Kapitel 7 La Merde du Roi
Zweiter Teil
7. Kapitel
Ein kleiner Riese und ein großer Zwerg
Mit den Riesen war es so: Sie waren ein wilder und gefährlicher Haufen, und man bekam es lieber nicht mit ihnen zu tun. Andererseits hatte so ein Riese auch Vorteile. Man konnte ihn für Bauarbeiten anheuern, sparte sich so einen Kran. Oder ihn für Kriegsdienste dingen; allein sein unübersehbares Auftauchen auf dem Schlachtfeld schlug ganze Regimenter in die Flucht.
Dies geschah allerdings nicht oft. Leider waren Riesen nicht sehr zugänglich oder kooperativ, und Geld und Gold bedeuteten ihnen wenig. Sie blieben lieber unter sich, oben im hohen Norden, wo sie im Gebirge lebten, natürlich im Hochgebirge, wie es sich für Riesen gehört. Selten stiegen sie hinab in die Täler, wofür die dortige Bevölkerung dankbar war.
Es gab nicht allzu viele Riesen. Keiner hatte sie jemals gezählt, sie selbst schon gar nicht, denn zählen konnten sie genau so wenig wie lesen. Mehr als ein paar hundert dürften sie zu keinem Zeitpunkt gewesen sein. Die Vermehrung war nicht ihre Spezialität. Fand sie ab und an statt, kündeten in den Tälern Bergstürze und Gerölllawinen von klobigem Liebesspiel.
So existierten nicht nur wenige Riesen, sondern vor allem ganz wenige Riesen-Kinder. Eines von ihnen war Trako, den man „den Abgebrochenen“ nannte. Er machte seinen Eltern viel Kummer, weil er einfach nicht ordentlich wachsen wollte. Vor allem für seinen Vater war das peinlich, denn der war Oberhaupt des größten Riesen-Clans. Obwohl sein Sohn schon 14 Jahre alt war, hatte er nur die kümmerliche Körperlänge von vier Metern erreicht. Das war für einen Riesenjüngling gar nichts, weshalb Trako ein sehr einsames Kind fast ohne Spielgefährten war.
Sein einziger Freund war Mitschin, der Zwerg. Wo es Riesen gibt, gibt es natürlich auch Zwerge. Mitschin war ein recht großgewachsener Zwerg, was ihn unter seinesgleichen zu einem ähnlichen Sonderfall machte wie Trako in Riesenkreisen, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Mit seinen 1,20 Metern überragte der halbwüchsige Mitschin erwachsene Zwerge bereits um Haupteslänge, und seine Eltern kämpften anders als die Trakos mit dem Problem, dass ihr Sohn einfach nicht aufhören wollte zu wachsen.
Trako und Mitschin waren gleich alt, das Wachstumsproblem und die daraus resultierende Außenseiterrolle schweißten sie zu einem Team zusammen. Auch dies war ungewöhnlich, denn Riesen und Zwerge haben gewöhnlich wenig miteinander zu tun. Vor allem die Zwerge mieden die Riesen, deren Sehkraft sehr schlecht war. Was zu ihren Füßen geschah, nahmen die Giganten kaum wahr und waren deshalb schon über manchen armen Zwerg hinweggetrampelt. Die Zwerge lebten zwar nicht im Hochgebirge, sondern in den dichten Wäldern des Nordens. Sie suchten die Bergwelt aber oft auf, um in Höhlen und Felsspalten ihrem nicht zuletzt wegen der Riesen gefährlichen Broterwerb nachzugehen, dem Abbau von Erzen und Edelmetallen.
Trako und Mitschin saßen an diesem schönen Sommertag an ihrer Lieblingsstelle, einem Plateau halberwege zum Tal, knapp vor der Baumgrenze. Dort gab es Schatten und guten Ausblick auf diverse Berghänge. Mitschin lümmelte sich an Trakos Oberschenkel, streckte die Beine aus und musterte seine bloßen Zehen. „Ich glaube, ich bin schon wieder gewachsen“, stellte er fest. „Echt jetzt?“, antwortete Trako. „Ich bin schon froh, wenn ich nicht schrumpfe.“
„Ach, Großer“, sagte Mitschin und wollte noch etwas hinzufügen, kam aber nicht mehr dazu. Plötzlich erfüllte ein Sirren die Luft, dazu viel Geschrei und Gefluche, das aus den Büschen hinter ihnen drang. Mitschin rollte sich panisch beiseite, als er seinen Freund weit über sich nach Luft ringen hörte. Aus dem Hinterhalt geworfene Seile hatten sich um Trakos Hals und Oberkörper gelegt; schon tauchten Bewaffnete aus dem Unterholz auf und zogen kräftig an ihren Lassos, den röchelnden Riesen zu sich ziehend.
