Der Russe kommt
Kurzgeschichte
von Hans-Jürgen Moritz
„Was der Mann einsetzt an Heldenmut auf dem Schlachtfeld, setzt die Frau ein in ewig geduldeter Hingabe, in ewig geduldetem Leiden und Ertragen.“
(Adolf Hitler, Rede vor der NS-Frauenschaft in Nürnberg 1934)
Mutter vermisste Vater nicht, das wussten wir. Die eine Feldpostkarte, die er vom Russlandfeldzug geschickt hatte, fischten wir Kinder heimlich aus dem Müll. „Liebe Bertha, mir geht es gut. Der Iwan türmt. Weihnachten bin ich zu Hause.“ Vater kam nie zurück. Post gab es noch einmal, aber nicht von ihm, sondern von seinem Kompaniechef: „Traurige Pflicht… Heldentod… Vaterland… Endsieg.“ Mutter verzichtete in der Todesanzeige auf den damals üblichen Zusatz „In stolzer Trauer“; auch das Wort „Heldentod“ kam nicht vor.
Vater, an den ich mich nur von seinen frühen Fronturlauben erinnern kann, war danach nicht mal mehr ein Bild auf dem Nachttisch. Mutter hatte ihn weggeräumt. Sie redete erst nach dem Krieg wieder über ihn. „Nschicka Kerl wara, imman frechet Grinsen, und sone kesse Locke inner Stirn“, beschrieb sie ihn dann, presste die Lippen aufeinander, zog den Faden ruckartig vom Stopfstrumpf, bis er riss, oder schälte die Kartoffeln zu grob. „Aban Säufa wara. Schürzenjäjer ooch. Der Schmidt ausm vierten Stock isser hinterherjeloofen wie vorher nur dem Adolf. Nee, Vattern tauchte nich. Hab euch ooch alleene großjekricht. Nur die kleene Anne… naja. Jottbefohln.“
Den Adolf nahm Mutter von der Wand, als wir zum ersten Mal die Stalinorgeln hörten. „Mein Kampf“ hatte uns kurz vorher eingeheizt. Blatt für Blatt riss Mutter aus dem Buch und steckte sie einzeln in den Ofen, als ob der Adolf von Zehnagel bis Scheitel verschwinden müsste, Körperteil nach Körperteil. Sorgsam harkte sie am nächsten Morgen in der Asche, um zu sehen, ob irgendwas vom Adolf übrig war. Der Ledereinband der Hochzeitsgabe des Führers war ihr zum Wegwerfen eigentlich zu schade, musste aber auch ins Feuer. „Könnt ma nochn Fenstalappen draus machen. Aba Fenster hamwa keene mehr.“
Onkel Dietrich hatte uns aufgenommen, als wir in Zehlendorf ausgebombt waren. So mussten wir nicht zur Sammelstelle und bei fremden Leuten einquartiert werden. Der Onkel betrieb damals noch die Arztpraxis in seiner schönen alten Villa in der Berliner Vorstadt. Im Garten hatten wir oft gespielt, und Gärtner Wagner hatte uns viele Pflanzennamen beigebracht: Goldregen. Rittersporn. Fingerhut. Jedes Wort ein Grimm‘sches Märchen.
Jetzt stand die Villa nur noch zur Hälfte, das oberste Geschoss war völlig ausgebrannt. Potsdam war weitgehend vom Bombenterror verschont geblieben, aber ab und zu verlor ein Ami oder Tommy mal einen Brandsatz beim Anflug auf Berlin. Die Villa hatte Pech gehabt. Aber damals war wenigstens noch gleich gelöscht worden.
Den alten Praxistrakt und die drei Zimmer, die sich anschlossen, konnte man noch benutzen. In die Fensterrahmen der Küche im Parterre hatten die Frauen als Ersatz für die geborstenen Scheiben gewaschene alte Röntgenaufnahmen geklebt, vor denen ich mich gruselte. Wenn ich in der Küche half, schaute ich auf Lungenflügel und Knochenbrüche.
Onkel Dietrich brauchte die Aufnahmen nicht mehr. Ende September 1944 musste er zum Volkssturm. Sie gaben ihm einen alten Karabiner, wie er ihn noch aus dem Großen Krieg kannte. Er bekam keine schicke Uniform, so wie Vater, nur eine Armbinde. Onkel Dietrich steckte sich das Eiserne Kreuz vom Kaiser an, umarmte uns und sagte: „Bleibt übrig.“ Das war das Letzte, was wir von ihm hörten.
Mein Bruder Heinz, danach der einzige Mann im Haus, war seit Kurzem auch beim Volkssturm und hob Panzergräben aus. Als Heinz mit leuchtenden Augen von der Einweisung in den Gebrauch der Panzerfaust nach Hause gekommen war, hatte Mutter ihn mit dem alten Teppichklopfer so vertrimmt, dass man diese Lektion noch zwei Tage danach auf seinem Rücken ablesen konnte.
Heinz fuhr trotzdem wieder zum Endsieg, zwei Panzerfäuste vorne am Fahrradlenker. Zäh wie Leder, flink wie Hunde, hart wie Kruppstahl. Für uns Mädchen galt: Sei wahr, sei klar, sei deutsch, das hatten wir gelernt. Ich bewunderte meinen Bruder. Und ich bewunderte den Adolf.
Wo war der eigentlich? Früher hatte man ihn so oft gesehen, und jedes Mädchen in meiner Klasse träumte davon, ihm einen Blumenstrauß zu überreichen. Aber jetzt gab es schon seit ein paar Monaten keine Schule mehr. Ich war froh, dass ich schon ganz gut lesen konnte, und ich tat es oft, vor allem im Luftschutzkeller, wo nicht viel zu tun war. Ich kaute dabei gerne Lakritze, die gab es bis ganz zum Schluss reichlich. „Haribo macht Kinder froh!“ Vor allem dämpfte die Lakritze das Hungergefühl. Meine Lieblingsbücher waren „Mädels ziehen in den Sommer“ und „Von nordischen Frauen, Königen und Bauern“.
Ich hätte in den Potsdamer Nächten im Keller gerne eine Puppe zum Kuscheln gehabt. Aber der Bombenterror hatte in Berlin mitten in meine Puppenstube eingeschlagen.
Es wurde immer schlechter über den Führer gesprochen; sogar Mutter tat es. Sie hatte mal anders geklungen, denn für Mütter gab es Erholungsstätten und KdF-Fahrten. „Der Adolf“, so höre ich Mutter heute noch, „hat alles in Ordnung gebracht. Wir sparen jetzt auf einen KdF-Wagen, und dann fahren wir nach Italien.“ Irgendwas musste der Adolf danach falsch gemacht haben, dachte ich.
In Onkel Dietrichs Villa waren wir im April 1945 zu neunt, eine Hausgemeinschaft, die der Krieg aus allen Teilen des Reiches zusammengefegt hatte. Else Rabner und ihre Tochter Gertrud hatten aus dem brennenden Königsberg entkommen können. Der Russe musste da übel gehaust haben. Aber schlimmer war die Waffen-SS, sagte Mutter. Die hatte beim Abzug aus Ostpreußen alle Lebensmittellager gesprengt. Viele, die aus Königsberg nicht mehr rauskamen, waren verhungert.
Zu essen hatten wir in Potsdam auch nicht viel. Im Sommer hatte Mutter beim Hamstern ein Stück Butter ergattert. Butter kannten wir schon gar nicht mehr, es gab ja nur dieses Ersatzfett. Leider war das Stück in Mutters Tasche auf der Rückfahrt geschmolzen. Wir leckten sogar die Schlüssel aus der Tasche noch ab.
Frau Rabner hatte mal bei Onkel Dietrich in der Praxis gearbeitet, vor dem Krieg. Was sie nach Königsberg verschlagen hatte, wie sie und Gertrud es zurückgeschafft hatten, sagte sie nicht. Wenn man sie danach fragte, schaute sie durch einen hindurch und schwieg. Ihre Tochter war kaum zwölf Jahre alt, aber hatte schon graue Strähnen im Haar.
Nachts im Keller, bei Fliegeralarm, weinte Frau Rabner viel. Manchmal schrie sie im Schlaf „njet, njet!“ und wurde schweißgebadet wach. Njet war Russisch, sagte Mutter, und mehr brauchte ich nicht zu wissen. Wenn es zu schlimm wurde mit der Rabner und gerade kein Alarm war, ging Frau von Stiller nach oben in Onkel Dietrichs Praxis, zog eine Spritze auf und gab sie Frau Grabner. Dann war Ruhe.
