From Pennsylvania to Transilvania - once in a lifetime

Kaum jemand in Transsilvanien – die Klofrau der öffentlichen Bedürfnisanstalt in Schäßburg (Sighisoara) ausgenommen, wo man sich am Eingang gegen Entrichtung von einigen wenigen Lei (rumänische Währung) neben einer Art Vogelscheuche fotografieren lassen kann, die den Fürst der Finsternis darstellen soll – wird besonders gern auf Dracula angesprochen. Dies geschieht dennoch natürlich ständig, wenn Touristen sich in die Karpatenregion jenseits der dunklen Wälder verirren.

Bram Stoker, so heißt es, wollte seinen Eins-a-Vampirroman ursprünglich in der Steiermark spielen lassen. Es kam anders und südöstlicher. Dann folgten viele B-Movies, die den Schauspieler Christopher Lee in der Rolle des adligen Blutsaugers unsterblich beziehungsweise untot machten (darunter 1972 das erstaunliche Werk „Dracula jagt Mini-Mädchen“) – und natürlich die „Rocky Horror Picture Show“ mit ihrem „Transvestite from transsexual Transylvania“. Auch sie hinterließ nachhaltigen Eindruck, vorwiegend im Westen.

Der Walachen-Fürst Vlad III., auch Vlad Tepes oder „Der Pfähler“ genannt, ist das historische Vorbild für Dracula. Dieser Sohn Vlads II., des Drachens (Dracul), – der hieß so, weil er Mitglied im Drachenorden Kaiser Sigismunds war –, wurde vielleicht 1476 geboren oder auch ein Jahr später. Eventuell geschah dies im siebenbürgischen Schäßburg.

Ganz gewiss war dieser Zuwachs der Vlad-Brut für viele Zeitgenossen kein Glücksfall, schon gar nicht für osmanische Abgesandte. Die ließ der Walachen-Herrscher Vlad Tepes von ihren Audienzen bei ihm gerne mal nur als Kopf im Korb an die Hohe Pforte des Topkapi-Palasts in Instanbul zurückkehren.

Die Siebenbürger Sachsen behaupten, die rumänischen Kommunisten hätten ihr sächsisches Schäßburg dem blutdürstigen Vlad später zu Unrecht und mit böser Absicht als Geburtsort zugeschrieben. Dort will eine Plakette an einem Haus in der historischen Oberstadt heute seinen mehrjährigen Aufenthalt verbürgen. Die an sich schöne Altstadt von Sighisoara birst vor Touristen und Dracula-Kitsch.

Nun haben die Sachsen es in Bezug auf den Vlad mit der Wahrheit aber selbst nie so genau genommen. Der walachische Herrscher behinderte mit seinem Zollregime ihren einträglichen Handel. Sie setzten deshalb allerlei schaurige Geschichten über ihn in die Welt.

Nicht, dass es deren wirklich bedurft hätte. Vlad, wiewohl ein selbsternannter Verteidiger des christlichen Glaubens gegen die Osmanen, an deren sultanischem Hof er als Geisel prägende Jahre verbrachte, war ohne Zweifel ein widerlicher Pfähler.

Einzelheiten seines Tuns werden in der einschlägigen Literatur genüsslich beschrieben; von der Kunst, einen Pfahl hinreichend zuzuspitzen und einzufetten, bis hin zu den geeigneten Körperöffnungen männlicher- und weiblicherseits, in die das grausame Holz sorgsam, noch in waagerechter Lage der Delinquenten, zu treiben war, damit es lebenswichtige Organe nicht sofort verletzte, bevor es neben dem Kopf, zu den Schultern, aus dem Leib drang und der Pfahl dann für langsames, qualvolles Sterben aufgerichtet werden konnte. Zu wahren Pfahl-Wäldern.

Puh. Ja, das ist schlimm. „Drac“ bedeutet im modernen Rumänisch „Teufel“, das half der Legendenbildung. Der Vlad soll der Kirche abgeschworen und Blut aus einem Kelch getrunken haben, nachdem ihn die Kunde vom Tod seiner geliebten Frau erreicht hatte. Diese hatte dem Leben angeblich mit einem tiefen Sturz aus einem Schlossfenster entsagt, weil sie durch eine gefälschte Botschaft annehmen musste, dass ihr vergötterter Gatte auf dem Schlachtfeld gefallen wäre.

 Vampirismus freilich kommt nur weit weg von Siebenbürgen bei einigen wenigen amerikanischen Fledermausarten vor. Allerdings litt die gesamte rumänische Nation vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter keineswegs erfundenen Blutsaugern.