Mitschin sah ein, dass er keine Chance hatte, dem Freund zu helfen, der vor seinen Augen entführt wurde. Der Zwerg duckte sich ins hohe Gras und hoffte, dass er trotz seiner stattlichen Zwergengröße nicht entdeckt werden würde. Doch die Strolche, die seinen Kumpel nun zu sich gezogen und fachgerecht verschnürt hatten, schenkten dem Zwerg keinerlei Aufmerksamkeit, was Zwerge freilich gewohnt sind. Die Schurken luden den strampelnden Trako mit vereinten Kräften auf einen überlangen Karren für den Transport von Baumstämmen, den sie nun davonschoben.
Mitschin war nun allein, so allein wie noch nie in seinem Leben.
Schwester Ignatia
Äbtissin Canard Latroisse war über den jüngsten Neuzugang in ihrem Kloster nicht sonderlich begeistert. Sicher, der Duc de Laballe hatte sich die Aufnahme seiner Tochter Claudine als Novizin eine stattliche Spende kosten lassen. Sie würde dafür reichen, die große Glocke wieder in Betrieb zu nehmen, deren Aufhängung im Turm seit Jahren reparaturbedürftig war.
Auch das vom Königlichen Alchimisten, Kriegsingenieur, Skulptor und Maler Manacardi angefertigte Fresko im Refektorium, wo die Nonnen ihre Speisen zu sich nahmen, würde generalüberholt werden können. Manacardi hatte es wie immer mit großem Pomp und Versprechungen begonnen, war dann mit der Arbeit in Rückstand geraten, hatte den Untergrund nicht mehr richtig bearbeitet und ein zwar wunderschönes, aber stetig abblätterndes Kleisterwerk hinterlassen, an dem ständig herumrepariert werden musste.
In der rechten unteren Ecke der vier mal neun Meter großen Darstellung des Jüngsten Gerichts hatte er sich mit einer großen und schwungvollen Signatur verewigt (die übrigens zuerst verblich). Über ihr gähnte ein gänzlich weißes Rechteck, in dem der Speiseplan aufgehängt zu werden pflegte. Nicht wenigen Novizinnen verging der Appetit, wenn sie von ihrem Teller zu dem Pandämonium aus Drachen, Dämonen und Höllenbrut aufschauten, das Manacardi an die Wand geworfen hatte.
Die jüngste Novizin, Claudine de Laballe, war gegen ihren Willen zur keuschen Braut Jesu Christo geworden, das war der Äbtissin bewusst. Derlei kam vor und war kein Einzelfall. Noch jeder neuen Dienerin des Herrn, mochte sie auch aus den höchsten Kreisen des Adels stammen, hatte bisher mit Küchendiensten, Bodenschrubben und Gartenarbeit ihr Platz in der göttlichen Weltordnung zugewiesen werden können.
Claudine allerdings war ein besonderer Fall. Bei ihrer Ankunft im Kloster war sie mit einer Kutsche und zwei weiteren Pferdegespannen vorgefahren. Einer der Wagen enthielt ausschließlich ihre Hutschachteln, der andere ihre Garderobe.
