur Decke. „Das, das“, stammele ich, „das ist ein…“ „Ein Krokodil, ja“, schneidet der Apotheker mir das Wort ab und legt mir eine Hand auf meine zuckende Schulter. „Keine Angst, es kann dir nichts mehr tun. Es ist schon lange tot und kommt von weit, weit her. Wo die Sonne immer scheint.“

Wo die Sonne immer scheint! „Wie weit?“, frage ich und habe schon fast vergessen, warum ich gekommen bin. „Weiter als bis zum Bois de Laballe?“. „Viel weiter“, sagt der Apotheker, „weit im Osten, wo viele meiner Ingredienzen herkommen. Unter anderem das hier.“ Er geht zum Marmorblock und löffelt etwas aus einer der Schüsseln in eine Papiertüte. „Du hast Glück, ich habe gerade eine Chinin-Mixtur bereitet.“

Er faltet das Papiertütchen sorgsam zu, legt es ab und greift zu einem weiteren, das er mit Kräutern aus einer der Waagschalen füllt. „Hier, nimm das auch. Das ist ein Tee aus Weidenrinde, Mädesüß, Holunder- und Lindenblüte. Den gießt ihr auf und gebt ihn Roman zu trinken, zwei Mal am Tag. Er wird dann noch mehr schwitzen, aber das ist gut. Das weiße Pülverchen in der anderen Tüte löst ihr in Wein oder Bier auf, nehmt um Gotteswillen nicht das Wasser aus unseren Brunnen. Gebt es ihm einmal am Tag zu trinken, dann wird das Fieber sinken. Und du kannst noch etwas für deinen Roman tun.“

„Was?“, frage ich und muss wieder nach dem Krokodings an der Decke schielen.

„Beten“, sagt der Apotheker, kichert und schiebt mich sanft zur Tür. „Richte dem Maitre aus, dass ich die Rechnung wie üblich ausstelle“, trägt er mir auf, als ich schon auf der Türschwelle stehe. „Wie üblich?“. „Ja. Normaler Preis. Aber er verdoppelt sich, falls der Patient die Behandlung überlebt.“ Hinter der wieder verschlossenen Eichentür höre ich den Apotheker erneut kichern. Ich presse die Papiertütchen an mich und renne nach Hause.

 

 

 

3. Kapitel

 

 

Zweites Zwischenspiel: Die Braune Hand ballt sich zur Faust

 

 

Die Gelegenheit war günstig. Princep Siklovic musste nur abwarten, bis der kleine zerlumpte Scheiße-Knecht um die Ecke gebogen war, dann war der Weg zur Weltbefreiungsbombe frei. Dem Ziegenhirten sagten Begriffe wie Salpeter, Schwefel und Schwarzpulver wenig, aber er wusste, wo es mitten in der Stadt bisweilen zischte, krachte und qualmte: beim Apotheker.

Siklovic hatte eine recht vage Vorstellung davon, was ein Apotheker wohl sein könnte: belesen vielleicht, reich sicherlich, wehrhaft wohl eher nicht. Siklovic trug einen dicken Knüppel im Gewand, der würde wahrscheinlich reichen. Nur reinkommen musste man erst einmal in dieses Apo-Dingsbums.

Der Widerstandskämpfer klopfte an die Eichentür, nachdem „der Hübsche“ mit seinen Papiertütchen verschwunden war. Siklovic hatte dessen Gespräch mit dem Apotheker belauschen können, in einem nahen Hauseingang verborgen. Der Apotheker, das war klar, verwahrte viele Dinge aus dem Osten. Aus dem Osten, auch das stand fest, kam die Weltrevolution. Siklovic hatte vor, sich einige Scheiben davon abzuschneiden.

Also vielleicht doch lieber das Messer, nicht der Knüppel. Siklovic hatte ein schönes Messer. Er hielt es stets scharf, weshalb es sich von seinem Verstand unterschied. Er zog es aus der Lederscheide, die er mit der Hanfkordel verknotet hatte, die sein Beinkleid um die Hüften hielt. Seitdem er Anführer der Volksbefreiungsbewegung war, nannte er das Messer im Geiste die „Klinge der Menge“.

Mit der anderen Hand benutzte Sicovic den Knüppel, um seinem Einlasswunsch klopfend Nachdruck zu verleihen, dabei sorgfältig um sich blickend. Die Gasse war leer. Hinter der schweren Eichentür der Apotheke war ein Scharren zu hören. Auch ein Schleifen und Wuchten. Die Luke in der Tür schwang auf.

Siklovic blickte in einen schwarzen Trichter, den der Apotheker in die Sichtöffnung geschoben hatte. Aus dem – aber das konnte Siklovic bekanntlich nicht identifizieren – roch es nach Salpeter, Schwefel und Schwarzpulver. Es roch für ihn jedenfalls irgendwie, als ob er nicht willkommen wäre.

Zu Recht. Die glorreiche Geschichte des Weltbefreiungsprojekts Siklovic hätte hier ihr jähes Ende finden können. Der Apotheker, der durch einen Türspion seitlich der Luke, welcher dem Ziegenhirten entgangen war, dessen feindliche Absichten hatte verfolgen können, wollte sich nicht mit langen Diskussionen aufhalten und drückte sofort ab. Zu einer Fehlzündung, die sich rückwärtig gegen ihren Urheber richtete. Siklovic bekam nur ein paar Schmauchspuren ab.

Und so fielen durch eine dem Aufrührer und Volksbefreier geneigte Wendung des Schicksals Apotheker samt Eichentür und eröffnete sich der Zugang zu einem Waffenarsenal für die Weltrevolution. Gott, so viel war spätestens jetzt klar, stand auf der Seite der Proletarier.

 

 

Feuer und Flamme für den Maitre

 

 

Wir essen gleich, Roman nicht. Er kann noch keine Nahrung zu sich nehmen, aber er wird durchkommen, dem Apotheker sei Dank!

Wir sitzen am Tisch, Romans Platz neben mir ist leer. Dennoch steht dort seine Schüssel, vor der ein Stück Brot liegt. Die anderen am Tisch behalten es hungrig im Auge.

Wir müssen warten. Der Maitre hat seinen Platz am Kopf der Tafel noch nicht eingenommen. Wir hören seine Kutsche vorfahren. Gleich wird gebetet werden. Wir stehen schon mal auf.