Sie trugen viele unbekannte und bis heute noch auszugrabende und anzuklagende Namen, zwei prominente zweifelsfrei: Nicolae und Elena Ceaușescu – selbstherrliche Steinzeitkommunisten mit eingebildeter Ewigkeitsmacht, die nach einem Schauprozess zu Weihnachten 1989, während einer blutigen Erhebung, verdient, wenn auch nicht rechtsstaatlich, an die Wand gestellt wurden.

Diese Wand , sie hätte nicht ausgereicht, um die Schatten aller unter der jahrzehntelangen Gewaltherrschaft des Diktatoren-Pärchens exekutierten Opfer hinter, neben, über und unter ihm abzubilden. Es gibt rumänische Haushalte, in denen das Video vom verdienten Ende des "Conducătors" und seiner mit Ehrendoktor-Titeln überhäuften Komplizin heute noch gern angeschaut wird.   

Dem frühen Vorgänger der Ceaușescus, dem Vlad, kann man vieles vorwerfen, die Unsitte des nocturnen Aderlasses trotz Bram Stoker hingegen wohl nicht. Kürzlich kam in Kleingroßdorf jedoch jemand an, der anderer Meinung war.


„Awesome. This is truly awesome, kind of like out of this world. So I really am in Transylvania here, right?“

Timothy hasste amerikanische Touristen. Wie sie sich kleideten, wie sie sprachen. Für den Engländer traf zu, was Mark Twain über das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten schrieb: „Two nations divided by a common language.“

Aber was sollte man machen? Business was low. Der Gast aus Littlefield, Pennsylvania, war zurzeit der einzige, den Timothy in seinem Bed and Breakfast beherbergte, in diesem alten Sachsenhaus im Dorfkern, das er mit viel Liebe und Arbeit hergerichtet hatte. Liebe hatte ihn auch hierher verschlagen. Seine Frau war Rumänin. Er Handwerker, ein geschickter und fleißiger.

Timothy hatte das schlummernde Potenzial von Kleingroßdorf erkannt, sich ans Werk gemacht, die noch vorhandene Bausubstanz des seit Langem verfallenden, ihm für geringes Geld zugefallenen Hauses bewahrt und aufgehübscht, mit Fremdenzimmern im alten Stil. Die Waschbecken waren in Porzellan gefasste Zinneimer ohne Boden. Ihr Abfluss mündete in eine Kanalisation, die mehr mit Gottvertrauen als mit westlichen Standards zu tun hatte.

Die Doppelbetten waren mit neuwertigen, durchgängigen Federkernmatratzen ausgestattet. Die Bettrahmen hingegen waren alt, sehr alt, stammten noch aus sächsischer Herrlichkeit, als man sich frühzeitig, gleich nach Sonnenuntergang, auf beiden Seiten der Matratzenritze zur Nacht einrichtete, einerseits vielleicht mit Schnurrbartbinde und christlichem Fortpflanzungswillen, andererseits mit Nachthaube und bangen, aber ergebenen Befürchtungen.

Man musste halt seine Pflicht tun, nicht wahr; jeder und jede, wo er und sie diese zu erfüllen hatte, auch wenn schon ziemlich viele hungrige Mäuler zu stopfen waren. Man konnte nur einmal in der Woche zum Speckturm der Kirchenburg gehen, wo die Notvorräte für den Fall feindlicher Angriffe verwahrt wurden, sich seine Ration von der für jede Hausnummer im Dorf sorgsam markierten Speckseite abschneiden lassen. Damit musste man wirtschaften.

Timothys wirtschaftliche Erwägungen beruhten darauf, wie schön die Gegend war, dass Internet-Travelsites Siebenbürgen immer häufiger als Geheimtipp auswarfen. Ja, es kamen die üblichen Rumänen, vor allem im Winter, die wollten dann hinauf zur Hohen Rinne und skifahren. Er hatte aber durchaus auch auf internationale Gäste gehofft. Jedoch nicht gerade auf diesen, der in Shorts und Sandalen vor ihm saß.

„So tell me“, sagte Timothys einziger derzeitiger Sommergast, „what is it with them Vampires? They still around?“

Timothy schloss kurz die Augen. „Well, you kow – they only come out at night.“

„Lots of them?“

Timothy ritt der Teufel, vielleicht der Drac. „Lots and lots. With full moon they just swarm around, we seek shelter in our basement then, covered under heaps of garlic.“

„Wow. I think we’re in for full moon, aren’t we?“

„Tomorrow“, sagte Timothy.