Frau von Stiller kam noch weiter aus dem Osten als Else Rabner. Sie glaubte an Wunderwaffen, die uns retten würden. Ihr Mann war ein hohes Tier in der SS. Sie erzählte in den Nächten im Keller gerne über das Landgut in der Ukraine, über das sie geherrscht hatte. Bis der Iwan nicht mehr türmte, sondern zurückkam. Ihre Haushaltshilfe Olga, eine Ukrainerin, hasste die Russen und hatte Frau von Stiller auf der Flucht ins Altreich begleitet. SS-Standartenführer von Stiller war auf „geheimer Kommandosache für den Endsieg“, sagte seine Frau. „Werwolf“, flüsterte Mutter mir ins Ohr.
Ich wusste damals nicht, was das war, und keiner erklärte es mir. Es gab viele solcher Wörter. Als wir noch in Zehlendorf wohnten, fragte ich Mutter mal, was „Untermenschen“ eigentlich seien. Waren es die Rosenbergs, die im Stockwerk unter uns wohnten und eines Morgens abgeholt wurden? Mutter gab keine Antwort.
Frau von Stiller war was Besseres. Sie war trotzdem nur mit zwei Koffern bei uns eingezogen, als sie einquartiert wurde. Zu ihren wichtigsten Besitztümern gehörte eine Schatulle mit Orden und Medaillen, die sie wie ihren Augapfel hütete. Einmal (Mutter war wieder mit Anne hamstern, meine ältere Schwester nahm sie dafür gerne mit, weil Anne so blass und mager war und bei den Bauern Mitleid erregte; ich war ja ein bisschen pummelig, trotz halber Rationen) holte sie die Schatulle aus ihrem Koffer und zeigte mir den Inhalt.
Wir saßen alleine in der Küche, draußen rumpelten die Flüchtlingstrecks nach Westen und wollten sich zum Ami durchschlagen. Der sollte schon bei Michendorf stehen, aber genau wusste man das nicht. Noch hatte der Russe Potsdam nicht eingeschlossen. Ein endloser Strom von Menschen mit Handkarren und einigen Fuhrwerken zog vorbei. Die meisten waren zu Fuß, trugen Rucksäcke und Koffer oder kleine Kinder auf dem Arm. Die Kinder waren ganz still, zu schwach zum Weinen.
Frau von Stiller spähte durch einen Spalt zwischen den Röntgenaufnahmen auf die Straße. „Da sind auch ein paar junge Kerle ohne Uniform dabei, Drückeberger und Wehrkraftzersetzer! Jede anständige deutsche Frau sollte sie mit dem Scheuerlappen zur Front hauen, wie es der Reichsführer SS gesagt hat!“ Sie schnaufte verächtlich und drehte sich zu mir um. Dann strich sie mir übers Haar und sah mich ernst an.
Sie war eine hochgewachsene Frau mit streng zurückgebundenen blonden Haaren. Ihre Fingernägel waren immer noch sorgsam manikürt, keine Ahnung, wie sie das schaffte. Wir hatten ja nicht mal mehr genug Wasser zum Waschen und rieben uns mit Alkohol ein, wenn wir zu sehr zu stinken begannen. Nagellack und Lippenstift lehnte Frau von Stiller aber ab – undeutsch.
Beim Wasserholen an der Pumpe war Else Rabner vorgestern von einem Streifschuss getroffen worden. Das Wasserholen wurde immer gefährlicher, auch das Anstehen beim Bäcker. In die langen Schlangen von Menschen hielten plötzlich auftauchende Tiefflieger mit ihren Bordkanonen hinein. Zum Glück hatte Frau Rabner nur einen Kratzer am Arm, und es gab in Onkel Dietrichs Praxis ja genug Verbandmaterial. Frau von Stiller versorgte die Wunde fachkundig. Sie hatte ihren Mann bei Kämpfen im Baltikum kennengelernt, als es noch vorwärts ging und sie Sturmtruppen-Krankenschwester war.
Mutter hatte mir geraten, mich vor ihr zu hüten: „Det is ne Hundertfuffzichprozentije, pass bloß uff, watte sachst! Nenn den Jöring nich Herrn Meyer, wie wirt immer tun, und sach morjens brav Heil Hitler, wennde in de Küche kommst, sonst wern wa uff de letzten Taje noch abjeholt!“
„Erikalein“, sagte Frau von Stiller und schaute mir fest in die Augen, „Die Zeiten sind hart, aber es werden auch wieder bessere kommen. Du musst immer frisch und froh, lebensmutig und tapfer sein! Wir wollen nur unseren festen Glauben an den geliebten Führer nicht verlieren, nicht wahr?“ Ich nickte. Der Führer konnte alles, das wusste man. Ich fragte mich, ob er vielleicht gerade krank war, sonst hätte er uns bestimmt schon geholfen.
Frau von Stiller nahm mich auf den Schoß und öffnete den Deckel der Schatulle. Das Innere war mit schwarzem Samt ausgeschlagen, auf dem drei Orden lagen. Einer sah sehr schön aus. Er war rund und aus Silber, trug ein rotes Kreuz in der Mitte und an jedem Ende des Kreuzes ein Krönchen. Links und rechts unter jeder Krone stand ein Buchstabe, ich konnte sie alle erkennen und Frau von Stiller vorlesen: W, R, A und V. Sie lobte mich dafür, strich mir wieder über die Zöpfe und sagte dann: „Das ist die Rotkreuz-Medaille Zweiter Klasse. Die bekam meine Mutter noch von der Kaiserin, für ihre Arbeit als Krankenschwester in Deutsch-Südwest.“
Der Kaiser war so eine Art Führer mit Krone gewesen, das wusste ich. Aber dass er eine Frau hatte, war mir neu. Der Führer hatte ja auch keine. Es wurde aber viel über eine Eva Braun geflüstert.
Deutsch-Südwest, davon hatte ich auch gehört, war Lebensraum bei den Negern, den wir Deutsche verloren hatten. Deshalb brauchten wir ja den vom Polen und vom Russen. Aber früher, in unserer Dreizimmer-Wohnung in Zehlendorf, hatten wir mehr Platz gehabt als hier in Potsdam, wo wir bei Fliegeralarm zu neunt im Keller saßen.
Frau von Stiller nahm die zweite Medaille, die an einem roten Band hing, aus der Schatulle und hielt sie auf der flachen Hand vor mein Gesicht. Was ich sah, kam mir bekannt vor. Im Hintergrund war wieder das Kreuz, aber diesmal nicht rot. Und davor prangte der deutsche Reichsadler, der das Hakenkreuz in seinen Fängen hielt. Frau von Stiller drehte die Medaille um und las mir vor, was auf der anderen Seite stand: „Medaille für deutsche Volkspflege.“ „Die habe ich vom Führer bekommen“, sagte sie stolz. „Für den Einsatz im Baltikum.“
„Und das da?“ Ich zeigte auf den dritten Orden. Der war keine Medaille, sondern ein blau emailliertes Kreuz. „Das ist das Ehrenkreuz der deutschen Mutter in Bronze“, sagte Frau von Stiller leise, setzte mich abrupt von ihrem Schoß und schloss die Schatulle. Die schöne Medaille mit dem roten Kreuz hielt sie noch in der Hand. „Wenn du willst, stecke ich sie dir an, denn du hast beim Verbinden von Frau Rabner vorbildlich geholfen. Darfst sie gerne tragen, aber heute Abend musst du sie mir zurückgeben!“ Ich nickte eifrig und war stolz wie Oskar. Als Mutter und Anne mit ein paar Zuckerrüben und unterwegs gepflücktem Huflattich für Tee zurückkamen, gab es Theater und Dresche. Ich musste den Orden sofort zurückgeben.