Die Gebetsformel ist immer gleich. Le Maitre spricht sie vor, wir müssen nur andachtsvoll nicken und die letzten Sätze wiederholen: „Unwert stehen wir vor dir, oh Herr, erflehen deine Gunst. Segne, was du uns heute gegeben hast, auch wenn wir es nicht verdient haben. Prüfe uns und lass uns nicht fehlen, in Demut und Ehrlichkeit und Reinheit. Amen.“

„Amen“, sagen wir. Wir haben es schon Tausende Male getan. Man kann uns nachts wecken, und wir werden es hersagen. Wir würden das gerade jetzt sehr gerne tun, denn unsere Bäuche sind leer und knurren. Wir ersehnen die Tritte des Maitre auf den Stiegen zum Keller. Sie kommen. Die Tür geht auf.

Le Maitre ist guter Dinge. Eigentlich bedeutet das nichts, denn selbst wenn er übler Laune ist – und das kommt vor! –, schlägt er uns nicht. Antoinette springt hinzu und nimmt ihm seinen Mantel ab. Ein schöner, pelziger, dichter, warmer Mantel ist das, man möchte drin wohnen.

Hier im Keller zieht es immer, man weiß nicht woher, denn ein Kellerfenster gibt es nicht. Auf dem Tisch stehen Kerzen. Sie flackern. Nach dem Abendessen werden sie gelöscht, denn dann ist Schlafenszeit. Bevor wir uns niederlegen, müssen wir kleine Birkenzweige über und zwischen unsere Zähne ziehen. Wozu das gut ist, weiß keiner, doch der Maitre schreibt es vor.

Er lächelt Antoinette zu, lehnt seinen Gehstock an den Tisch, den Stock mit diesem perfekt weißen Knauf mit Mustern, die ich gerne mal näher betrachten würde. Aber das kommt natürlich nicht in Frage. Le Maitre setzt sich. Wir falten die Hände und erwarten sein Gebet. Da geschieht etwas Unerhörtes. „Meine Kinder“, sagt der Maitre, „Heute ist ein besonderer Tag. In der Brühe wird Fleisch liegen, obwohl es nicht Sonntag ist.“

Der dürren Antoinette läuft ein Speichelrinnsal aus dem Mundwinkel; ich kann das gut sehen, denn sie steht mir genau gegenüber. Komisch ist das, wie ein Mensch immer nur ans Fressen denken und trotzdem so dünn bleiben kann.

Bis auf den Maitre stehen wir immer noch, wissen nicht, was zu tun wäre. Die Magd trägt die Suppenschüssel herein, es riecht darin ganz herrlich nach Fett und Lorbeer und Pfeffer und Lauch. In der Schüssel schwimmen Gaben, die der Herr uns sonst nur sonntags gewährt, und heute dennoch ganz besonders viele davon. Ist es Pferd oder Hammel? Es duftet jedenfalls köstlich. Wir scharren mit den Füßen.

„Meine Kinder“, wiederholt der Maitre und faltet die Hände. Für einen so edlen Herrn sind das ganz schön abgearbeitete Hände, fleckig, rissig, mit zerfurchten Fingern. Früher mussten sie wohl kräftig zugreifen. Vielleicht nach einem Stück Brot. Womöglich um eine Kehle.

Die Hände des Maitre, der so gut zu mir ist, bedeuten für mich: Ich sollte sie küssen. Er sagt: „Heute wünsche ich, dass jemand aus eurer Schar dem Herrn für unsere Gaben dankt, bevor wir sie empfangen.“ Sofort senken alle den Blick in die leeren Schüsseln vor ihnen. „Hübscher“, spricht mein Maitre und lächelt mich an. „Wärst du so freundlich?“.

In meinem Kopf rasen die Gedanken wie der Hunger in meinem Bauch. Ich fasse mir ein zägliches Herz. „Herr“, beginne ich ganz schmal, „Sei uns gnädig. Wir stehen vor dir, doch sollten knien.“ Le Maitre nickt, das macht mir Mut. Ich bete weiter, nun mit festerer Stimme. „Gib und vergib uns. Lass Roman bitte gesund werden. Danke für das Fleisch. Danke für den Maitre.“ Mehr fällt mir nicht ein. Doch! „Amen.“

Der Maitre breitet die Arme aus und bedeutet uns zu sitzen. Wir essen schweigend. Er nicht, vor ihm steht keine Schüssel. Als wir fertig sind, erbitten wir Dispens. Der Maitre gewährt allen aufzustehen und sich fürs Nachtlager vorzubereiten, doch weist mit dem Zeigefinger auf mich.

„Du, mein Sohn, folgst mir nach oben.“ Mein Sohn! In die Gemächer des Maitre! Hat man so was schon mal gehört? Die dürre Antoinette verschlingt mich mit ihren Blicken, während sie ihre Decke über sich wirft. Ihre Füße lugen darunter hervor, und sie spaltet die Schenkel, drückt mit den Händen unter ihrem Schoß eine Mulde in die Decke. Sie zwinkert mir zu.

Ich stolpere dem Maitre hinterher, nach oben. Er nimmt die Stiegen behände, ohne seinen Gehstock einsetzen zu müssen. Aber er schnauft dabei ein wenig.

Das Haus hat zwei Stockwerke und den Keller. Wir betreten es nie durch die Eingangstür für Herrschaften, sondern stets von hinten, durch den Dienstboteneingang, von dem die Stiegen hinunter zum Keller führen.

Ich stehe zum ersten Mal im Salon, wo der Maitre sonst nur seinesgleichen empfängt. Er hat sich ans Fenster gesetzt, in einen Ohrensessel, vor dem ein Schemel steht. Auf den darf ich mich hocken. Die Magd bringt Kakao. Kakao! Davon habe ich schon gehört, aber ihn noch nie gekostet. Er ist dick und braun und süß. Man will immer mehr davon, wie das mit Kuchen ja auch so ist. Und mit den Damen im Haus der Madame d’Izere.

Mir wird die ganze Sache unheimlich. Der Maitre schweigt und mustert mich. Ich bemühe mich, den köstlichen Kakao nicht hinunterzustürzen, stattdessen in vornehmen kleinen Schlucken zu genießen. Ich umklammere die zierliche Tasse - sie hat blaue Muster; wenn man sie betrachtet, kann man Windmühlen und Kühe erkennen – und habe große Angst, sie durch eine Unachtsamkeit zu zerbrechen.

