Im Zweifel für den Angeblökten

Man kann Schafe kommen riechen.

Ich wusste das nicht, und die Zwangsläufigkeit dieses Phänomens ist jedem keinerlei Erwähnung wert, der mit ihnen in Nasennähe aufwuchs (Ziegen sind noch viel schlimmer, wie mir inzwischen auch bekannt ist).

Aber ich wurde in Berlin-Wilmersdorf groß, als dieser Teil der Großstadt schon längst kein Dorf mehr wahr. Meine Berührungsflächen mit Schafen beschränkten sich dort im Wesentlichen auf das Brettspiel „Siedler von Catan“, und dabei waren sie für mich oft schmerzhaft absent, sei es für den gewünschten Kauf einer Entwicklungskarte (Basisspiel) oder den Erwerb eines Ritters (Städte-und Ritter-Erweiterung).

Schafe also. Wie komme ich darauf? Ach so: Gestern trieb der Schäfer gerade mal wieder seine Herde an unserem Haus in Siebenbürgen vorbei. Und mir fiel auf: Noch bevor man die Glocke des Leithammels oder irgendwelches Blöken der Restherde hört, kündigen diese Wolle- und Sympathieträger ihren Vorbeimarsch vorauseilend und arttypisch mit Fragrance an; dieser unnachahmlichen Duftmischung aus herben, hinterseitig stoffwechselbedingt erzeugten Basistönen und blumigen Kopfnoten, die dem wiederkäuenden Vorderteil entströmen.

Laut ungesicherten Quellen zählt Rumänien fast halb so so viele Schafs- wie Menschenköpfe. Schnittmengen sind möglich. Die Schafzucht hat vor allem in Siebenbürgen offenbar eine besonders ehrwürdige Tradition. Doktor Ciprian Ghisa, damals stellvertretender Direktor des Transylvania College/The Cambridge International School in Cluj-Napoca (Klausenburg), hielt 2017 in einem verdienstvollen Beitrag für die Zeitschrift „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ fest: „Die berühmtesten rumänischen Schäfer und Schafzüchter stammten aus der Region um Sibiu“ (zu Deutsch: Hermannstadt).

Nicht nur in dieser Region war man in Rumänien zu Zeiten der Mangelwirtschaft unter dem durchgeknallten stalinistischen „Conducator“ Nicolae Ceaușescu froh, wenn man einen dieser berühmten Schafzüchter kannte, der einem für die eine oder andere Gefälligkeit ein bisschen Hammelfleisch auf den Tisch zaubern konnte – ganz diskret natürlich. Weniger dezent sind die Häuser in den Dörfern mancher wohlhabender Schäferfamilien oben in den Bergen, die seit Generationen darin wetteifern, mehr Säulen, Erker und Marmor als der Nachbar zur Schau zu stellen.

Der Besitz von Schafen, im Catan-Spiel ein harmloser Glücksfall, der einem höchstens Siegpunkte einbringt, kann sich in Rumänien immer noch auszahlen – vermeintlich sogar ganz ohne auch nur ein einziges Tier zu tauschen, zu verkaufen, zu scheren oder zu schlachten. Dieses ungewöhnliche Geschäftsmodell war jedenfalls der Hintergrund einer Gerichtsverhandlung, die neulich in der für Kleingroßdorf zuständigen Kreisstadt einen Schäfer und einen Gartenbesitzer vor dem Kadi aufeinandertreffen ließ.

 

Es ist August, und es ist heiß in den Räumen der Primarie der Kreisstadt. Sie beherbergen neben dem Rathaus und angeschlossenen Ämtern auch den Sitzungssaal des Amtsgerichts. Sowie zurzeit einen recht ungehaltenen Amtsrichter, der den Saaldiener zum wiederholten Mal fragt, wann denn endlich der angekündigte Reparaturdienst anrücken werde, um die ausgefallene Klimaanlage zu richten?

„Nici o problemă”, sagt der Untergebene, buckelt und zückt erneut sein Handy. Kein Netz.

Der Amtsrichter seufzt, wischt sich den Schweiß von der Stirn und öffnet den obersten Hemdknopf. Es ist ein langer Tag gewesen. Der letzte Fall für heute ist aufzurufen. Dieser liegt noch nicht lange zurück, keine drei Wochen. Manchmal, wenn auch sehr selten, geht es selbst in Rumänien schnell mit juristischer Aufarbeitung.

Der Richter schlägt den Aktenordner auf. Vor der Saaltür entsteht Tumult. „Halsabschneider!” – „Schafficker!” – „Ausbeuter!” – „Missgeburt!” Es folgen etliche der rumänischen Sprache eigene missgünstige Bemerkungen über Körperöffnungen engster Verwandter weiblichen Geschlechts sowie über ein Hengstgemächt.

Der Sicherheitsdienst greift ein und trennt die Streithähne. Sie werden einzeln vor den Richter geführt.

Zunächst Vasile Andrei, von Beruf Schafzüchter, bislang unbescholten. Der Richter weist ihm mit strengem Blick den Platz rechts von seinem Pult zu, neben dem Fenster. Dann betritt Bogdan Stoica den Saal, Ruheständler, wegen Körperverletzung vorbestraft. Er besitzt ein ansehnliches Grundstück in Kleingroßdorf, auf dem er in einem stattlichen Haus mit großem Garten wohnt. Der Richter schickt ihn mit einer herrschaftlichen Kopfbewegung nach links, möglichst weit von Vasile weg.