Mutter mochte es halt nicht, wenn ich mich bei Frau von Stiller herumdrückte. Auch von Tilly Hausen versuchte sie mich fernzuhalten. Die war eine Schauspielerin, die behauptete, mit Goebbels ins Bett gegangen zu sein: „Ich sag mal so: Lügen haben nicht nur ein kurzes Bein.“
Wir alle, Mutter, Anne, Heinz und ich, gingen jeden Abend zusammen ins Bett, denn wir hatten nur noch eins, allerdings ein großes, das alte Ehebett von Onkel Dietrich. Seine Frau hatte der Adolf dem Onkel schon ziemlich früh weggenommen, weil mit ihr irgendwas nicht in Ordnung war, Rassenschande hieß das. Sie kam ins Konzertlager Ravensbrück. Das stellte ich mir schön für sie vor, denn sie mochte Musik und konnte Klavier spielen.
Die Hausen schlief im alten Behandlungszimmer und war nicht ganz richtig im Kopf. Sie war bei einem Bombenangriff auf Berlin verschüttet worden und konnte erst zwei Tage später aus den Trümmern geborgen werden, in denen sie wie durch ein Wunder überlebt hatte. Sie hatte alles verloren, auch die Gunst des Reichspropagandaministers. Aus irgendeinem Grund hatte sie Auftrittsverbot. Onkel Dietrich aber war einer ihrer wenigen letzten Bewunderer. Er hatte sie behandelt und ihr Obdach gegeben.
In ihren vielen Geschichten geriet manches durcheinander. Aber sie kannte das Hotel Adlon wirklich, so viel war klar. Ich hörte ihr gerne zu, wenn sie von Bällen und Soupers erzählte. Ich wusste auch nicht, was ein Souper war, aber es klang besser als Werwolf. Ich stellte es mir wie das frühere gemeinschaftliche Eintopfessen am Sonntag vor, allerdings mit Fleisch in der Suppe, und alle am Tisch trugen nicht Uniform oder Schürze, sondern Frack und Abendkleid, so eins wie Eva Braun, von der ich mal ein Foto gesehen hatte. „Die Eva, die kenne ich“, sagte Tilly. „Die hat heimlich geraucht. Wenn der Führer das rausgefunden hätte, wäre sofort Schluss gewesen.“
Eva Braun sah nicht so gut aus wie Zarah Leander oder Marika Rökk, fand ich. Ich träumte manchmal von den Abendkleidern der Leander und der Rökk. Noch öfter träumte ich aber von der BDM-Uniform: dunkelblauer Rock mit Gürtel und Springfalte, weiße Bluse mit kurzen Ärmeln, schwarzes Dreieckstüchlein. Aber vor dem BDM, mit zehn, kam erst das Jungvolk. Heinz lachte mich immer aus, wenn ich vom BDM schwärmte. „BDM? Das steht für ‚Bück dich, Mädchen‘, dafür bist du noch viel zu klein“, krähte er einmal. Da setzte es von Muttern eine gewaltige Schelle für ihn.
Am 14. April 1945, meinem zehnten Geburtstag, war ich ganz früh wach. Endlich! Anne schlief noch, aber Mutter und Heinz waren schon aufgestanden. Ich stürmte in die Küche. Auf dem Tisch stand eine Ischler-Roulade. Mutter hatte irgendwoher Fett, Eier, Kartoffeln, Marmelade und Backpulver organisiert. Auch eine der kostbaren Kerzen für die Nächte im Keller brannte auf dem Tisch. Ich sprang Mutter direkt in die Arme und jauchzte.
Am Abend saßen wir alle zusammen in der Küche, die Hausen, Frau von Stiller, Olga, sogar die Rabners, die immer so still und zurückgezogen waren. Und natürlich unsere Familie. Es gab Eichelblutwurst und Grießtörtchen. Alle hatten zusammengelegt und etwas auf den Tisch gezaubert. Sogar Fassbrause war da, die hatte ich schon ewig nicht mehr getrunken. Heinz spielte auf der Mundharmonika, wir lachten und waren guter Dinge.
Da erhob sich Frau von Stiller und klopfte mit dem Löffel an ihr Glas. Mutters Miene verfinsterte sich. „Liebes Erikalein“, sagte Frau von Stiller feierlich und schaute mir tief in die Augen, „nun wirst du bald als Jungmädel dem Führer dienen dürfen. Deine Schwester Anne tut ja schon im BDM ihre deutsche Pflicht, und dein Bruder Heinz steht tapfer an der Heimatfront und sichert unsere Ausgangsstellungen, aus denen wir wieder antreten, die Eindringlinge vernichten und die deutschen Gaue befreien werden, bis zum Endsieg!“
„Prost“, rief die Hausen dazwischen und hob ihr Schnapsglas. Sie hatte kürzlich Likör geplündert, als beim Krämer um die Ecke eine verirrte Luftmine eingeschlagen war. „Prost“, wiederholte die Hausen und stand ebenfalls auf. Sie ragte nicht so kerzengerade in die Höhe wie Frau von Stiller, die sie erstaunt anblickte. Tatsächlich schwankte die Hausen ziemlich. Beide Frauen standen sich an den schmalen Widerseiten des Tisches genau gegenüber.
Ich saß am Kopf der Tafel, denn ich war das Geburtstagskind. Am anderen langen Ende des Tisches blickte meine Mutter besorgt um sich. Heinz stopfte sich noch mit Eichelblutwurst voll, die weder Blut noch Fleisch enthielt, nur Molke, Eichelmehl, Kartoffeln und Weißbrot. Aber sie war das Beste, was wir hatten. Anne studierte ihre Fingernägel. Die Rabners schauten alarmiert auf, ängstlich wie immer. Gertrud suchte die Hand ihrer Mutter. Olga kaute genauso intensiv wie Heinz.
„Prost, prost, Kameraden“, sagte die Hausen wieder und beugte sich zu Frau von Stiller vor. Die Hausen hatte zur Feier des Tages Rouge und Lippenstift aufgetragen, aber alles war schon verflossen und verschwommen. Unterhalb ihres Haaransatzes bildeten sich Schweißperlen. Sie hob das Glas jetzt über ihren Kopf, wobei sie einiges vom Inhalt verschüttete. Der Kirschlikör tropfte ihr auf die rechte, entblößte Schulter. Ihre Bluse, die bis weit abwärts nicht zugeknöpft war, war verrutscht.
„Auf den Gröfaz und den Endsieg“, lallte die Hausen. „Auf Heldenvolk und Heldentod! Auf Wunderwaffen und KZs! Auf das ganze verdammte, zerbombte Großdeutsche Reich!“ Sie leerte ihr Glas in einem Zug und schaute Frau von Stiller herausfordernd an. Die zuckte mit den Mundwinkeln, setzte sich und sagte gefährlich leise, ohne die Hausen dabei anzugucken: „Großdeutschlands Freiheitskampf wird siegreich enden. Berlin bleibt deutsch! Dass Sie ein politisch unzuverlässiges Element sind, war mir klar. Sie fallen der kämpfenden Truppe in den Rücken, am Ehrentag dieses deutschen Mädels. Das wird Folgen haben. Ich werde Sie melden.“
Die Hausen warf den Kopf in den Nacken und lachte. Dann setzte sie sich wieder, stützte den Kopf auf die Fäuste und fixierte Frau von Stiller. „Gar nix wirste, Himmlerhure. Bald kommt der Russe. Dann wirste schön die Beine breit machen und die Fresse halten. Und dann haste noch Glück. Ich weiß, was ihr in der Ukraine angestellt habt.“
Olga kaute unerschütterlich weiter. Heinz schaute zu Mutter. Mutter wollte was sagen. In dem Moment hörten wir die Sirenen. Kein Voralarm. Fliegeralarm.
Verdunkelt war schon, wir hatten lange beieinander gesessen. Alles sprang vom Tisch auf. Unsere Luftschutzkoffer standen in der Küche bereit. Heinz leuchtete uns mit seiner Taschenlampe die Kellertreppe hinunter. Die Hausen stolperte als Letzte hinterher.
Oben war ein Brummen zu hören wie von Tausenden riesigen Hummeln. Anne und ich drängten uns an Mutter. Heinz sicherte die Kellertür. Die Hausen war gestürzt und lag vor ihm auf dem Boden. Die Rabners hatten sich wie üblich in die hinterste Ecke des Kellers zurückgezogen, Else Rabner fing schon wieder an zu wimmern. Frau von Stiller und Olga saßen auf der Holzbank, die sie nie mit jemandem teilten. Olga bekreuzigte sich. Immer wieder. Frau von Stiller hatte die Augen geschlossen.