Nachdem man die Aspirantin auf die spirituelle Vermählung mit dem Erlöser darauf hingewiesen hatte, dass sie außer Ordenstracht und dem einen oder anderen härenen Gewand im Kloster keinerlei Haute Couture zu erwarten hatte, war der ganze Plunder einem Autodafe zum Opfer gefallen, einem reinigenden Feuer, dem Claudine zeternd und weinend zusah – nachdem man sie an einen Baum binden musste. Sie schrie: „So werdet ihr bald alle brennen, Höllenbrut!“
Seitdem war es nicht viel besser geworden mit dem neuesten Schützling der Äbtissin. Kummervoll entfaltete die Klostervorsteherin den Zettel, den die mittlerweile in strikter Einzelhaft bei Wasser und Brot in ihrer kargen Klause gehaltene Novizin unter der Türritze hindurchgeschoben hatte:
„Ich kriege euch alle. Alle. Ihr seid Rattenfutter. Meine Rache wird fürchterlich.“ Eine echte Laballe. Die Äbtissin seufzte. Was hatte sie sich da nur eingehandelt?
Währenddessen lag Claudine auf ihrer harten Pritsche und träumte von den weichen Pfühlen ihres Schlafgemachs im väterlichen Palast. Deren Komfort hatte dort jeden Abend durch Lagerung einer Erbse unter der Matratze überprüft zu werden. Es gab eine Magd, die nur dafür zuständig war. Wenn die Bettzeit nahte, schüttelte sie Linnen und Decken auf, verbarg jedes Mal an einer anderen Stelle die Erbse und harrte darauf, dass die Comtesse sich betten und ihr Einverständnis zum einwandfreien Zustand ihrer Schlafstatt geben würde.
Claudine streichelte den güldenen Apfel von der Brautschau im Königspalast, den sie, so dachte sie damals noch, niemals mehr hergeben würde. Ihn hatte sie gerettet, immerhin. Sich selbst würde sie auch noch in Sicherheit bringen, das war gewiss. Und wie gesagt: Ihre Rache würde fürchterlich werden. An der Äbtissin. An ihrem Vater. An ihrem Bruder. An allen. Und zwar bald.
Claudine hatte Hochmut, Rachlust und Gewissenlosigkeit. Was ihr fehlte, war ein Plan. In ihrer Klause blätterte sie in der Bibel. „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr“, las sie darin. Das gefiel ihr. Sie las außerdem: „Sein Zorn brennt wie Feuer, und die Felsen zerspringen vor ihm.“ Das fand sie noch besser.
Claudine de Laballe hatte in diesem scheiß Kloster schon nicht nur weit unter ihrem Stand viel zu viele Böden schrubben, sondern sie auch fegen müssen. Wo die Reisigbesen nahe der Scheune aufbewahrt wurden, wusste sie. Es wurde Zeit für ein Fegefeuer.
Den Großen Brand des Klosters der Schwestern der Unbefleckten Empfängnis überlebte keine einzige Nonne. Eine wurde als dauerhaft vermisst gemeldet: Schwester Claudine. Ihr angenommener Ordensname lautete Ignatia.
Der Riesenstab versagt
Nach Trakos Entführung wurde sofort der Riesenstab einberufen. Mitschin als einziger und in diesem Kreis nicht wohlgelittener Augenzeuge sah sich auf dem Versammlungsplatz vom Dorfhöchsten und dessen Gefährten umringt (in den Gemeinschaften der Riesen gab es keine Dorfältesten, denn gesellschaftliches Ansehen bemaß sich bei ihnen nach Körpergröße, nicht nach Lebensalter) und sollte Bericht erstatten. Dabei fühlte er sich recht – nun ja, mitschig halt.
Mitschin war mit Nackenstarre kaum in der Lage zu erkennen, mit welch abschätzigen Mienen man ihn von oben herab betrachtete, aber er konnte es sich vorstellen. Im Zwergenvolk hieß es seit Anbeginn seines Bestehens: Fällst du unter die Riesen, achte auf ihre Füße, nicht auf ihr Gesicht.
Trakos Vater, Turmo der Trampler, hatte größte Mühe gehabt, den Zwerg überhaupt in der Runde der Riesen vorsprechen zu lassen. Die Vorbehalte gegen Zwerge, das muss man verstehen, waren unter den Riesen so groß wie sie selbst.
Riesen und Zwerge waren nämlich verwandter, als beide Völker es zugeben wollten. In grauer Vorzeit waren sie gemeinsamen Vorfahren entsprungen: den kleinwüchsigen Gernegroßen und den großmäuligen Kleingeistern, die damals einer einzigen, dann schnell zerstrittenen Sippe angehörten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Mitschin sagte: „Trako ist entführt worden, zügig und geplant.“
Schmacko der Schmetterer sagte: „Was sagt er?“ und beugte sich dem Zwerg entgegen.
