Mancherorts blieb kein Stein auf dem anderen, wurde die gesamte Bevölkerung ausgelöscht, versanken vormals blühende Weiler zu Wüsteneien. Die Opfer blieben namenlos, die Täter sind unter vielen Bezeichnungen bekannt: Mongolen, Petschegenen, Kumanen, Oghusen, Osmanen, Magyaren, Walachen, Szekler, Habsburger, Söldner. Opfer- und Täterrolle konnten schnell wechseln.


Diverse Adlige jedweder Herkunft, die ihre Fehden miteinander austrugen, machtversessene Könige und Sultane, verrückte Menchenschinder und habgierige Plünderer: Sie machten das Land und alles, was man ihm abrang, unsicher. Dies ist der Ursprung des in Europa unvergleichlichen historischen Erbes, das die siebenbürgischen Kirchenburgen ausmacht; ihnen eine Aura verleiht, die ihren Gegenstücken in Deutschland, Österreich und Frankreich fehlt.


Die siebenbürgischen Wehrkirchen mögen im Weltmaßstab ihrer Zeit weder künstlerisch noch wehrtechnisch viel hergemacht haben, im Vergleich mit stolzen Ritterburgen oder gar den architektonischen Leistungen der italienischen Renaissance. Der Kirchenburg-Experte Hermann Fabini nennt sie aus kunstgeschichtlicher sowie militärischer Sicht eine nur „provinzielle Reflektion“ dessen, was anderswo zu größerer Blüte gelangte. Doch weist er auch darauf hin, dass man sich ihrer wuchtigen Wirkung als Zeugnis der Zeit, einer rauen, den Menschen alles abfordernden, kaum entziehen kann: „Diese Bauten wurden als Überlebenskapseln in extremer Bedrohung geschaffen.“[1]


Der Brunnen, der Speckturm, die übrigen Vorratskammern, die Behelfsschule, die Wehrgänge, die Werkstätten, die Obdachsräume und natürlich, in der Mitte, als letztes Refugium, die Kirche: Diese Wehranlagen waren darauf ausgelegt, Belagerungen zu widerstehen.

Manchmal half das freilich nichts. In Wolkendorf, so weiß Fabini zu berichten, zogen sich im frühen 17. Jahrhundert 300 Dorfbewohner in ihre Kirchenburg zurück. Die rundum marodierenden Schergen des berüchtigten ungarischen Fürsten Báthory zündeten ihre Zuflucht an. Offenbar hatte sie viele Holzanteile, denn es gab nur sechs Überlebende.


Wer heute in Birthälm, Honigberg, Deutsch-Weißkirch oder Wolkendorf die Türme der Kirchenburgen erklimmt, mit dem Smartphone in die dunklen Stuben blitzt, die damals nur von Talglichtern erleuchtet sein mochten, einmal rund um die soliden Mauern geht: Den umweht ein Hauch der Mühsal, die das Erschaffen dieser letzten Hoffnung aufs Überleben ebenso erfordert haben muss wie das Ausharren in ihr, während jenseits der Mauern Häuser, Felder, Schuppen, Ställe brannten, der Sohn, der Vater es vielleicht nicht mehr in die Burg geschafft hatten, weil sie vergeblich den Hof verteidigten, die Kinder sich bang an die Mutter klammerten und man sich den letzten Bissen vom Mund absparte; derweil wartete, wartete, nach draußen lauschte und betete. Viel betete. Lange betete.


Und wenn der Sturm vobei war, die Sodateska ihr gottloses Werk verrichtet hatte, dann traten die Überlebenden vielleicht an einem wie zum Scherz sonnenbeschienenen Tag zum ersten Mal seit Wochen aus der Kirchenburg, unter einen strahlend blauen siebenbürgischen Himmel; zögernd, stinkend, hungrig und versehrt, an Leib wie Seele. Und suchten in den rauchenden Trümmern ihres einstigen Zuhauses nach etwas, das noch verwertbar war. Wie es Kriegsopfer seit Jahrtausenden tun. Wenn der Sturm endlich vorübergezogen ist.


Man bestattete die Leichen. Und fing wieder an. Schaute auf die Kirchenburg und dankte dem lieben Gott. Wofür, wusste man gerade nicht so genau. Aber es musste ja weitergehen, nicht wahr, helfgott. Und sowie die erste Ernte wieder eingefahren war, gaben alle ihren Teil dazu, dass die Mauern der Kirchenburg verstärkt wurden.