Dann ging es los.
Es pfiff. Es schlug ein. Nicht bei uns. Aber Onkel Dietrichs Villa hob und senkte sich trotzdem. Die Bohlen, mit denen wir die Kellerfenster verbarrikadiert hatten, verrutschten. Von draußen drang ein heller Lichtschein herein. Die Kellerdecke bröckelte. Dann wurde es heiß. Sehr heiß. Wir spürten einen würgenden Druck. Mutter schrie. Olga betete. Frau Rabner weinte. Heinz nahm mich und Anne in den Arm. In dem ganzen Brausen, Sausen, Knallen, Bersten, Brechen, Zittern, Wanken, Brennen, Stinken blieb Frau von Stiller regungslos.
Wir tauchten Tücher in die bereitstehenden Wassereimer und reichten sie uns zu. Der Gestank wurde unerträglich. „Phosphorbomben“, sagte Mutter. Frau Rabner wimmerte noch lauter. Das Licht im Keller flackerte. Wieder und wieder knallte es draußen. „Ich ersticke“, schrie die Hausen und griff sich an die Gurgel. „Halten Sie Ihren Mund, Sie dummes Weib, Ihr Geschrei nimmt uns die letzte Luft!“, zischte Frau von Stiller. Das hatten wir Kinder schon in den ersten Bombennächten gelernt: Nicht schreien, nicht weinen, nicht jammern, das verbraucht im Keller zu viel Atemluft.
Das Licht ging endgültig aus. Mutter zündete eine Kerze an. Im Halbdunkel sah ich, wie Heinz sich die Feuerpatsche gegriffen hatte, um sofort löschen zu können. Er hatte sein grimmigstes Gesicht aufgesetzt, aber seine Hände zitterten.
Frau Rabner war ohnmächtig geworden, ihr Kopf lag auf dem Schoß ihrer Tochter, die ihr übers Haar strich. Mutter dachte wie immer praktisch und überstreckte Else Rabners Kopf, damit sie nicht an ihrer eigenen Zunge erstickte. Frau von Stiller rührte keinen Finger und saß weiter mit geschlossenen Augen neben Olga, wie immer kerzengerade. Weil es im Keller immer heißer wurde, hatten wir uns alle die Kleider bis auf die Unterwäsche vom Leib gerissen, nur Frau von Stiller nicht. Sogar ihr oberster Blusenknopf war noch geschlossen.
Draußen ging es immer weiter. Brandbomben, Sprengbomben, Häuserblockknacker. Deutsches Flakfeuer war nicht zu hören. Das ganze Haus schwankte. Mir schmerzten die Ohren, die Luft blieb mir weg. Die Hausen, die sich scheinbar beruhigt hatte, sagte schwer atmend: „Diesmal meinen sie es ernst.“ Lange hatte es geheißen, der Feind habe Potsdam zum „Schongebiet“ erklärt. Das war wohl doch nur ein Gerücht.
Die Blicke der Hausen irrten zwischen Kellerfenstern und Tür hin und her. „Wir dürfen nicht verschüttet werden!“ Sie sprang auf und versuchte die verrutschten Bohlen ganz beiseite zu räumen, um aus einem Fenster zu klettern. Heinz umfasste sie an der Hüfte und hielt die strampelnde und um sich schlagende Frau zurück. Mein Bruder war im Volkssturm ein starker Kerl geworden, auf den konnte man sich verlassen! Mein Bruder war ein deutscher Held.
Dann war es plötzlich vorbei. Wir senkten die Kissen, die wir uns auf die Köpfe gedrückt hatten. Der Angriff hatte eine halbe Stunde gedauert, die uns wie eine Ewigkeit vorkam. Wir waren davongekommen. Potsdam nicht.
Als wir nach oben kletterten und die Röntgenaufnahmen beiseite bogen, war es draußen mitten in der Nacht taghell. Es regnete Asche, sie tanzte in dem starken Wind, der aufgekommen war. Funken trieben wie Glühwürmchen im Luftzug. Die Häuser rund um uns standen noch, aber hatten einiges abbekommen. Gegenüber war ein Balkon halb herabgestürzt. Im Haus daneben klaffte ein großes Loch in der Mauer. Auf der Straße lagen zwei verkohlte Leichen. Man konnte nicht erkennen, ob es Nachbarn erwischt hatte oder irgendwelche Passanten auf der verzweifelten Suche nach einem Luftschutzkeller.
Über die Wände der Gebäude geisterte ein unruhiger Feuerschein. Der Himmel war blutrot. So, dachte ich, sieht die Hölle aus. Von der Altstadt her hörte man noch Explosionen. Wie wir später erfuhren – denn wir trauten uns in den nächsten Tagen nicht mehr aus unserem Viertel, höchstens bis zur Zimmerstraße, die mit den Trümmerstücken der eingestürzten Hauswände des St-Joseph-Krankenhauses übersät war –, lagen Garnisonkirche, Stadtschloss, Langer Stall, Nikolaikirche, Palast Barberini, Palasthotel, Bahnhof, Kindl-Brauerei, Bergtheater und Alhambra, Wasserwerk, Rathaus, Hauptpost, Stadtsparkasse, Schlachthof, Havelhof und viele komplette Straßenzüge in Schutt und Asche.
Unser Potsdam gab es nicht mehr. Beim Wasserholen am nächsten Morgen mussten wir durch Luftminentrichter und über geborstene Baumstämme kriechen. Zum Glück funktionierte die Straßenpumpe noch, an der sich eine noch längere Schlange als üblich bildete.
Mutter und wir Kinder hatten noch in der Nacht unsere Matratzen in den Keller geschleppt, wo wir fortan schlafen sollten. Das taten auch die anderen, im Keller wurde es nun wirklich eng, eine richtige Matratzengruft. Viele andere Potsdamer flüchteten sich in den folgenden Nächten aus Furcht vor weiteren Angriffen in den Wald.
Am Morgen gab es Knatsch zwischen Heinz und Mutter. Sie verbot ihm kategorisch, zum Volkssturm zurückzukehren, weil das Tausendjährige Reich nun nur noch ein paar Tage dauern würde. Sie verlangte außerdem, dass er alles, was an eine Uniform erinnern könnte, sofort verbrennen sollte.
Ich hörte das aus dem Keller, wo ich mit Anne noch schlief. In den Streit mischte sich die schrille Stimme der Hausen, die ebenfalls auf Heinz einredete. Dann war kurz Stille. Ich rannte nach oben. Mutter versperrte mir den Weg zur Küche. „Zurück ins Bett und keinen Mucks!“ Ich gehorchte und spitzte unten voller Angst die Ohren. Da hörte ich Frau von Stiller, die jetzt auch in der Küche sein musste. Es war nicht alles zu verstehen, was sie sagte, weil Mutter und die Hausen wild gegen sie anschrien. Ich verstand nur „totaler Einsatz“, „mit ganzer Kraft“ und „Endsieg“. Dann ein dumpfer Schlag und ein Poltern. Offenbar herrschte jetzt auch in unserer Villa Krieg.
Ich rannte wieder hoch. Mutter stand mit dem Rücken zu mir, zu ihren Füßen lag Frau von Stiller, die am Kopf blutete. Mutter hatte ein Nudelholz in der Hand. Sie hob es jetzt auch gegen Heinz, der der Stiller zu Hilfe eilen wollte. „Noch eenen Schritt, und ick verpass dir ooch eene“, sagte Mutter entschlossen. „Heb se uff und bring se innen Kella. Bleib bei ihr und sorch dafür, dat se keenen Ärjer mehr macht.“
Heinz tat es. Als er mit Frau von Stiller auf dem Arm – mein Gott, wie stark mein Bruder geworden war! – an mir vorbeiging, schaute er mich schuldbewusst an. Olga war nirgendwo zu sehen, ich fragte mich, was sie von der Sache halten würde. Auch die Hausen war verschwunden.