Wir schweigen. Das dauert eine Weile. Eine lange Weile.

Le Maitre mustert mich. Er betrachtet mich wie einen präparierten Falter auf einer Nadelspitze, den er hin und her dreht und nicht genau weiß, wo er ihn seiner Sammlung einordnen soll.

Draußen lärmt die Stadt. Erst übertönt das Rollen von Bierfässern alles, sie werden für die Taverne gegenüber geliefert. Das dauert, dann: Ein Passant speit auf das Trottoir vorm Haus und entfernt sich röchelnd. Ein Vogel singt, ich weiß nicht welcher. Noch jemand läuft vor dem Haus vorbei und zieht dabei einen Fuß nach. 

Im Salon bleibt es still. Der Maitre beugt sich vor, langt in seine Weste und bringt eine Pfeife zum Vorschein. Ich sehe das nur aus den Augenwinkeln, denn ich schaue auf seine Schuhspitzen. Schöne, schwarze Schuhe trägt der Maitre, ganz aus Leder. Ich könnte wetten, sie sind gefüttert.

„Nun ja, das kommt dir alles seltsam vor“, sagt er jetzt, lehnt sich wieder zurück und greift nach dem Tabaksbeutel auf dem Tischchen neben ihm. „Stopf mir bitte die Pfeife, mein Sohn.“ Ich stelle die Kakao-Tasse auf dem Tischchen ab, nehme Beutel und Pfeife entgegen.

„Schon mal geraucht?“, fragt er. Ich schüttele den Kopf.

Der Maitre nickt und begutachtet meinen Stopfversuch, den ich ihm gereicht habe. „Nun brauchen wir Feuer, nicht wahr?“. Ich nicke, aber weiß nicht, was ich tun soll.

„Feuer“, wiederholt Le Maitre. „Wir werden bald viel Feuer brauchen. Feuer für die ganze Stadt.“ Er hält mir die Pfeife auffordernd vor die Nase. „Hast du Feuer für mich, mein Junge? Genug Feuer für die Stadt? Genug Feuer in dir?“.

Er macht mir Angst, das weiß er auch. Es ist ein Test. Hinter seinem Sessel brennt im Kamin Feuer, aber ich sehe keinen Span, den ich hineinhalten könnte. Ich stehe auf und nehme einen ganzen lodernden Holzscheit in die Hand. Ich umklammere ihn hinten, wo er noch nicht brennt, aber verdammt heiß ist, halte ihn an die Pfeife und stöhne: „Ist das genug Feuer, Maitre?“

Der Maitre pafft seelenruhig die Pfeife in Brand, während die Haut auf meiner Hand schon Blasen schlägt und herabstürzende Funken Löcher in den teuren Teppich brennen.

„Für den Anfang wird das reichen. Nun wirf den Scheit schon wieder zurück in den Kamin, bevor du das Haus in Brand setzt.“

Ich tue wie mir geheißen, der Maitre greift wieder in seine Weste und reicht mir ein seidenes Taschentuch. Er schellt nach der Magd, sie bringt eine Schüssel mit Eiswasser, in der ich meine geschundene Hand kühlen kann.

Le Maitre raucht. Er sagt: „Du bist dankbar und loyal. Du bringst Opfer. Du hast Potenzial. Das wusste ich immer. Ich habe einen Auftrag für dich.“



4. Kapitel

 

 

Sandkastenspiele

 

 

Kanzler Marchand sah sorgenvoll zu, wie sein König in einem großen Sandkasten mit Zinnsoldaten spielte. Die waren kostengünstiger zu erwerben als Söldner; ein stehendes Heer gab es bis auf das Gards du Corps nicht. Jenes war eine vielköpfige reine Leibwache, eine Abschreckung vor ausgemachten militärischen Invasionen stellte es nicht dar. Die Manacardi-Linie bemannten ausländische Söldner, deren Loyalität und Kampfesmut direkt von ihrer Entlohnung abhingen.

„Sire, wir sollten die allgemeine Wehrpflicht einführen“, sagte der Kanzler. „Und mit Verlaub – Ihr solltet die Wahl einer Gemahlin nicht allzu lange hinauszögern. Der Duc de Laballe könnte eine längere Bedenkzeit Eurerseits bezüglich der Anziehungskraft seiner Tochter als Affront auffassen.“

Der König schnippte zwei Bataillone feindlicher Zinnkameraden im Sandkasten um und besetzte deren verwaiste Schanzen mit den eigenen Leuten, die er dafür per Handgriff aus ihren rückwärtigen Stellungen hob. Im wirklichen Leben waren Luftlandetruppen indes noch nicht erfunden worden.

„Hm“, sagte Le Roi und richtete mit vorschnellendem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand ein zusätzliches Massaker unter der gegnerischen Kavallerie an, die reihenweise in den Sand fiel. „Was haltet Ihr von der kleinen Laballe? Hübsche Äpfelchen im Korb, das schon, aber ich weiß nicht…“

„Sire“, hob der Kanzler wiederum an. „Ich weise Majestät darauf hin, dass Mademoiselle de Laballe nicht nur geballte Vorzüge im Mieder vorzuweisen hat, sondern auch die geballte Faust ihres Vaters hinter ihr droht. Ich erlaube mir außerdem die Bemerkung, dass Dero Gnaden bis auf das Gards du Corps als Königliche Leibwache derzeit auf keinerlei verlässliche Truppen zurückgreifen können, da die Zahlung des Solds aussteht. Ich habe diesbezüglich bereits Gespräche mit unserem Hauptfinancier geführt. Er hält mich hin.“

Der König brummte und brachte ein kleines Meisterwerk in Stellung: eine Tischkanone. Entzündete man ihre Lunte, wie er es nun tat, spie sie erst Goldregen übers Schlachtfeld – ein ganz großartiges Spektakel! – gab dann einen lauten Knall und ließ ein Fähnchen aus ihrem Lauf sprießen, das auf den Königlichen Farben die Aufschrift trug: „Victoire!“

„Sire“, versuchte Aristide Marchand es zum nächsten Mal, „Ich fürchte, dass wir realiter auf kaum zwei Dutzend Kanonen zurückgreifen können, während man munkelt, dass der Duc de Laballe über deren 200 gebietet, gleichfalls 6000 Pikenträger mit sechs Meter langen Lanzen, 4000 Infanteristen mit Arkebusen sowie eine Reiterei, die ebenfalls in die Tausende geht – ausnehmlich geübte tatarische Bogenschützen auf arabischen Hengsten. Man sagt, sie könnten in jeder Stellung aus dem Sattel schießen und in ihm gleichzeitig ihre Kinder zeugen.“