Ein feste Burg. Kaum ein Text über die siebenbürgisch-sächsischen Wehrkirchen kommt ohne diese Anleihe bei Luther aus. 1491 priesen die Kronstädter „Verteidigungsanstalten“, strikte Anweisungen für die Wehrtüchtigkeit, Gott ausdrücklich als „sichere und feste Burg“ – und ordneten gleichfalls an, mit wie vielen „beherzten Männern“ die Stadttore und Ecktürme im Ernstfall zu besetzen seien. Es folgte der Ratschlag, außerdem solle „ein jeder bereit haben eine große Axt“. Natürlich nicht „Weiber, Magden, Kinder und Knaben“; die hatten zu beherzigen, dass sie „kein Geschrei noch kläglich Heulen anrichten“ oder gar kopflos in den Gassen „umbher“ laufen. Wer sich seiner Verteidigungsaufgabe entzog, dem drohte übrigens die „Verliehrung des Kopffs“.


Darüber, wie viele Kirchenburgen es in Siebenbürgen noch gibt, schwanken die Angaben. Man darf sich auf rund 150 einpendeln, scheint es. Und es könnte sein, dass etwa die Hälfte davon alles andere als fest ist, vielmehr vom Verfall bedroht.


Die Sachsen türmten ihre wehrhaften Zufluchtsstätten einst auf, um den Fährnissen der Zeit zu trotzen. Die Rumänen, damals ein Hirtenvolk, zogen sich bei nahender Gefahr lieber in die Hochwälder der Karpaten zurück. Wer schlauer war, bleibt dem Urteil des Betrachters überlassen. Heute sind die sächsischen Kirchenburgen gleichermaßen ein Sinnbild für Bestehen wie Vergehen. Sieben aus Siebenbürgen haben es auf die UNESCO-Kulturwelterbe-Liste geschafft, welch Zufall.


Der Erhalt der deutschen Wehrkirchen ist zur Gemeinschaftsaufgabe der Republik Rumänien und der Bundesrepublik Deutschland geworden. Die dafür gegründete Stiftung steht unter der Schirmherrschaft des rumänischen wie des deutschen Staatspräsidenten. Sie zieht Geld, Freiwillige und Experten an Land, darunter einen Uhrmachermeister aus Heidelberg, der sich um siebenbürgische Kirchturmuhren kümmert: auf dass Zeit bewahrt bleibe, aber nicht stehenbleibt.


In einer Broschüre nennt die Stiftung die Kirchenburgen „Sinnbilder ererbter Wehrhaftigkeit“ und gibt zu erkennen, dass es sich um rein sächsische Kulturdenkmäler handelt, eingebettet in eine „pluriethnisch geprägte Tradition dieses Landstrichs“.


Nur leider, das geht aus dem Text auch hervor, gibt es nur noch wenige, die diese „ererbte Wehrhaftigkeit“ erhalten wollen oder können: „Die meisten Siebenbürger Sachsen haben in den letzten Jahrzehnten die Region verlassen.“ Die stark geschrumpften evangelisch-deutschen Gemeinden vor Ort seien „kaum noch in der Lage, das kulturelle Erbe aus eigener Kraft zu erhalten“. Doch gebe es auch Hoffnungszeichen: eine seit einiger Zeit „einsetzende Identifizierung der rumänischen Gesamtbevölkerung mit dem kulturellen, insbesondere dem architektonischen Erbe der Siebenbürger Sachsen“.



Ein gutes Beispiel dafür ist Kleinschenk (Cincsor). Der Ort liegt im Prinzip in the middle of nowhere. Dennoch hat es sächsische Beharrlichkeit geschafft, ihn zu einer Attraktion zu machen, nicht zuletzt für Rumänen. Eine zurückgekehrte Sächsin hat dort zusammen mit ihrem Mann rund um die Kirchenburg des Dorfs ein stimmiges Gesamtkonzept aus Denkmalpflege, Kulturangeboten, Gastronomie und Gastlichkeit etwickelt. Es setzt nicht auf Deutschtümelei, sondern zieht Einheimische aus dem ganzen Land an, die in gediegenem Ambiente auf „pluriethnischen“ Spuren wandeln. Ein fesche Burg!


https://transilvania-cincsor.ro/en/home/


Eine Übersicht über die Standorte der Kirchenburgen in Siebenbürgen sowie die Arbeit der Stiftung für deren Erhalt erschließt dieser Link:

https://kirchenburgen.org/kirchenburgen/


 
[1] „Die Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen“, Hermann Fabini, Monumenta-Verlag, Sibiu-Hermannstadt, 2013