Mitschin brüllte: „Ich sage, es handelt sich wahrscheinlich um eine Geiselnahme. Eine Riesensauerei.“
„Hat der Kleine überhaupt was zu sagen?“, fragte Betram der Brecher und blieb betont aufrecht sitzen.
Mitschin seufzte. Es würde noch viele Generationen brauchen, bis politisch korrekte, durchgängig größenneutrale Kommunikation zwischen Zwergen und Riesen möglich wäre, das war ihm schon immer klar gewesen.
Doch Mitschin war ein großer Zwerg, so mitschig er den Kolossen auch erscheinen mochte. Das Größte an ihm war sein Mundwerk.
„HALLO! AUFWACHEN! ZUHÖREN!“, schrie er.
Krach der Knacker wandte sich erstaunt zu seinem Nachbarn, Umo dem Umhauer. „Der Kleine hat was gesagt, glaube ich.“
So ging das eine Stunde lang. Turmo der Trampler schaute zwar besorgt, aber niemand im Riesenstab ließ sich wirklich dazu herab, die Situation mit dem immerhin recht großgewachsenen Zwerg wirklich zu diskutieren. Sie war ja ohnehin klar: Trako war weg, und irgendjemand musste daran schuld sein.
Die naheliegende Antwort darauf lautete für die Riesen wie immer: Die Zwerge steckten dahinter. Zufällig war gerade einer anwesend.
Die Situation wurde für Mitschin bedrohlich. Da kehrte der ausgeschickte Suchtrupp zurück, der nach Trakos Verbleib forschen sollte. Aufgespürt hatte er den Abgebrochenen nicht, aber er brachte einen Fund mit.
Stelzer der Starke überreichte Turmo dem Trampler ein Schriftstück. Nun ja, ein Stück Papier. Der Begriff „Schriftstück“ gehörte nicht zum Riesen-Wortschatz, denn sie konnten ja weder schreiben noch lesen.
Turmo wendete das Papier unschlüssig in seinen Händen. Mitschin verlangte danach.
„Darf ich?“
Was für Turmo nur ein Zettel war, fiel auf den Zwerg hernieder und bedeckte ihn fast. Die Entführer hatten daran gedacht, ihr Erpressungsschreiben im Riesenformat abzufassen – DIN-A-Giga. Offensichtlich war ihnen aber unbekannt gewesen, dass Riesen sich mit Papier höchstens den Hintern abwischten.
Mitschin breitete die für ihn begehbare Botschaft vor sich aus und las vor:
„Riesen! Grüße aus den Hallen des Großmächtigen Duc de Laballe!
Nehmt dies zur Kenntnis: Es herrscht Krieg. Der totale Krieg erfordert gewisse Maßnahmen. Dazu gehört, dass ihr euch einer militärischen Spezialoperation anschließt. Um eure patriotische Mitwirkung zu gewährleisten, haben wir euren Thronfolger in Gewahrsam genommen. Ihm wird nichts geschehen, solange ihr eure vaterländische Pflicht tut.“
„Thronfolger? Pah! Seit wann gibt es hier einen Thronfolger?“. Betram der Brecher rückte an Turmo den Trampler heran und fixierte ihn. „Doch nicht etwa deinen Abgebrochenen, den Halbzwerg? Soweit ich weiß, wählen wir unseren Dorfhöchsten immer noch selbst.“
Betram rechnete sich seit Langem Chancen aus, Turmo abzulösen. Einige seiner Gefolgsleute scharten sich um ihn und brachten mit Schwingen ihrer Keulen demokratische Gesinnung zum Ausdruck.
Mitschin versuchte, sich Gehör zu verschaffen. „Könnten wir die verfassungsrechtlichen Diskussionen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben?“, verlangte er.
„Hat er was gesagt?“, fragte Schmacko der Schmetterer.