„Dann haben sie bewegliche Weiber“, sagte der König anerkennend und gönnte seinem Kanzler erstmals einen Blick. „Was ist mit Alaba sur Mere? Trägt Unser Geheimdienst Uns nicht seit Langem zu, dass er sich eine große Armee hält? Sollte er sie nicht in den Dienst des Reiches stellen?“

Der Kanzler rang die Hände. „Das Reich steht beim Comte bereits mit einer exorbitanten Summe für Söldner in der Kreide. Ich fürchte, er wird auf Bezahlung bestehen, bevor er seiner Lehenspflicht nachkommt.“

„Es ist höchst bedauerlich, dass der Patriotismus in diesem Reich vom schnöden Gewinnstreben korrumpiert ist“, seufzte der König. „Es wird Zeit, dass Manacardi endlich Gold liefert. Er hat ohnehin über den Zustand der Befestigungsanlagen Rapport zu erstatten. Man schicke nach ihm!“

„Sehr wohl“, entgegnete der Kanzler, zog sich kratzfußend zurück und bekreuzigte sich, sowie die Tür zu den Königlichen Gemächern hinter ihm geschlossen war. Er trat nach einem Lakaien, der nicht schnell genug die Türklinke losgelassen hatte, und schrie aus Leibeskräften: „Manacardi! Man bringe ihn! Sofort! Und mir ein Riechfläschchen!“

 

 

Eine geheimnisvolle Schöne und eine Wunderwaffe

 

 

Manacardi war nicht auf Anhieb aufzutreiben, seine Studierkammer bis auf einige leere Weinflaschen verwaist. Ein schwindelfreier Lakai fand ihn schließlich in erbärmlichem Zustand in seinem Observatorium vor, einer waghalsig auf die höchste Turmzinne gezimmerten Bretterbude, aus deren größter Scharte ein Teleskop in den Himmel lugte. Der Alchimist und Hofastrologe hatte sich nächtens der Sternenschau gewidmet, um das weitere Gedeihen der Königlichen Schicksalsläufe vorhersagen zu können.

Bis um vier Uhr morgens, die beste Zeit zum Erfinden und Nachschenken, hatte Manacardi zuvor an einem gepanzerten Kampfwagen mit Kanone getüftelt, der Kavallerie in Zukunft völlig überflüssig machen sollte und sowohl gegen Volksaufstände wie Feinde von außen nützlich sein konnte.

Der Festungsbauer und Kriegsingenieur hatte lange inmitten von Modellen dieser Wunderwaffe und bizarrer Fluggeräte an seinem Kartentisch gesessen, über ein Perpetuum Mobile als Antriebskraft für den Kampfwagen sinnierend. Seine Feder war auf dem Pergament über Skizzen von Zahnrädern, Deichseln, Gewinden und Gelenken gekratzt. Sie sahen auf den ersten Blick überzeugend aus, ergaben aber im praktischen Zusammenspiel nicht den geringsten Nutzen.

Manacardi war noch nicht zu betrunken gewesen, um dies zu erkennen. Unwirsch lüpfte er den Deckel der Schatulle, die auf seinem Tisch stand. Sie enthielt die jüngste Probe des Königlichen Kots, den er zu analysieren und zu transformieren hatte. In reines Gold, wie es seine Hauptaufgabe war. „Scheiße“, sagte das Genie und ließ den Deckel fallen. „Kommt morgen ins Archiv.“

In seinem Herzen, im tiefsten Inneren seiner empfindsamen Seele, war Manacardi eigentlich ein Künstler, kein Kriegsknecht. Er warf einen wunden Blick auf die Staffelei am Fenster, auf der sein Meisterwerk prangte, das Porträt einer Schönen mit geheimnisvollem Lächeln und Silberblick. Es handelte sich um eine der Mademoiselles aus dem anrüchigen Haus der Madame d‘Izere, das der rüstige Gelehrte unten in der Stadt (sehr weit unten in der Stadt) gerne aufsuchte.

Der König hatte es abgelehnt, das Gemälde in seine Privatgalerie aufzunehmen. „Nutten kommen mir nicht ins Haus“, hatte er Manacardi bei einer Audienz am Mercredi de La Maitresse beschieden, „jedenfalls nicht so hässliche.“ Eines Tages, das wusste Manacardi, würde die Nachwelt darüber rätseln, auf welche Inspiration dieses, sein Meisterwerk zurückzuführen wäre, ob es die geheimnisvolle Schöne jemals gegeben hätte.

Das Genie kratzte sich im Schritt. Das Weinglas war schon wieder leer. Manacardi dachte an daheim. Ah, daheim! Wo die Sonne verlässlich die grünen Hügel beschien, auf denen die Reben pralle Früchte trugen! Wo geschickte Hände zur rechten Zeit die Beeren pflückten, kräftige Füße mit zierlichen Fesseln sie danach in Bottiche traten, aus denen sich ein blutroter Strom ergoss, den nur seine Landsleute zur Vollkommenheit zu keltern wussten!

Manacardi warf das Weinglas an die Wand. Dort trockneten mehrere Flecken, die von vielen vorangegangenen Abenden in derselben Stimmung rührten. Wie er den Norden hasste! Den essigsauren Wein! Den ständigen Nebel!

Der Gelehrte war einer der wenigen Ausländer, die im Königreich geduldet wurden. Neben ihm gab es nur noch den Maitre, der als Auswärtiger wohlgelitten, weil einträglich war. Durchreisende sah man hierzulande gern, aber nach einigen Tagen am liebsten nur noch von hinten, nachdem sie Handelswaren gebracht, ihre Zeche bezahlt und ihren Samen bei den Mademoiselles der Madame d‘Izere hinterlassen hatten. Mehr ethnische Durchmischung war nicht erwünscht.

Manacardi kannte seinen Wert für das Königreich. Die Manacardi-Linie an der Grenze zu den wachsenden Ländereien des stets angriffsbereiten Duc de Laballe war unüberwindlich, und das war sein, des Festungsbauers, Kriegsingenieurs und Universalgelehrten Werk. Ein im Grunde unbezahlbares Verdienst.