„Wow. Awesome“, bemühte der Amerikaner seinen übersichtlichen Wortschatz erneut. „You think I could get a glimpse of a bloodsucker? Maybe take a picture or two?“

„That depends.“

„On what?“

„The extra price you’re willing to pay.“ Mit düsterer Stimme fügte Timothy hinzu: „That ultimate price may be your life, of course. Endless darkness. For the time being, however, I would just charge you an extra 2.000 Lei (rund 400 Euro).“ Endlose Dunkelheit gab es in Kleingroßdorf freilich nur, wenn die Straßenbeleuchtung mal wieder ausfiel, so regelmäßig wie der gesamte elektrische Strom.

„Deal“, bestätigte der Transsilvanien-Besucher aus Littlefield, Pennsylvania. „So tomorrow we’ll do what?“

„We’ll take a walk to the Ort der Ruhe“, sagte Timothy mit Grabesstimme und den paar Brocken Deutsch, die er sich von den Siebenbürger Sachsen angeeignet hatte. „Up to the old German cemetery on the hill.“

Der alte deutsche Friedhof wies noch ein paar Grabsteine von Sachsen auf, die im Zweiten Weltkrieg während der östlichen Erweiterung des deutschen Machtbereichs in die SS gepresst worden waren, ihr teils aber auch begeistert beitraten und nahe der Heimat fielen. Wenige andere sterbliche Überreste aus dieser Zeit hatten es zurück in die Mutterscholle geschafft. Sie blieben nach dem Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reichs“ im Donez-Becken oder in Sibirien.

Wahrscheinlich hatte sich dort niemals jemand die Mühe gemacht, die Leichen der deportierten Sachsen – Männer wie auch Frauen im arbeitsfähigen Alter – ordentlich zur Ruhe zu betten oder auch nur zu zählen, nachdem sie den Entbehrungen der Zwangsarbeit unter sowjetischer Knute erlegen waren. Am Ort der Ruhe wurden ihre Grabsteine niemals errichtet.

Doch bewahrte dieser Ort auch das Andenken an jene, die nach der Hitlerei in Siebenbürgen ausgeharrt hatten, ihren Besitz verloren und schließlich auch ihr Leben. Dabei half der Geheimdienst Securitate der rumänischen kommunistischen Diktatur kräftig mit. Dann, als auch dieser Terror vorbei war, starben die Sachsen nur noch an Altersschwäche.

Es wuchsen vor Ort wenige aus ihren Familien nach, die sich noch persönlich um die Gräber kümmerten. Wer die Beine in die Hand nehmen konnte, hatte sich in großen Schüben abgesetzt, vorwiegend in die Bundesrepublik Deutschland, und die Gebeine der Vorfahren zurückgelassen. Aus der neuen Zuflucht überwies man dem verbliebenen deutschen Kirchensprengel Geld für die Grabpflege. In der Registratur der Friedhofsverwaltung arbeiteten jedoch nur noch wenige Sachsen. Den überwiegend rumänischen Mitarbeitern fiel es mitunter schwer, die Zuwendungen beim Sortieren der vergilbten Grabkarten den richtigen Ruhestätten mit all den fremd klingenden Namen aus einem anderen Jahrhundert zuzuordnen, all den Philippis, Roths und Schusters.

Das ging Timothy nichts an. Er war Engländer und Pragmatiker und hatte viele Freunde im Dorf, alle wie er selbst das, was man auf Rumänisch „Schmecher“ nennt, Schlitzohren. Einige davon waren Rumänen, andere hartgesotten überwinterte Sachsen. Beide Volksgruppen konnten schon immer Spaß daraus schlagen, tumben Fremden eins auszuwischen. Dies geschah nun.

Der Betreiber der örtlichen „Cabana Sasilor“, der „Sachsen-Hütte“, war ein alter Sachs. Er stand einem Motorradclub von eingefleischten Enduro-Fahrern vor, die gerne mit größtmöglichem Geräuschaufwand die Abhänge rund ums Dorf umpflügten. Außerdem war er DJ. Er verfügte nicht nur über eine ansehnliche, für empfindliche Ohren unerträgliche Sammlung von alten deutschen Schlagern, siebenbürgischer Blasmusik und rumänischer Musica Populara, sondern war auch stolzer Besitzer einer batteriebetriebenen Nebelmaschine.

Dieser Apparat wurde tagsüber gut verborgen am Ort der Ruhe in Stellung gebracht. Es würde natürlich noch ein Untoter aus einem Grab auferstehen müssen. Der sächsische Totengräber hatte zufällig gerade eine frische Grube ausgehoben, die dazugehörige Bestattung stand aber erst übermorgen an. Gegen ein Handgeld erklärte er sich bereit, sich kurz vor Mitternacht in das bereits geschaufelte Erdloch zu kauern, sich zum rechten Zeitpunkt aufzurichten, mit einem alten sächsischen, mottenzerfressenen Kirchenpelz angetan, den Timothy mal günstig auf einem Flohmarkt erstanden hatte, als Dekoration für die Garderobe in der Eingangsdiele seines Bed and Breakfasts.