„Hört doch“, rief Mitschin und las weiter vor:
„Wir verlangen eine Riesen-Kompanie von 50 Kombattanten, um die feindliche Manacardi-Linie zu überwinden. Nach dem Endsieg werden wir Trako unversehrt entlassen. Das Volk der Riesen wird im neuen Laballe-Großreich gigantischen Heldenstatus erlangen und von vielerlei Privilegien profitieren können.“
Mitschin schluckte und verschwieg den letzten Satz:
„Die Auslöschung aller Zwerge garantieren wir selbstverständlich ebenfalls.“
Im Kerker der Laballes
Ein vier Meter langer Gefangener, mochte er auch noch so gut angekettet sein, flößte den Kerkerknechten der Laballes Respekt ein. Sie betraten Trakos Verlies grundsätzlich zu dritt und mit gezogenem Schwert.
Dem Riesen stand der Sinn gegenwärtig jedoch nicht nach Gegenwehr, er befand sich in einem beklagenswerten Zustand. Seine Haut war voller Abschürfungen und kleiner Wunden, die sich zu entzünden begannen. Da er für einen Riesen außergewöhnlich intelligent war, litt er außerdem unter einer Unpässlichkeit, die seine Verwandten nie ereilte, einer Gehirnerschütterung. Die Schergen Laballes hatten ihm bei seiner Entführung ordentliche Knüppelhiebe auf den Schädel verpasst.
Trako war benommen, er ließ den Kopf hängen. Sein erster halbwegs klarer Gedanke galt seinem Kumpel Mitschin. Hatten sie den auch erwischt? Schmachtete er in einem Kerker nebenan? Oder war er gar tot?
Trako kollerten die Tränen über die Wangen, denn er war ein sensibler Riese. Sehr sensibel, weshalb sich zu seinen angeketteten Füßen schnell eine Pfütze bildete. Normalerweise hätte man beim Anblick des Gefangenen von einem Häuflein Elend gesprochen. Angesichts seiner Körpermaße handelte es sich allerdings eher um einen beträchtlichen Haufen Elend.
Henri de Laballe saß in angemessenem Sicherheitsabstand von dem Riesen auf einem hölzernen Faltstuhl und wartete mit einem ebenso selbstgefälligen wie verächtlichen Lächeln darauf, dass Trako vernehmungsfähig werden würde. Normalerweise hätte Henri mit seinen eigenen, sehr speziellen Methoden nachgeholfen, aber sein Vater hatte ihm aufgetragen, den Gefangenen möglichst pfleglich zu behandeln. Trako stellte schließlich eine kostbare Beute mit hohem Verhandlungswert dar.
Trako hob den Kopf. Laballe hob seinerseits die Hand und bedeutete seinen Leibwachen, ihre gezückten Schwerter auf die Kehle des Riesen zu richten. „Herzlich willkommen im Gästetrakt unseres Schlosses. Ich hoffe, die Unterbringung ist nach deinem Geschmack. Kannst du mich hören, kleiner Riese?“
Der Gefangene richtete den Blick auf seinen Entführer. Was er sah, gefiel ihm nicht. Trako mochte sensibel sein, feige war er nicht. „Wo ist Mitschin?“, knurrte er.
„Mitschin?“ Henri de Laballe schaute sinnend an die Kerkerdecke. „Ah, das ist die kleine Ratte, die bei dir war, nehme ich an? Sie ist – sagen wir mal – artgerecht in einem Käfig aufgehoben. In einem Käfig, der über unserer Jauchegrube hängt. Wie würde es dir gefallen, wenn wir den absenken?“
Es konnte nie schaden, ein wenig zu bluffen. Außerdem machte es Spaß, in den Augen des Riesen Entsetzen flackern zu sehen.
Trako zerrte an seinen Ketten. Er war mit Hand- und Fußgelenken an die Kerkerwand geschmiedet, aber die Verankerungen der Fesseln waren für normalkräftige Gefangene vorgesehen. Rund um sie begann Mauerwerk zu bröckeln.
Laballe sprang auf und wich sicherheitshalber zur geöffneten Kerkertür zurück. Er trat dabei seiner tapferen Leibwache auf die Füße, die das Weite suchen wollte.