Nur mit dem angeblich verheißungsvollen Kot des Königs wollte es nicht so recht vorangehen. Das war ein großes und sich stetig aufhäufendes Problem. Nach allen sorgsam protokollierten Destillationen und Feuerproben blieb nur eine Schlussfolgerung: Es handelte sich bei den Hinterlassenschaften des Erlauchten schlicht um Scheiße, weiter nichts.

Scheiße, Scheiße, Scheiße, dachte Manacardi. Vielleicht wussten die Sterne Rat. Also hatte er sich, in einer Hand die letzte Flasche des guten Rotwein-Vorrats aus der Heimat, auf die Leiter zum Observatorium geschwungen, sein halsbrecherisches Manöver zwar erfolgreich abschließend, dann aber der Schwere der eigenen Gedanken und des Weines erliegend. Der Lakai bekam ihn kaum wach.

„Euer Gnaden, Seine Majestät verlangen nach Euch!“

Als Manacardi unsicheren Schritts an den Sandkasten seines Arbeitgebers trat, versuchte er den König sofort von den Vorzügen eines von Raupenketten vorwärtsgetriebenen Kampfwagens mit Kanone zu überzeugen, der auch schwieriges Terrain überwinden konnte. Kanzler Marchand unterband diese Phantastereien sofort.

„Verehrter Dottore, wir wünschen andere, drängendere Themen mit Euch zu besprechen. Wie steht es um die Kot-Analyse? Ihr habt kürzlich erst“ – Marchand zog einen der zahlreichen Zettel aus der Tasche, die er jederzeit unfehlbar zur Untermauerung seiner Ausführungen zu zücken wusste – „Mal sehen – ah ja, 25 zusätzliche Louisdors erhalten, die Ihr für Laborgerät veranschlagt habt. Welche Erkenntnisse hat diese Anschaffung über die ohne Zweifel exquisiten Ausscheidungen unserer Majestät ergeben?“

Der König ließ die Spielzeugkanone, die Ladehemmung hatte, sinken, ballerte stattdessen eine Hinternladung seines gesalbten Anus in den ohnehin schlecht belüfteten Raum und nickte beifällig.

Marchand rang nach Luft, Manacardi bekreuzigte sich. Die 25 Goldstücke hatte er für den Destillationsapparat gebraucht, aus dem er aus den minderwertigen einheimischen Weintrauben dieser Barbaren halbwegs brauchbaren Grappa herzustellen gedachte. Aber das war natürlich nicht die passende Antwort.

Die Zahnrädchen im Gehirn des Genies ratterten, wie es für seine so zahlreichen Erfindungen auf dem Papier auch vorgesehen war. Manacardi nahm dem König die Spielzeugkanone aus der Hand. Er hob sie Marchand entgegen.

„Dies“, sagte er, „ist die Vergangenheit. Viel Rauch und Lärm um nichts. Viertelpfünder, Kartätschenladungen – alles vergangenes Jahrhundert. Wir“ - das Genie fasste nun den König fest ins Auge – „wir, Majestät, erobern das nächste Jahrtausend!“.

Ein guter Anfang. Der König fing Feuer. Das lag aber auch daran, dass die Lunte der Spielzeugkanone, die in seiner Hand verblieben war, immer noch glomm.

„Autsch!“

„Genau, Majestät! Ich hätte es nicht besser sagen können. Schmerzen werden Euren Weg pflastern. Die Schmerzen Eurer Feinde. Ich bin bereit. Seid Ihr es auch? Seht dieses Modell meines Kampfwagens und bereitet Euch auf die Weltherrschaft vor!“.

Manacardi holte eine flache Schachtel aus den Untiefen seiner Tunika und öffnete sie. Auf ihrem Boden lag das Modell eines kleinen Wägelchens aus Balsa-Holz, vor das zwei inzwischen verendete Kakerlaken gespannt waren.

Marchand seufzte. „Dottore, mit Verlaub. Wenn Ihr mir kurz folgen wollt.“ Der Kanzler wandte sich entschuldigend an den König, dessen Einverständnis einholend, und zog Manacardi in eine Ecke des Raumes, während Majestät die Schachtel hin und her schüttelte, offenbar in der Hoffnung, er könne die Zugtiere seiner neuen Wunderwaffe damit ins Leben zurückholen.

Der Griff des Kanzlers um den Tunikaärmel des Gelehrten wurde zu einer stählernen Klaue, sowie Marchand sich vergewissert hatte, dass der König anderweitig beschäftigt war.

„Dottore“, zischte Marchand, nachdem er Manacardi zur Seite und außer Hörweite gezogen hatte, „Ihr seid so gut wie nutzlos, und Ihr wisst es. Ihr solltet nicht versuchen, daraus noch größeren Vorteil zu ziehen. Eure Befestigungsanlagen werden bald überholt sein, denn wir können sie nicht mehr bemannen, solange der Sold dafür fehlt. Die Hoffnung auf einen Geldsegen aus dem hochherrschaftlichen Hinterteil unseres Monarchen wisst Ihr zwar ständig aufrechtzuerhalten, aber mir und Euch, sofern Ihr noch bei Verstand seid, was ich bisweilen bezweifele, sollte klar sein: Diese Hoffnung ist für den Arsch. Glaubt nicht, dass ich Eurem Treiben noch viel länger zusehen werde. Die Zeiten sind ernst. Unsere Probleme verlangen nicht nach Losung, sondern nach Lösung.“

„Cazzo!“

„Was?“ Marchand verstärkte seinen Schraubstockgriff, während Manacardi wimmerte. „Ich stimme zu, sono d‘accordo“, beeilte das Genie sich zu sagen. „Was also schlagt Ihr vor, Cancelliere?“.

„Ich schlage nicht vor, ich befehle Euch: Überzeugt Majestät als deren Sterndeuter davon, dass die Gestirne nicht nur günstig stehen, sondern geradezu verlangen, dass der König sich vermählt. Und wenn Euch Euer Kopf lieb ist, dann sorgt dafür, dass unser Souverän weiß: Dafür gibt es nur ein verheißungsvolles Sternbild.“

„Virgo?“

„Scheißegal. Sie heißt Claudine de Laballe. Merkt Euch den Namen. Ich habe bereits entsprechende Arrangements getroffen. Natürlich wahren wir die Form, es wird andere Aspirantinnen geben. Sie alle sind bereits eingetroffen, morgen ist Brautschau. Die Wahl des Königs darf aber nur auf diese eine treffen. Das Firmament hat sie ihm vorausbestimmt. Haben wir uns verstanden?“

„Naturalmente.“

„Noch etwas, Dottore: Ihr werdet einen neuen Assistenten bekommen.“

 

 

Bruderliebe

 

 

Claudine de Laballe war empört. Diese Hinterwäldler! Diese schmutzige Stadt! Dieses erbärmliche Schloss! Am schlimmsten aber: dieser schwachsinnige König!