Alles war gerichtet, die Vorbereitungen perfekt. Der Vollmond ging auf. Der Nebelwerfer warf Nebel. Es flatterten sogar ein paar Fledermäuse über das Friedhofsgelände; die waren nicht mit Timothy im Bunde, sondern tun dies dort im Allgemeinen tatsächlich jede Nacht.

Im dunklen Herzen Transsilvaniens legte Timothy seine Hand auf die Klinke des schmiedeeisernen Tors zum Ort der Ruhe, das schief in den Angeln hing, und bedeutete seinem Begleiter aus Littlefield, Pennsylvania, Stillschweigen, indem er seinen Zeigefinger verschwörerisch auf die Lippen legte. Das Tor quietschte vor Altersschwäche, der Tourist vor Vergnügen. „Wow. Awesome“, bemerkte er vorhersagbar.

„Hold on tight and enjoy your ride“, sagte Timothy und ergriff die Hand des Amerikaners. „And, for Mighty God’s sake, do wear this.“ Er bekränzte den Touristen mit einer Knoblauchkette, warf sich selbst auch eine um. „Are you a Christian, my dear Sir?“, fragte er.

„Reborn Evangelist“, sagte der Tourist atemlos, dennoch bestimmt. „Should we not have brought a cross, too?.“

In diesem Moment erhob sich der Totengräber aus seiner Grube und breitete die Arme aus. Er rief: „Mein geliebtes Weib, wo bist du? Ich werde dein Andenken ehren, seine Befleckung rächen und meine ewige Vergeltung über die Welt ausschütten!“

„What’s he saying?“, fragte der Tourist. „Doom“, erwiderte Timothy. „Eternal doom to all who disgrace my beloved wife’s honour. I’ll revenge her.“

„Awesome. He said that in Romanian?“

„No. In German.“

„Well, Dracula must be a Nazi, I gather. Makes sense with the whole blood an honor thing and all that. You think it’s safe to take a picture of me by his side?“

„I don’t know. For a generous tip – maybe. He mostly lives on blood stamps these days and cold use the extra money. The garlic should protect you, I assume, if only for a short while. But you may find out the picture won’t show much of him – his kind does reflect in mirrors.“

„No prob“, sagte der Amerikaner, „I don’t carry a reflex camera, just my smartphone. Would you mind?“ Er überreichte Timothy sein iPhone und zusätzliche 500 Lei.

Timothy hatte Mühe, den angebrachten Ernst zu bewahren. Der Totengräber auch, aber die 500 Lei waren ihm nicht entgangen, und für die legte er sich noch einmal extra ins Zeug. Er winkte dem Touristen aufmunternd zu.

„My God, he smells. He must be half rotten“, sagte der Amerikaner halblaut zu Timothy und stellte sich dann neben den Totengräber, der es mit dem Duschen noch nie genau genommen hatte. „The scent of the ages“, sagte Timothy mit der letzten Selbstbeherrschung, die ihm noch zur Verfügung stand, und drückte auf den Auslöser.

Nach dieser unvergesslichen Nacht musste der Tourist aus Littlefield, Pennsylvania, früh aufstehen – weil sein transkontinentaler Rückflug  bevorstand. Als er noch vor Sonnenaufgang das Fenster seines Fremdenzimmers öffnete, war es ihm, als ob etwas in der Dämmerung aufflöge, womöglich ein Fledermaus-Schwarm. Es waren aber nur Spatzen. „The real Transylvania“, dachte er dennoch.

Der Tourist checkte ein. Er flog los. Doch kurz nach dem Start im Morgengrauen vom internationalen Flughafen Hermannstadts (Sibiu) ging etwas schief. Im Steigflug verfing sich in den Turbinen des Flugzeugs ein Schwarm von irgendetwas Geflügeltem. Statistisch gesehen sind solche Unfälle extrem selten. Die Überlebenschancen der Passagiere auch.

Das letzte Foto vom wackeren Reisenden aus Littlefield, Pennsylvania, das er vor seinem gescheiterten Heimflug aus Rumänien in seine WhatsApp-Gruppe gestellt hatte, zeigt ihn selbst messerscharf neben einer verschwommenen Gestalt, deren Umrisse kaum erkennbar sind. Es scheint, als ob eine schwarze Schwinge einen Teil des Objektivs verdunkelt hätte. 

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