„Idioten!“, herrschte er sie an. „Macht euch die Heulsuse Angst? Mich solltet ihr fürchten! Schnell, den Kerkermeister mit mehr Ketten herbei! Und man bringe Zement! Meine Bullenpeitsche auch!“ Scheiß auf seinen alten Herrn, den Schwächling – jetzt würde Henri seine eigenen Methoden anwenden.
Im Wald – mit einer alten Feindin
Der Riesenstab war in dem unausweichlichen Tumult geendet, der Versammlungen der Riesen stets abzuschließen pflegte. Trakos Vater Turmo hatte sich mit Krach dem Knacker, Umo dem Umhauer und einigen weiteren Getreuen sofort auf den Weg zum Schloss der Laballes aufgemacht, um dort nach dem Schicksal seines Sohnes zu forschen. Betram der Brecher, Schmacko der Schmetterer und ihre Leute trampelten zunächst ein nahegelegenes Birkenwäldchen nieder, um sich abzureagieren, und erinnerten sich dann wieder an Mitschin, der wie alle Zwerge wahrscheinlich an allem schuld war.
Das war der Zeitpunkt, zu dem der Zwerg sich aus dem Staub machte. Er verschwand im Unterholz rund um die Riesen-Siedlung und bewegte sich durch den Eichenwald talwärts, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Von seinen eigenen Leuten brauchte er keine Unterstützung zu erwarten. Ein Riese war verschwunden? Na prima! Möge es ihnen allen so ergehen!
Mitschin verschnaufte an einem Abhang und sah hinunter ins Tal. Dort stand etwas im Himmel, gleich hinter der Befestigungsanlage: eine Rauchsäule. Offenbar brannte es im Kloster der Schwestern der Unbefleckten Empfängnis. Mitschin glaubte nicht an Zufälle. Ob das wohl auch das Werk der Laballes war?
Hinter ihm raschelte es im Gebüsch. Mitschin griff sich einen herumliegenden Ast und machte sich für einen Kampf bereit, denn er war ein wehrhafter Zwerg. Aus dem Gesträuch rollte ihm eine goldene Kugel vor die Füße. Ihr folgte ein Fluch, ein Warnschrei: „Das ist meine, Finger weg!“ – und dann Claudine de Laballe, in höchst unhöfischem Zustand, mit zerrissenem härenen Gewand und Kletten im zerzausten Haar.
Mitschin kannte Claudine. Nicht persönlich, nur als Warnung. Aber die reichte. Wenn Zwergen-Mütter unartige Kinder zur Ordnung riefen, dann sagten sie: „Sei folgsam, sonst holt dich die Laballe!“ Wie „die Laballe“ aussah, wusste er, denn im Zwergendorf hing ein Bild von ihr am Pranger, stellvertretend. Zu gern wären die Zwerge des Originals habhaft geworden. Denn Claudines früheres, völlig untätiges Dasein am Hof der Laballes hatte nach Zerstreuung verlangt. Neben mechanischen Nachtigallen und kastrierten Mohren als Leibdienern hatte sie Hofzwerge gesammelt. Ihr rustikaler Umgang mit ihnen erforderte ständigen Nachschub.
Zum einen stellte Claudine die Gnome gerne als lebende Dekoration im Schlossgarten auf, wo sie regungslos und stundenlang in sengender Sonne zu verharren hatten. Zum anderen verlustierte sie sich an Zwergenparaden. Die kleinen Kerle hatten dann bis zur Erschöpfung in maßgeschneiderten Fantasieuniformen vor ihr aufzumarschieren.
Die Zwergenhäscher der Laballes waren unter Mitschins Volk gehasst und gefürchtet. Nun war ihre Auftraggeberin direkt vor Mitschin aus dem Nichts aufgetaucht. Und der hatte einen kapitalen Knüppel in der Hand, halb so lang wie er selbst – hochwertiges, belastbares, schädelknackendes Eichenholz, kein bisschen morsch. Die Gelegenheit war günstig, denn Claudine, nur an ihr Gold denkend, hatte sich dem Zwerg quasi zu Füßen geworfen, um die ihr entglittene Kugel zu sichern. Mitschin dachte voll Ingrimm an viele verschollene Familienangehörige und holte mit dem Ast aus.
Fortsetzung im September