Noch war sie ihm zwar nicht von Angesicht zu Angesicht begegnet. Aber sie hatte die übelsten Befürchtungen. Wie’s Gescherr, so der Herr! Und sie konnte nur sagen, dass sämtliche Untertanen dieses Königs, denen sie bisher begegnet war, mehr als degoutant waren.

Diese beiden Kackbrüder auf dem Weg zum Stadttor zum Beispiel - schmutzig, stinkend, ein Sinnbild des ganzen verrotteten Nachbarkönigreichs! Damit war es ja schon losgegangen. Auch ansonsten: Müll und Dreck, wohin man sah.

Wenn Claudine aus ihrem Zimmer auf den Schlosshof hinunterschaute, vergewaltigte ihr Schönheitsempfinden ein riesiger Haufen Taubendreck auf einem Sockel, aus dem ein halb fertiger Pferdeleib ragte. Dieser Kack-König ließ offenbar ein Denkmal aus Scheiße modellieren.

Die einzige Tochter des Duc de Laballe fand die wildesten Gerüchte bestätigt, die über ihren Gastgeber in Umlauf waren. Er sollte von seinen eigenen Exkrementen besessen sein, sie für eine Gabe Gottes, je nach Verstopfungs- oder Durchfallsgrad für den Stein der Weisen oder Gelee Royal halten.

Claudine schüttelte sich. Sie wandte sich vom tristen Blick aus dem Fenster ihres Gästezimmers ab, hielt ihr Riechfläschchen unter die zierliche Nase voller Pockennarben und musterte das ihr zugewiesene Gemach. Erbärmlich.

Das finstere Loch konnte ihren Reisekoffern und Hutschachteln kaum Raum bieten. Es gab keinerlei Perückenablagen, nur eine windschiefe   Kommode. Auf der stand eine Porzellanschüssel, neben der ein Krug mit Wasser und ein weißes Stück irgendwas; Zucker war es nicht, es schmeckte ganz widerlich, wenn man reinbiss, und schillernde Blasen stiegen einem aus dem Mund. Unerhört! Ein Giftanschlag?

Wasser! Der Affront, der Gedanke allein! Claudine pflegte nur Wein zu trinken. Sie seufzte, zerdrückte mit den Fingerspitzen eine Laus, die aus ihrer gepuderten Perücke den Abstieg zur Schläfe gewagt hatte, und schaute sich den ganzen übrigen Schlamassel an. Ach herrje, das Bett! Für eine Adlige ihrer Anmut und Zartheit viel zu hart; nur drei Matratzen und zwei Unterbetten, drei Oberdecken und fünf Kissen! Fünf! Wollte man sie hier wie eine Magd behandeln?

Ach, leider wusste sie ja, welches Schicksal ihr Vater ihr an diesem Hofe vorherbestimmt hatte.

„So, jetzt mal Fresse halten, Süße, und fang nicht gleich wieder an zu heulen“, begann das Gespräch, nach dessen Ende Papa sie mitsamt ihrem ritterlichen Bruder und Gefolge an diesen rückständigen Hof entsandt hatte. „Du hast jetzt genug mechanische Nachtigallen, kastrierte Mohren, Hofzwerge, kandierte Datteln und Zuckerwatte verbraucht. Du bist 16 Jahre alt, meine einzige Tochter und vielleicht noch fünf Jahre lang ansehnlich genug, dass man dich jemandem andrehen kann. Du bist doch wohl noch Jungfrau? Sonst gnade dir Gott! Also: Wir werden dich vermählen. Es gibt gerade Bedarf, in der Nachbarschaft. Pack deine Plünnen und lass dich von deinem Bruder eskortieren, als Beweis unserer Wehrhaftigkeit, damit klar ist, was passiert, wenn du nicht geheiratet wirst. Aussteuer, Erbfolge, das ganze Pipapo, wird dann schon geklärt werden. Dein zukünftiger Gemahl ist ein Schwachsinniger, dessen ebenso debilen Hofschranzen seine Kacke als Gottesgabe verehren. Sein Königreich werden wir uns ausnahmsweise mal ohne Blutvergießen einverleiben – das ist deine Aufgabe. Dein Bruder wird den Rest erledigen.“

Ihr Bruder, der Ritter in silberner Rüstung. Er war fünf Jahre älter als sie und übertraf den Vater an Grausamkeit, Verschlagenheit und Missgunst. Ihre Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit mit ihrem Bruder waren – schmerzhaft. 

Claudine weinte in ihrem Gemach im fremden Land. Ihr Bruder klopfte, wartete ihren Zuruf aber nicht ab und trat sofort ein.

„Henri!“

„Claudine!“

Er war wie immer in Rüstung, in der er wahrscheinlich auch schlief, trug den Helm immerhin unter dem Arm und durchbohrte sie mit seinen giftgrünen Augen.

„Ich finde dich nicht vorbereitet“, kam er sofort zur Sache.

„Mon frère…“, begann sie.

„Ach, lass den Scheiß“, versetzte er ärgerlich, warf den Helm auf ihr Bett und streckte ihr den eisenbewehrten Zeigefinger entgegen. „Du hattest genug Zeit, dich frisch zu machen. Verführerisch auszusehen. Ich sehe nichts dergleichen. Du bist eine verflennte kleine Ratte mit blassen Wangen, die werde ich dir gleich massieren.“

Er zog vorher immerhin den Eisenhandschuh aus. Sie duckte sich, was nicht viel nutzte, um seinen Schlägen auszuweichen.

„Hör auf zu heulen, sage ich. Und pack deine Äpfel in den Korb!“

Äpfel? Korb? Sie verstand nicht, aber traute sich nicht, es einzugestehen, auf dass er sie nicht wieder schlüge. Stattdessen wischte sie sich einen dünnen Blutstrom aus dem Mundwinkel.