Mutter drehte sich zu mir um, „Wat haick jesacht?“, sagte sie böse, ließ das Nudelholz jedoch sinken. „Aba is jut, datte hier bist. Setz dir mal.“ Sie schob mir einen Stuhl zu. Mutter wühlte in den Schubladen des Küchenschranks und hob eine Schere. „Jetz pass ma uff. Der Russe kommt. Kleene Mädchen, alte Weiba – dem is det allet ejal. Det sind Horden ausm Osten. Die tun dir weh, meen Kind. Deshalb wirste jetzn Junge. Die blonden Zöpfe müssen wech, und Hosen ziehste ooch an. Keene Zicken jetz!“
So wurde einen Tag nach meinem zehnten Geburtstag ein Junge aus mir, für den BDM nicht mehr geeignet. Ich weinte um meine Haare, die Mutter sorgsam zusammenkehrte und aufhob, „Kann man noch wat draus machen.“ Sie schmierte mir auch Ruß ins Gesicht, damit ich möglichst unansehnlich war.
Die Hausen saß draußen im Garten, als ich heulend mit Stoppelhaar, verschmiertem Gesicht und in einer kurzen, um mich schlotternden Hose von Heinz aus der Küche floh. An diesem Tag wurde ich aufgeklärt. Über Männer, Frauen und den Russen.
„Komm mal her, Süße“, sagte die Hausen und klopfte mit der Handfläche auf den Platz neben ihr auf der alten Parkbank, deren gusseiserne Füße die Form von Löwenpranken hatten. Die Bank stand neben dem kleinen Springbrunnen, dessen Bassin nun geborsten war und in dem tote Vögel lagen. Es hätte ein schöner Tag voll Vogelgezwitscher sein können; der Winter war hart gewesen, der Frühling aber früh gekommen. Schon im März hatte die Sonne kräftig gewärmt und allerlei Blumen aus dem Boden gelockt. Aber nun war um uns herum alles mit Asche bedeckt. Vom Gartengehölz war nicht viel übriggeblieben, überall verkohltes Chaos und Glassplitter, die von den Häusern um uns herum stammen mussten. Aber die Bank stand noch. Ich setzte mich neben die Hausen.
Sie roch nach Schnaps, Schweiß und Tränen. Sie wandte sich mir zu und hob mein Kinn, damit ich ihr in die Augen schaute. Ihre Augäpfel waren von geplatzten Äderchen durchzogen, ob vom Heulen, dem Rauch oder dem Saufen, war schwer zu sagen. Ich blickte scheu zurück.
„Nun hör mal zu“, sagte die Hausen, sah mich noch einmal prüfend, aber zärtlich an, entließ mein Kinn aus ihren schmutzigen Händen, drehte sich zur anderen Seite, kramte in einem Beutel neben ihr und entzündete eine Zigarette. Den ersten kostbaren Rauch inhalierte sie tief, behielt ihn lange in den Lungen, stieß ihn genüsslich aus und wandte sich mir wieder zu. „Mit dem Russen, das ist so…“, fing sie an. Dann zog sie wieder an der Zigarette. „Der Russe“, fiel ich ihr ins Wort, „das ist ein Untermensch, nicht wahr, Frau Hausen?“
Die Hausen hustete. „Ja, äh, nein, also…“, sagte sie nervös, hielt die Zigarette vor ihr Gesicht, sah lange darauf und sog noch einmal tief daran. Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand hatten dort, wo die Zigarette steckte, gelbe Flecken.
Die ganze Hausen sah nicht mehr sehr appetitlich aus, aber das war wohl genau der Plan. Sie trug unter einer sackartigen Bluse eine Drillichhose, die sie im Geräteschuppen des Gärtners gefunden haben musste. Ich hatte schöne Erinnerungen an Herrn Wagner, der für Onkel Dietrich lange Jahre verlässlich den Garten gepflegt und uns Kindern viel über Aussaat, Vermehrung von Pflanzen und die wichtige Rolle der Bienen beigebracht hatte. Das sagte ich der Hausen.
Sie seufzte. „Genau. Die Bienen.“ Sie warf die ausgerauchte Kippe in hohem Bogen hinter sich. „Darüber wollte ich mit dir sprechen.“
„Über die Bienen? Ich dachte, über die Russen?“
„Das auch.“
Eine Stille entstand. Im Haus klapperten Töpfe. Mutter war in der Küche zugange. Sie kochte auf Vorrat, denn die nächsten Tage rechneten wir mit weiterem Bombenterror und konnten uns nicht darauf verlassen, lange aus dem Keller zu kommen.
Die Hausen scharrte mit den Füßen. Mir wurde langweilig. Ich wollte schon aufstehen, da zog sie mich an der Hand zurück und sagte gepresst: „Der Russe kommt. Schon in wenigen Tagen. Der Russe ist unser Feind, aber wir haben angefangen. Wir haben da im Osten übel gehaust. Viele Männer, Frauen und Kinder sind tot. Nicht nur unsere. Und jetzt hat der Iwan uns am Arsch. Er wird sich rächen. Und weißt du – wenn er kommt, dann werden auch Frauen und Kinder nicht auf Gnade hoffen dürfen. So ist der Krieg.“
„Also wird der Iwan uns alle umbringen?“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber er wird andere schlimme Sachen tun.“
„Was für Sachen?“
Die Hausen brauchte eine neue Zigarette. Offenbar hatte sie noch gute Reserven, woher auch immer.
„Also: Ich weiß wirklich nicht, wie ich’s dir sagen soll, Schätzchen. Glaubst du noch, dass der Storch die Kinder bringt?“
„Der Storch? Nicht der Führer?“
Ich war verblüfft. Dass der Führer der Ehe meiner Mutter den Segen gegeben hatte, das wusste ich. Und Frau von Stiller hatte ein Mutterkreuz in Bronze von ihm, auch wenn man nicht wusste, wo ihre Kinder denn nun eigentlich waren. Ich hatte also angenommen, dass der Führer irgendwas mit dem Kinderkriegen zu tun hatte.
Die Hausen wurde puterrot im Gesicht und verschluckte sich an ihrem Zigarettenrauch.
„Nein, der Führer nicht. Der ganz bestimmt nicht. Herrje, hat deine Mama denn nie mit dir darüber gesprochen?“
„Nö.“
Wieder ein Seufzer, wieder ein tiefer Zug an der Zigarette.
„So, nun pass mal auf. Männer sind anders als Frauen. Ob Russe, Volksgenosse, Chinese, Liliputaner, Hottentotte – alles ganz egal. Sie wollen immer das Eine. Sie wollen dir…“
Die nächste Kippe flog nach hinten.
„Weh tun?“
„Ja. Der Russe schon. Ganz bestimmt die, die kommen. Aber sie werden dich nicht nur schlagen, Kind, sie werden dich nicht nur an den Haaren ziehen.“
„Hab‘ ja keine mehr.“ Mir wurde das alles zu unheimlich. Ich fing an zu weinen.
„Zu deinem Schutz hast du keine Zöpfe mehr, das hat deine Mutter ganz richtig gemacht. Du musst möglichst hässlich sein; am besten wäre, der Russe würde dich für einen kleinen Jungen halten.“
Ihr Blick glitt prüfend über meine Brust.
„Na, sieht ja noch ganz flach aus da. Gut.“
Ich schaute auf ihren Busen, der sich in ihrer unförmigen Bluse nur noch erahnen ließ.
„Ich bekomme doch auch einen Busen?“
„Na klar. Einen richtig schönen. Bist ja auch sonst ein hübsches Kind. Genau deshalb musst du dich vor dem Russen vorsehen. Der Russe, oder sagen wir mal, die Männer, interessieren sich für deinen Busen. Und für deine Garage.“
„Garage?“
„Ja, da unten, zwischen deinen Beinen, wo du pipi machst. Da parken die Männer gerne. So wie Wagen in ein Garagentor fahren.“
Parken? Wagen? Ein Kraft-durch-Freude-Wagen, auf den meine Eltern gespart hatten? Absurd. Es war mir jetzt völlig klar, dass die Hausen durch den Bombenangriff noch verrückter geworden war. Wie wurde ich sie los? Nach Mutter rufen?
„Ich glaube, ich muss jetzt…“
Die Hausen wurde böse. „Hiergeblieben. Jetzt pass mal auf: Frauen haben einen Schlitz, und Männer haben einen Schwanz. Vorne. Hast du doch bei deinem Bruder bestimmt schon mal gesehen. Den Schwanz stecken die Männer in deinen Schlitz. Da spritzen sie was rein, und wenn du Pech hast, wächst dann ein Kind in dir. In deinem Bauch. Das Kind muss durch den Schlitz raus. Das tut sehr weh. Es kann auch weh tun, wenn der Mann seinen Schwanz in den Schlitz steckt. Am meisten tut es weh, wenn du seinen Schwanz nicht willst. Und einen Russenschwanz, das glaub mir, Kind, den willst du gar nicht. Aber die Russen, die wollen uns alle, Omas, Mütter, Töchter.“
Sie hatte mich an den Schultern gepackt und geschüttelt. Ich wusste nichts zu sagen. Sie ließ mich los, lehnte sich erschöpft zurück und blickte ins Leere. Ich hatte große Angst.