Beide Kontrahenten haben auf einen Rechtsbeistand verzichtet, giften einander mit Blicken an, verhalten sich nun aber ruhig. Die Richterwürde wirkt, auch wenn die beleibte hohe Amtsperson schwitzt wie, nun ja, darf man es sagen: ein Schwein.

Aber hier geht es nun um Schafe. Um die von Vasile. „Also”, sagt der Richter und blickt beide Vorgeladenen nacheinander scharf an, bevor er fortsetzt: „Der Kläger” – ein Nicken in Richtung von Vasile – „bringt vor, dass der Beklagte” – nun wird Bogdan ins Auge gefasst – „vom Mähdienst seiner Schafe Gebrauch machte, ohne diesen zu entgelten. So weit richtig?”

Vasile nickt, doch Bogdan brüllt: „Mähdienst? Dass ich nicht lache! Niemand hat seine stinkenden Schafe eingeladen, sich über meinen gepflegten Garten herzumachen! Das Gartentor stand einen unbeobachteten Moment offen, und dann sind sie eingedrungen und haben alles kahlgefressen!”

„Bogdan ist ein Idiot und hat vom Gärtnern keine Ahnung”, blökt der Schafbesitzer Vasile zurück. „Gepflegter Garten? Sein Gras steht kniehoch, weil er zum Mähen zu faul ist! Meine Schafe haben ihm einen Gefallen getan!”

„Ruhe!”, verlangt der Richter und öffnet würdelos den zweiten Hemdknopf; es ist einfach zu heiß, und diese beiden Typen nerven. Er weist mit dem Zeigefinger auf Vasile. „Sie als Kläger erwarten also, dass der Beklagte Sie dafür entlohnt, dass Ihre Schafe seinen Rasen kurzgeschoren haben, obwohl er Ihre Herde nicht damit beauftragt hat?”

Vasile knickt ein und wird kleinlaut. „Nun ja, Auftrag – das ist ja eine reine Formalie, nicht wahr? Es hat sich eben so ergeben, und der Garten sieht jetzt ja auch viel besser aus…”

„Kostenloses Grünfutter hat er bekommen für seine blökende Bande”, erregt sich Bogdan. „Eigentlich sollte er das mir bezahlen!”

„Ein interessanter Vorhalt”, sagt der Richter, dem die Feinheiten der Rechtsauslegung natürlich im Blut liegen. „Wünschen Sie, diesbezüglich selbst Klage zu erheben? Ich muss Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass es sich um einen Vorgang nicht weiter verfolgenswerten Mund- beziehungsweise Maulraubs handeln könnte, obwohl die Präzedenzfälle selbst in Rumänien in Bezug auf Schafe gering sein dürften. Ich würde das weitere Vorgehen an Ihrer Stelle sorgsam überdenken.”

Dann wendet sich der Richter Vasile zu. „Auch Sie hätten sich Ihre Klage gut überlegen sollen. Ich könnte sie niederschlagen und Ihnen die Gerichtskosten aufbürden. Apropos niederschlagen: Treten Sie doch bitte mal vor, Herr Andrei.”

Vasile tut, wie ihm geheißen. Der Richter mustert sein Gesicht. „Ist das da ein abheilendes blaues Auge?” Vasile nickt. „Hat das vielleicht mit Ihrer Auseinandersetzung mit Herrn Stoica zu tun?” Der nun eingeschüchterte Vasile zögert, schüttelt dann den Kopf.

„Na prächtig”, sagt der Richter. „Ich gehe davon aus, dass Sie von Ihrer Klage zurücktreten, sich damit Kosten ersparen, hier nicht etwa wieder auftauchen und auf Körperverletzung klagen. Die ganze Angelegenheit wird wegen Unerheblichkeit eingestellt. Die Kosten trägt, wegen, äh, besonderer Umstände der rumänische Staat, Näheres in meiner Begründung, da wird mir schon was einfallen.” Er schnauft. „Hoffentlich.”

Bogdan lacht triumphierend. Der Richter lächelt süffisant und trägt ihm auf: „Sie, Herr Stoica, werden Ihre Gartenpforte fortan ein Mal pro Woche für die Herde von Herrn Andrei öffnen. Das wird Ihrem Rasen gut tun, da es Ihnen mit der Sense doch so schwer von der Hand geht. Das ist natürlich kein Urteil, sondern nur eine Empfehlung. Körperverletzung könnte allerdings auch von Staats wegen verfolgt werden, wie gerade Sie wohl wissen.” Bogdan schaut zu Boden und nickt.

Die beiden Narren trollen sich. Wie gesagt: Es ist ein langer Tag gewesen, und der Richter schwitzt weiterhin, obwohl er endlich die Robe ablegen kann. Die Frage, was in Rumänien öfter versagt – Klimaanlagen, der Rechtsstaat oder der gesunde Menschenverstand – mag ihn weiter bewegen, muss hier jedoch unbeantwortet bleiben.

Unerwähnt wollen wir aber nicht lassen, was Wikipedia über Walachenschafe mitteilt und damit dokumentiert, dass anders als bei Hundehaltern Herr und Gescherr im Falle von Schafbesitzern einander nicht unbedingt gleichen müssen: Sie ziere „wacher Ausdruck“ und „edles Aussehen“.

Stinken tun sie trotzdem.

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