Henri griff ihr grob an die Brüste. „Das hier, blöde Pute! Das muss so weit wie möglich bloßgelegt und präsentiert werden! So dass es gerade noch schicklich ist, aber Appetit macht!“

Er grinste sie an. „Brautschau in zehn Minuten. Im Audienzsaal. Du wirst dich unserer Familie würdig erweisen.“

 

 

Brautschau

 

 

Der Audienzsaal war für einen Staatsakt dekoriert. Die königlichen Farben – Kackbraun und Pissgelb – schmückten ihn auf Standarten, Girlanden, Bordüren. Der zurzeit noch verwaiste königliche Thron, ein Traum aus verschlissenem Samt und durchgesessenen Sprungfedern, war illuminiert.

Eine geniale Konstruktion Manacardis aus polierten metallischen Reflektionsflächen (die revolutionäre Einführung von venezianischen Glasspiegeln bei Hofe hob der Gelehrte sich für einen passenden Zeitpunkt auf) lenkte gebündeltes Kerzenlicht aus einem Nebenraum auf die Sitzfläche. Und damit auf den Schritt des Souveräns, wie klar wurde, als Majestät schließlich huldvoll Platz nahm und die Anwesenden seiner Blicke würdigte.

Was der König sah, gefiel ihm nicht. Im Audienzsaal drängelten sich die üblichen Hofschranzen und Würdenträger. In der ersten Reihe standen vor ihm drei Eheangebote, umgeben von ihren Hofdamen und Bannerträgern. Der König kannte die Wappen nur allzu gut: die zwei Drachen des gefährlichen Laballe. Die drei Sumpflilien des tributpflichtigen Choque entre Deux Mères(dessen zwei kümmerliche Gewässer eigentlich nur stinkende Tümpel waren), die lachhaft unangebrachte Sonne des düsteren Hieremont im unwirtlichen Norden, wo kaum ein Lichtstrahl hindrang.

Der Gedanke an diese Herrscher war für den König schlimm genug. Noch beunruhigender aber war der Anblick ihrer Töchter.

Mademoiselle Fleuribal d’entre Deux Mèresbefand sich zwar im besten heiratsfähigen Alter, der König schätzte sie auf allerhöchstens elf. Ihr Gesicht jedoch war eine teigige Fläche mit wenigen Anhaltspunkten. Zwei kleine Schweinsäuglein lugten über einer knopfigen Nase hervor, das Mädchen hatte Hängebacken. Immerhin: Ihre Zähne schienen komplett zu sein.

Unter dem Gebirge ihres frühzeitig entfalteten Busens erweiterte die Statur der Mademoiselle sich vom vermuteten Bauchnabel abwärts zu einer Hüfte, von der man nur gnädigerweise annehmen konnte, dass der Reifrock ihren Umfang überzeichnete. Das ganze Fleischmassiv setzte sich zu stämmigen Beinen fort, die das Vorbild für manche Pfahlbauten im sumpfigen Heimatland der Prinzessin abgegeben haben mochten. Die Mademoiselle schwitzte außerordentlich, bewegte mit den plumpen Fingern ihrer linken Hand fortgesetzt einen Fächer und hielt in der Rechten einen Lutscher, an dem sie begierig schleckte.

Nun ja. Charlotte sur Hieremont aus dem hohen Nordenwar der Gegenentwurf. Von außerordentlich vornehmer Blässe, das wohl – und angesichts des Klimats ihrer Heimat kein Wunder. Aber so spillerig, dass man sich einen Splitter an ihr einreißen würde; und nahezu biblisch alt – 21.

Ihr fettiges schwarzes Haar, durch keinerlei Friseurkunst auftürmbar, hing zu beiden Seiten ihrer spitzen Schultern strähnig herunter. Ihr Decolleté glich einer Steppenlandschaft. Ihre Hände und Finger waren so schmal und dünn, dass sie die feinen langen Seidenhandschuhe, die sie trug, in der Ellenbeuge schnüren musste, sonst wären sie ihr abgefallen.

Der König begriff die Brautschau als die Farce, die sie war. Angesichts des bedrohlichen Machtzuwachses des Herzogtums Laballe, das auf einen Königstitel schielte, war Claudine de Laballe die einzig logische Wahl. Und die vom Königlichen Sterndeuter eindeutig vorherbestimmte.

Es traf sich gut, dass die Laballe-Tochter auch die einzige halbwegs ansprechende Kandidatin war. Die beiden Mitbewerberinnen waren aus reiner Etikette eingeladen worden, um den kleineren Nachbarn nicht das Gefühl zu geben, gänzlich bedeutungslos zu sein.

Der König hatte vorab Porträts der drei Fräuleins gesehen, von den Hofmalern der beteiligten Reiche natürlich geschönt. Claudine de Laballe hatte ihm am besten gefallen, und so war es auch jetzt. Natürlich konnte er Claudine nicht in Herz sehen (er wäre über die Finsternis darin erschrocken gewesen). Der äußere Anschein des Dämchens war aber ansprechend.

Gut, die Pockennarben – das war mit einer Tinktur Manacardis vielleicht noch besser wegzuschminken. Aber die Äpfelchen im Korb, so appetitlich präsentiert, die stolze, aufrechte Haltung, der gerade, durchgebogene Rücken! Doch…

…der Standartenträger der jungen Laballe gab Le Roi zu denken. Diese stechenden, giftgrünen Augen, der Ruf, der dem Ritter in silberner Rüstung voraneilte!

Henri de Laballe war der einzige Sohn des Herzogs Laballe. Mehr noch als sein despotischer Vater war er bei den eigenen Untertanen gefürchtet wie der Leibhaftige. Er führte nicht nur die Leibgarde des Herzogs, sondern war auch oberster Steuereintreiber.

Die Steuerlast im Herzogtum der Laballes war enorm. Sie umfasste Abgaben auf die Größe der Fenster eines Hauses ebenso wie auf die Zahl der Kinder (je weniger, desto mehr Steuern, denn der Herzog brauchte Soldaten) und den Leibesumfang (halbjährliche Bauchmessungen der männlichen Untertanen gaben Aufschluss darüber, wie viel sie sich selbst einverleibt und ihrem Souverän vorenthalten hatten).

Die Folge war eine Bevölkerung aus gertenschlanken Großfamilien, die sich in fensterlosen Verschlägen drängelten, in ständiger Angst vor den Akzisebeamten, die unablässig schnüffelnd durchs Land streiften, denn natürlich war auch eine Kaffeesteuer zu bezahlen.