„Jetzt hör auf zu heulen, blöde Gans!“ Die Hausen schwitzte stark und stank noch mehr. Ich wollte das nicht mehr. Ich wollte zu meiner Mutter. Wollte nach ihr rufen, nach Heinz, nach Hilfe. Da tat die Hausen etwas, das mir die Sprache verschlug.
Sie zog sich aus. Untenrum. Dort hatte sie Haare. In denen wühlte sie. Dann hob sie ihren Zeigefinger. Er war ein bisschen feucht. Sie leckte ihn noch nasser, steckte ihn zwischen ihren Haarbusch und schob den Finger hin und her. „So“, sagte sie. „So geht das. Rein und raus.“ Sie rutschte auf der Bank nach vorne. Ich vergaß meine Angst, denn die Hausen sah nun plötzlich ganz anders aus, so… anders halt, entspannt. Sie hatte die Augen geschlossen und lächelte, spreizte die Beine, steckte zwei Finger in das, was sie „die Garage“ nannte, und rieb sich oberhalb davon mit dem Daumen.
Ich wollte das genauer sehen. Die Hausen öffnete ihre Augen zu schmalen Schlitzen, sah mein Interesse und nickte mir zu. Ich rutschte von der Bank, kniete vor ihr nieder und schaute mir den entblößten Schoß an. Komisch, die ganzen Haare. Ob ich da wohl auch welche kriegen würde? Und würde Mutter mir die auch abschneiden? Und wenn dort schon Haare wüchsen, und wenn ich einen Busen bekäme, wäre der dann auch behaart?
Die Hausen machte komische Geräusche. Ob sie Schmerzen hatte? Nee, sie lächelte immer noch. Ich schaute mich kurz um. Ich hatte das Gefühl, das wir bei was Verbotenem erwischt werden könnten. Aber nein, wir waren immer noch ganz allein im Garten.
Die Hausen seufzte und presste die Schenkel zusammen. „Vorstellung beendet“, flüsterte sie und streifte sich die Drillichhose wieder über. Sie bedeutete mir aufzustehen und sich neben sie zu setzen. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und sagte etwas atemlos: „Meine Süße, mit deiner Garage kann man mehr anstellen, als nur pipi zu machen. Hast du ja gerade gesehen. Aber jetzt pass mal auf.“
Sie stand auf und suchte im Gebüsch hinter der Bank nach etwas. Sie kam mit einem dicken, angekohlten Knüppel wieder zum Vorschein. Den hielt sie hoch, stellte sich vor mich und spreizte wieder die Schenkel. „Du hast ja gesehen, was in so eine Garage passt. Zwei Finger. Vielleicht drei. Und deine ist ja noch viel kleiner als meine. Jetzt stell dir mal vor…“ Sie presste den Ast zwischen ihre Schenkel. „Also stell dir mal vor, so ein Ding wird in deine Garage gezwängt.“
„Aua“, stieß ich unwillkürlich aus.
„Genau. Glaub mir, Kindchen, der Russe kommt mit Knüppeln. Das willst du nicht erleben. Also sei ab jetzt ein braver kleiner Junge und hör auf deine Mutter. Und noch etwas…“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Kein Wort – zu niemandem – darüber, was ich dir gerade gezeigt habe.“
Da konnte sie Gift drauf nehmen. Mutter rief mich in die Küche. Ich war froh, von der Hausen wegzukommen, und gehorchte sofort. In der Küche saß Mutter mit den Rabners, Anne, Heinz und Olga am Tisch. Hinter mir kam auch die Hausen herein. Nur Frau von Stiller fehlte. Vor Olga lag die Ordensschatulle auf dem Tisch. „Is det allet?“, fragte Mutter Olga. Die nickte stumm. Mutter zog die Schatulle zu sich und öffnete sie. „Ach du Scheiße. Det muss allet wech. Keene Hakenkreuze mehr, wenn die der Russe findet! Muttakreuz muss ooch wech – wofür hat die det übahaupt? Wo sind se denn, die Kinda?“ Mutter funkelte Olga misstrauisch an.
„Sind tot. Alle. Noch in Bauch.“ Olga rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her.
„Wat? Muttakreuz für Fehljeburten? Na Heidewitzka, Herr Kapitän! Wo jibtsn ditte?“
„Wennde SS-Liebchen bist, kriegste allet“, ließ die ebenfalls völlig verblüffte Hausen sich von Mutters Berlinern anstecken. Normalerweise sprach sie sehr deutlich und wie gedruckt, außer wenn sie blau war. Mutter drehte das Mutterkreuz in Bronze um und las verächtlich den Spruch auf der Rückseite vor. „Das Kind adelt die Mutter! Heinz, vergrab den Quatsch im Jarten, aber tief, hörste? Und mach Laub drüber.“
Frau Rabner fing schon wieder an zu wimmern. Mutter achtete nicht auf sie und hob die Rotkreuzmedaille von der Kaiserin aus der Schatulle. Sie betrachtete das Stück Metall nachdenklich, wendete es mehrere Male. Alle in der Küche waren mucksmäuschenstill. Es war klar: Mutter hatte hier jetzt das Kommando.
„Anne“, befahl sie schließlich, „schau ma nach, ob hier irjendwo Aaztkittel von Onkel Dietrich zu finnen sind. Heinz, hol ma die Koffer vonne Stilla hoch. Wennse sich muckst, vapasste ihr eene. Gertrud, lass Muttan heuln und jeh ma durch alle Schublaan inne Praxis. Hol det janze Arztzeuch raus: Spritzen, Thermometa, Hördingsbums und son Kram; weeßt schon, watm Dokta so umn Hals baumelt. Erika, hol die Bettlaken vonne Matratzen, alle. Else, lass det Flennen! Du hast doch inne Praxis hier jeholfen früha? Jut. Hilf Gertrud, den janzen alten Krempel zu finden. Und Häubchen. Habt ihr hier nich Häubchen jetragen? Die müssen doch irjendwo noch sein. Und allet raussuchen, won Rotet Kreuz druff is! Und weeßte, wo hier noch Chloroform inne Schränke steht? Det broochen wa vielleicht für die Stilla.“
Ich hatte Mutter noch nie so viel an einem Stück reden gehört. Und sie war noch nicht fertig.
„Tilly, wa brauchen deinen janzen Schminkkram. Ich weeß, datte noch welchen jebunkert hast. Du bist doch ‘ne große Schauspielerin, wa? Na, jetz kannste ma beweisen, datte besser bist als die Dagover. Und Olgachen, rück du ma die Schlüssel für die Koffa raus.“
„Hat Gnädige Frau.“
„Na“, sagte Mutter, „denn machen wa ma ne kleene Leibesvisitation.“ Sie stützte sich entschlossen vom Tisch auf und sagte zu Heinz: „Lass dit ma erstma mit die Koffer, ick ruf dir schon, wennet so weit is. Pass lieber hier uff Olgan uff. Los, Erika, komm mit innen Kella!“
Unten saß Frau von Stiller auf der Holzbank, an die sie mit einer Wäscheleine gebunden war. Heinz hatte ganze Arbeit geleistet; das Fesseln mussten sie ihm bei der HJ beigebracht haben. Oder im Volkssturm? Frau von Stiller war jedenfalls verschnürt wie ein Paket und fachgerecht geknebelt. Ihre sonst so sorgsam gebändigten Haare hingen ihr wirr im Gesicht. Auf ihrer Bluse trockneten Blutflecken. Hinter ihrem rechten Ohr sickerte noch ein bisschen Blut, es begann sich bereits eine mächtige Beule abzuzeichnen.
Frau von Stiller blickte Mutter hasserfüllt an. Die baute sich breitbeinig vor ihr auf und zischte: „Erika, de Laken. Mach hinne und denn wieder inne Küche!“ Dann knöpfte sie der zappelnden Frau die Bluse auf. „Haicks mir doch jedacht!“ Mutter riss Frau von Stiller eine Kette vom Hals, an der zwei kleine Schlüssel hingen.
Ich hatte die Laken zusammengerafft und stahl mich an Frau von Stiller vorbei, ohne ihr in die Augen zu sehen. Auf der Kellertreppe schaute ich mich noch einmal um. Mutter hatte sich über die Gefesselte gebeugt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Frau von Stiller begann wieder wild zu zucken und versuchte, nach Mutter zu treten. Aber sie bekam die zusammengeschnürten Beine nicht hoch. Ich lief schnell die Treppe hinauf.
In der Küche war der Tisch inzwischen voll. Die anderen hatten alles zusammengetragen, was die Arztpraxis zu bieten hatte: Stethoskope (das Wort kannte ich, hatten wir in der Schule gelernt, ich konnte es sogar richtig schreiben!), Spritzen, Kittel, Gummihandschuhe. Schwesterhäubchen hatten sich ebenso gefunden wie mehrere Flaschen und Ampullen mit klaren und trüben Flüssigkeiten. Ich legte die Laken daneben und war unschlüssig, was nun zu tun wäre. Wir standen um den Tisch herum und warteten; nur Olga saß und hatte die Handflächen flach auf den Tisch gelegt. Hinter ihr wachte Heinz. Mutter rief seinen Namen. Er drückte Olga vorsorglich tiefer in den Stuhl und eilte in den Keller. Wenig später tauchte er mit Mutter im Schlepptau wieder auf, in jeder Hand einen Koffer.
Olga hatte ihre Position um keinen Zentimeter verändert. Mutter schaute auf dem Tisch umher, nickte anerkennend, schob ein paar ärztliche Utensilien beisammen, nahm Heinz die beiden Koffer ab und legte sie vor Olga auf den Tisch. Heinz verschwand wieder im Keller, von Mutter augenscheinlich zur Bewachung von Frau von Stiller abkommandiert. Alle schwiegen. Selbst die Rabner wimmerte mal nicht.
Mutter setzte sich neben Olga und legte die Schlüssel vor sie. Olga zog einen der Koffer heran, probierte einen Schlüssel aus, nahm dann den anderen. Der Kofferdeckel sprang auf. Wir alle, die um den Tisch herum standen, traten einen Schritt näher. Die Hausen pfiff durch die Zähne.
Im Koffer lag ein weißer Pelzmantel - Zobel - und nahm den meisten Platz ein. Auf ihm ruhten ein siebenarmiger Leuchter, der silbern funkelte, und eine Schachtel. Mutter nahm den Deckel ab, der mit zwei Schießgummis gesichert war. Die Schachtel war randvoll mit Goldzähnen gefüllt.
Mutter schaute Olga an. Olga schaute Mutter an und zuckte mit den Schultern. Mutter zog den zweiten Koffer heran. Olga öffnete ihn. Auch er enthielt ein Kleidungsstück: eine sorgsam gefaltete Schwesterntracht. Ein Notiz- oder Tagebuch. Ein Fotoalbum. Und eine noch größere Schachtel. Mutter ließ ihren Deckel unberührt.
„Jetz ma alle herhörn“, sagte sie und behielt Olga fest im Blick. „Der Russe steht vor der Tür. Watter hier anstellen wird, könnwa uns ausmaln. Also müssen wa dafür sorgen, datter bei uns nich rinkommt.“
Die Hausen lachte wegen der letzten Bemerkung albern.
Mutter schaute sie ärgerlich an und offenbarte uns ihren Plan: „Der Russe muss Angst vor uns ham. Er muss sich vor Angst inne Kosakenhosen scheißen. Er muss dit Haus meiden wie de Pest.“
„Und?“, fragte die Hausen. „Wie soll das gehen?“
Mutter nahm eine Spritze vom Tisch und hielt sie gegen das Licht. „Janz einfach: Wa holn uns de Pest ins Haus.“
„Dit hier“, fügte sie triumphierend hinzu und wies mit einer weit ausholenden Bewegung in die Küche und darüber hinaus, „is ab jetz ne Kwarantänestation. Wa hängen Rot-Kreuz-Fahnen raus. Die müssen wa noch uff de Laken malen. Dafür brauchen wa Farbe, die finden wa vielleicht im Jartenschuppen. Denn ziehn wa Schwesterntracht an. Olga malt unsn schönet Schild uff Russisch, wo ‚Kwarantäne‘ druffsteht.“
„Und ich?“, fragte Heinz.
„Du, mein Junge bist, krank. Schwer krank und hochansteckend. Typhus. Du bist Patient und liechst im Bett. Anne, Erika und Gertrud ooch. Die Stiller jenauso. Die liecht schon im Koma.“ Mutter zog eine Flasche zu sich, auf der stand: „Chloroform“.
Fassungsloses Schweigen. Sogar der Hausen hatte es die Sprache verschlagen. Mutter fixierte weiter Olga. Die spielte eine Schlüsselrolle in ihrem Plan. Olga sprach Russisch. Olga musste unsere Parlamentärin sein, wenn wir Mutters Geschichte den Russen andrehen wollten. Alles kam darauf an, dass ihr das eigene Schicksal wichtiger war als das ihrer Gnädigen. Olga schaute zu Mutter auf und nickte kaum merklich. Wir machten uns nach Mutters Anweisungen an die Vorbereitungen.
Die Nacht war ruhig, aber nur im Luftraum über Potsdam. Wir hatten im Keller den Drahtfunk an und hörten die Warnung für die Reichshauptstadt: Luftlagemeldung. Feindliche Kampfverbände aus Norden im Anflug. Ich hätte mich auf der Matratze gerne hin und her gewälzt, aber dafür war kein Platz. In meinem Kopf stürzte alles durcheinander. Der Adolf, der Russe, der Knüppel. Dann kamen die Träume.
Die Hausen war mit gespreizten Armen und Beinen an einem riesigen Hakenkreuz aufgehängt. Onkel Dietrich stand mit seinem Karabiner aus dem Großen Krieg vor ihr und schob ihn mit aufgepflanztem Bajonett in ihre Garage, hin und her, rein und raus. Der Hausen tropfte Blut aus dem Schritt. Mutter stand neben dem Onkel und klopfte mit dem Kochlöffel auf einem Topfboden den Takt zu seinen Stößen, immer schneller, immer schneller. Heinz war auch da, er rief ständig: „Bück dich, Mädchen, bück dich, Mädchen!“ Aber die Hausen konnte sich nicht bücken, sie war ja aufgehängt und stöhnte: „Eva raucht, der Führer brennt!“ Frau von Stiller kam in Schwesterntracht dazu, trug ihre Ordensschatulle vor sich, spuckte vor der Hausen aus und zischte: „Deutsche Frauen brauchen Knüppel!“ Sie öffnete die Schatulle, und aus der sprangen Untermenschen, so ganz kleine, nackte, wie Gartenzwerge, aber mit riesigen Schwänzen vorne und hinten. Die Schwänze waren so behaart wie der Schoß der Hausen. Dann fiel eine große Bombe, und wir waren alle tot.
Am nächsten Morgen fanden wir die Rabners. Sie hatten nicht an Mutters Rettungsplan geglaubt. Offensichtlich hatten sie in Königsberg und auf der Flucht zu viel erlebt und wollten es nicht wieder durchmachen. Sie lagen im alten Behandlungszimmer auf dem Boden, neben ihnen einige Pillengläschen, die sie bei der Suche nach medizinischem Material gefunden hatten. Mutter schüttelte nur den Kopf und schickte uns Kinder sofort zurück in den Keller.
Da saß Frau von Stiller immer noch gefesselt und geknebelt. Sie musste eine sehr unbequeme Nacht gehabt haben. Sie sah mich mit einem flehentlichen Blick an. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so etwas mal von ihr sehen würde. Ich schüttelte den Kopf, drückte mich an ihr vorbei, setzte mich auf die Matratze, zog die Beine an und umfasste sie. Ich legte den Kopf auf die Knie und weinte.