Henri de Laballe ließ es sich nicht nehmen, regelmäßig selbst seine Schnüffler anzuführen und Häuser, Güter und Höfe persönlich zu inspizieren. Groß war seine Enttäuschung, wenn er keine Übertretungen feststellen konnte, diabolisch seine Freude, wenn ein Steuerhinterzieher ertappt und seiner gerechten Strafe zuzuführen war. Zu diesem Zweck trug Laballe stets eine Bullenpeitsche mit sich. 

Auch jetzt baumelte sie von seiner Hüfte. Der König musterte de Laballe näher, schaute dann aber lieber wieder weg. Die rechte Hand des Hünen, im Eisenhandschuh, ruhte auf dem Schwertknauf. Ein mächtiges Schwert war das, schenkellang. Der ganze Kerl mochte um die 2,10 Meter messen. Das Auffälligste an ihm war seine silberne Rüstung. Sie trug als feinziselierte Ornamente Totenköpfe.

Der König bedeutete den drei Ehe-Aspirantinnen, sich aus ihrem Hofknicks zu erheben, dabei sagte er: „Die, äh, Anmut und hochrangige Stellung der hier versammelten Damen wie auch Respekt und Sittsamkeit verbieten es, so viel Schönheit und edles Geblüt nicht länger im Staube verharren zu lassen.“

Ein Raunen ging durch den versammelten Hofstaat. So einen langen und durchformulierten Satz hatte man im Audienzsaal schon lange nicht mehr gehört, das letzte Mal anlässlich der Enthauptung von Eduard dem Geschwätzigen, der vor seinem Kopf mal wieder viel zu viele Worte verlor.

Auch der König verlor etwas: den in seiner Handfläche verborgenen Sprechzettel, von dem er abgelesen hatte. Das Papier segelte in grausamer Langsamkeit vor seinen rechten Fuß, den er hastig darauf stellte.

„Nun.“ Hilfesuchender Blick zu Zeremonienmeister Aristide de Petète  zur Linken. Dieser trat einen Schritt vor und stieß seinen Zeremonienstab aufs löchrige Parkett. Holz splitterte. Souverän übersah der Zeremonienmeisterdie neue Lücke im Bodenbelag und sagte feierlich: „Majestät geruhen nun die Proben der Fertigkeiten der Mademoiselles entgegenzunehmen.“ Gleichzeitig überreichte de Petète dem König einen goldenen Apfel.

Le Roi starrte auf die künstliche Frucht. „Wo haben wir plötzlich so viel Gold her?“, fragte er entgeistert. „Leihgabe des Maitre“, flüsterte Petète ihm ins Ohr. „Für das Urteil des Paris.“ „Urteil? Paris?“ Der Souverän war unvorbereitet. Und dies nicht Troja. Oder doch?

Die fette Fleuribal durfte als erste Aspirantin vortreten. Wiederum deutete sie einen Knicks an, der sie beinahe aus dem Gleichgewicht brachte. Dann begann sie… Laute von sich zu geben, so viel ist verbürgt.

Über den Ursprung und die gewollte Bedeutung der Darbietung ist man sich im Königreich bis heute nicht im Klaren. Die einen sagen, Fleuribal wollte singen. Die anderen halten einen plötzlichen, durch die Aufregung verursachten Reflux für wahrscheinlicher, der heiß in ihrer Kehle aufstieg und sich Gehör verschaffte.

Einzelne Sentenzen waren verständlich. „Nun bin ich hier… öööhmm, verschreib‘ mich dir, tiriiiiliii, gehör‘ hierher, ich bitte sehr, knuffpuffhöhöhö…“ Die Jungfrau klang wie ein getretener Blasebalg.

Dann barst ihr Mieder.

Höflinge sprangen hinzu und verdeckten die beträchtliche Blöße der beleibten Mademoiselle mit ihren eilig ausgezogenen Westen und Jacken. Tränen, Abgang in die zweite Reihe, Tuscheln, Kopfschütteln.

Die bohnenstangige, dünngliedrige Charlotte aus dem Norden trat nun nach vorn. Ihr gewähltes Metier war das Ballett. Grausames Spiel vieler Kinder im Königreich war es, langbeinigen Weberknechten ein bis zwei ihrer Spinnen-Extremitäten auszureißen, um dann begeistert zu verfolgen, wie die Tiere in einen schwankend getakteten Seemannsgang gerieten. Das gewünschte und beim Kinderspiel vielbeklatschte Ergebnis sah ähnlich aus wie das Vortanzen der Prinzessin. 

Im Audienzsaal herrschte Erstaunen. Vor allem aber Stille. Keine Hand rührte sich zu Applaus. Charlotte, die in einem bemerkenswert abgeknickten Spagat zu Boden gegangen war, sortierte ihre Gliedmaßen so sorgsam wieder in eine aufrechte Haltung zurück, wie man die Gelenkstangen eines Zelts nach Bedarf ausrichten würde.

Die schmalbrüstige Mademoiselle war bei der Wiederherstellung ihrer aufrechten Hungerödem-Anatomie ohne Zweifel einzigartig. Das fiel sogar dem König auf, dem gewohnheitsmäßig viel entging.

Und nun: Auftritt Claudine. Sie trat nach einem scheuen Seitenblick auf ihren Bruder vor. Henri de Laballe streichelte seine Bullenpeitsche und nickte der Schwester aufmunternd zu. Diese nestelte ein gefaltetes seidenes Taschentuch aus ihrem Ausschnitt, das bestickt war. Offenbar wollte sie es dem König als Probe ihrer handarbeitlichen Fertigkeiten überreichen.

Le Roi nahm das Seidentuch huldvoll entgegen und entfaltete es. Dabei entfiel ihm der güldene Apfel und rollte vor die Füße der einzig aussichtsreichen Bewerberin. Sie nahm die Frucht sofort auf und presste sie an ihren Busen, offenbar entschlossen, sie nie wieder herzugeben.

Der König starrte auf das Taschentuch. Es war in der Tat verziert, aber nicht mit Blümlein, Vögelchen oder anderem Firlefanz. Vielmehr stand auf dem Stück Stoff in Feinstich:

„Sire! Wählt meine Tochter oder den Krieg. In Vorfreude, Duc de Laballe“.

Der König zwinkerte.

In diesem Moment explodierte die Bombe.  

 

Fortsetzung folgt im Juni