Ich musste eine ganze Weile so gesessen haben und eingeschlafen sein, erwachend von einem Pfeifen und Zischen in der Luft. Im Drahtfunk, der jetzt an war, aber sich nur ab und zu noch meldete, sagten sie, es gebe in und um Berlin heute ein großes Flakmanöver mit Übungsmunition. Aber ich konnte rundherum hören, was ich von der Stalinorgel kannte: Zischschschsssss (Pause) Wumm – Wummmm - und WUMM.
„Kein Gegenfeuer von der Wehrmacht aus Wildpark mehr“, sagte Heinz fachkundig. „Die hat es wohl erwischt. Nun dauert es nicht mehr lange. Eigentlich müsste jetzt der Volkssturm ran.“ Er seufzte. „Aber die Armee Wenck ist nahe. Die werden schon zurückschlagen.“ Diese noch Anfang April1945 aufgestellte Truppe, so lernten wir später, bestand im Wesentlichen nur auf dem Papier und scheiterte kurz vor Potsdam.
Heinz saß mit einem Tuch in der Hand auf einem Schemel vor Frau von Stiller. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken, sie hing schlaff in den Fesseln, die er jetzt zu lösen begann. Ein stechender Geruch wie von starkem Schnaps lag in der Kellerluft. „Hilf mir mal. Wir müssen sie nach oben schaffen.“ Widerstrebend fasste ich die Frau, die mal mein Idol gewesen war, bei den Knöcheln. Sie war schwer. Aber wir schafften es. Ich hatte keine Vorstellung davon, was weiter mit Frau von Stiller geschehen würde. Faktisch brachte Mutter sie um, noch am selben Tag.
Oben war inzwischen umgeräumt. Der alte Behandlungsraum war jetzt „Patienten“-Zimmer, damit der Russe gleich über die angeblich Todgeweihten stolperte und marschmarsch kehrt machte. Wir legten die besinnungslose Frau von Stiller neben den Leichen der Rabners ab. Die lagen, von Laken verdeckt, etwas abseits auf zwei Matratzen. „Die fangen erst übamorjen an zu stinken“, sagte Mutter, als sie unsere schreckgeweiteten Augen sah. „Ihr müsst ja nich danehm liejen.“
Mutter trug Frau von Stillers Schwesterntracht, vor ihrer Brust baumelte die Rotkreuz-Medaille. Rote Kreuze waren nun auch auf die Hälften eines geteilten Lakens gemalt, die zu beiden Seiten der Eingangstür an Besenstielen als Fahnen aufgepflanzt waren. Über der Tür hing ein Pappschild mit deutscher und kyrillischer Aufschrift: „Quarantänestation. Typhusgebiet. Achtung, Ansteckungsgefahr!“ Irgendwer hatte einen Totenkopf dazu gezaubert. Ich hatte die Hausen in Verdacht. Die stand, mit einem Arztkittel angetan, neben Mutter, die Hände in den Taschen des Kittels vergraben. Um ihren Hals hing ein Stethoskop, und sie hatte einen sehr überzeugenden Doktorblick aufgesetzt. Auch Olga trug nun Schwesterntracht und Häubchen.
Allen drei Frauen waren Runzeln und Falten ins Gesicht geschminkt, die sie um Jahre älter machten. Jetzt nahm die Hausen ihr Schminkköfferchen und kam auf uns zu. „Na“, sagte sie, „ihr seht ja noch gar nicht krank aus. Jetzt werde ich euch mal anmalen und strikte Bettruhe verordnen.“
Die Hausen schminkte Heinz, Anne und mir schwere Schatten unter die Augen. Sie puderte uns auf bleich. Wir mussten fieberschwitzig aussehen und wurden auf den Stirnen mit Alkohol eingerieben. Während der Prozedur gab Frau von Stiller Lebenszeichen von sich. Mutter griff sich sofort die Chloroformflasche und verpasste der wehrlosen Frau eine neue Dosis. Dann mussten wir uns alle hinlegen. Der Platz war knapp, Anne und ich teilten uns eine Matratze. Heinz lag alleine und schnaufte verächtlich. Aber er gehorchte Mutter, bis zuletzt. Mutter war jetzt unser Führer.
Wir lagen da und warteten. Warteten auf etwas, das wir gar nicht erwarten wollten. Die Hausen und Olga saßen um den Küchentisch und sagten kein Wort. Mutter stand am Fenster und spähte durch die Röntgenaufnahmen. Wie sie später berichtete, liefen jetzt immer mehr Leute mit weißen Armbinden auf der Straße, sofern sie sich auf die Straße trauten. Aber sie mussten aufpassen. In den Dachgeschossen ringsum gab es immer noch versprengte SS-Scharfschützen, die Volksverräter aufs Korn nahmen. Die auf den Straßen liegenden Leichen wurden nicht mehr bestattet. Wer neben ihnen niederkniete, betete nicht für sie, sondern zog ihnen Stiefel und Ringe ab, soweit vorhanden, suchte in ihrer Kleidung nach Zigaretten und Essbarem.
Am Nachmittag hörte Frau von Stiller auf zu atmen. Zu viel Chloroform. Mutter zog auch ihr ein Laken über das Gesicht. Gesprochen wurde weiterhin kein Wort. Den Drahtfunk hatten wir ausgestellt, er war eh nutzlos. Artilleriefeuer war nicht mehr zu hören. Aber draußen näherte sich jetzt das Kettengerassel von Panzern.
Und dann kam der Russe. Die Russen. Es waren drei, und sie klopften manierlich an. Erst schob sich nur eine Gewehrmündung in den Türspalt, den Mutter geöffnet hatte. Mutter wich zurück. Ein Stiefel trat die Tür ganz auf. Der Untermensch war mitten unter uns. Er war nicht viel älter als Heinz, und er lächelte. „Gitler kaputt. Woina aus, aus“, sagte er. Hinter ihm kamen zwei andere junge Burschen mit Maschinengewehren im Anschlag.
Olga in ihrer Schwesterntracht trat würdevoll nach vorn, sagte etwas auf Russisch, zeigte auf „Dr.“ Hausen, uns und die anderen „Patienten“. Die Russen wurden bleich. Der mit dem Gewehr traute sich, etwas näher zu treten, und lüpfte mit seiner Waffe kurz das Laken über den Rabners. Dann türmten die Iwans. „Major kommt!“, rief einer auf Deutsch.
So war es. Der Offizier erschien wenig später im Gefolge von einigen wüst aussehenden Gestalten, die er aber gut unter Kontrolle hatte. Sie waren schlitzäugig, schmutzig, mit Tabakresten auf der zerschlissenen Uniform. Einige von ihnen trugen nicht mal Stiefel. Mir fiel der Begriff „asiatische Horden“ ein, den wir in der Schule gelernt hatten.
Olga stellte Dr. Hausen und Schwester Mutter vor. Der Major nahm von beiden kurz Notiz, schaute prüfend in die Krankenbetten und hatte es dann auch sehr eilig. Wir atmeten auf und schliefen gut. Es war seit Tagen die erste Nacht ohne Bombenangriffe oder Artilleriefeuer.
Am nächsten Morgen kehrten die Russen zurück, mit einem Panjewagen. Mutter sah sie ankommen. Sie stand draußen und peilte die Lage. Gegenüber, das erzählte sie später oft, hoben zwei erwischte SS-Männer im Garten der Nachbarn gerade zwei Gruben aus. Um sie standen Russen und hielten sie mit ihren Gewehren in Schach. Aus dem Haus drangen Frauenschreie – Kriegerwitwe Sörens, ihre zwei Töchter und die Großmutter. Ja, die Großmutter, wiederholte Mutter, schloss die Augen und schüttelte den Kopf, wenn sie die Geschichte erzählte. Die SS-Leute mussten sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen an den Rand der Gruben stellen. Dann knallten Schüsse.
Der Panjewagen war voller typhuskranker Russen, die von ihren Kameraden ins Haus getragen wurden. Junge Männer, alte Männer. Stinkende Männer. Sterbende Männer. Sie legten sie alle neben uns ab. Und täglich brachten sie mehr.
Unser Rettungstrick war zur Todesfalle geworden. Anne war die erste, die sich ansteckte. Es dauerte nicht lange, sie hatte nicht viel zuzusetzen. Dann erwischte es die Hausen, Olga wenig später. Innerhalb weniger Tage waren nur noch Mutter, Heinz und ich übrig. Wir setzten uns in einer dunklen Nacht nach Zehlendorf ab. Mehr will ich darüber nicht erzählen.
Ende