Evangelischer Speck


Ganz Transsilvanien ist vom Halloween-Virus infiziert. Ganz Transsilvanien? Nein! Ein noch von ein paar Siebenbürger Sachsen bewohntes Dorf so ziemlich in der Mitte Rumäniens hört nicht auf, dem invasiven Kommerz Widerstand zu leisten. Am 31. Oktober begehen die Sasi, wie die Rumänen die alten Saxones nennen, dort mit einem altsächsischen Gottesdienst den Reformationstag und erinnern damit an die 95 Thesen Luthers, mit denen 1517 die Kirchenspaltung begann. Der Pfarrer tut dies bei dieser Gelegenheit auf Saksesch.

Seine Predigt im alten siebenbürgisch-sächsischen Dialekt, einer moselfränkischen Mundart, die im Hochmittelalter entstand, versteht zwar nur eine Minderheit der Kirchengänger noch vollständig. Alle aber sind vereint im heißen Begehren nach der Labsal, die nach dem Gottesdienst im Pfarrhaus auf sie wartet: Evangelischer Speck.

Dieser Brotaufstrich aus durch den Fleischwolf gedrehtem fetten Speck, Zwiebeln und hartgekochten Eiern ist nicht jedermanns Sache, in dessen Brust kein sächsisches Herz für die ehrwürdige Tradition dieser im Verschwinden begriffenen deutschen Volksgruppe schlägt. Die Verbindung der Speise mit der Reformation, die unter den Siebenbürger Sachsen einst besonders erfolgreich um sich griff, macht das feurige Bekenntnis zu den für Außenstehende recht überschaubaren kulinarischen Vorzügen des Evangelischen Specks für sie jedoch zur Ehrensache.

Kürzlich wurde daraus in Kleingroßdorf, wo die deutsche Gemeinde noch um die 100 Glieder zählt – bei Weitem nicht alle Sachsen –, ein kleines Drama.

 

„Pfui Teufel!“ dachte Michael, drehte sich zur Wand und spuckte das gerade abgebissene Stück der Brotschnitte in seiner linken Hand verstohlen in seine rechte, ballte sie zur Faust und widmete sich dann wieder dem Geschehen im Pfarrhaus, dabei nach einer Serviette oder einem Papierkorb Ausschau haltend. Es gab weder das eine noch das andere.

Sein Vater befand sich in angeregtem Gespräch mit dem Pfarrer, einem Turm von Mann mit riesigen, klobigen Händen. Der Pfarrer trug noch sein Ornat. Es bestand aus einem schwarzen, knielangen Leibrock, dem Dolman. Darüber trug der Gottesmann den eng gefältelten, offenen Krausen Rock. Auf dem Kopf des Pfarrers saß ein Barett.

Seinen Dolman hielt an der Taille ein ebenfalls schwarzer Samtgürtel mit Troddeln zusammen. Oberhalb der Hüfte verschloss den Leibrock vor der Brust des Pfarrers eine lange Reihe silberner, sorgfältig geputzter Spangen – die Krepel.

Die hatte Michael schon während des Gottesdienstes bewundert, als sie im Kerzenlicht gänzten. „Cool“, dachte er auch jetzt wieder und trat näher,  die angespeichelte Brot- und Speckmasse in seiner rechten Hand gedankenverloren knetend.

Seine Eltern hatten ihn in diesem Urlaub durch allerhand Kirchen geschleppt; sie nannten sie Kirchenburgen, und tatsächlich sahen einige davon teilweise aus wie seine Playmobil-Ritterburg daheim in Schwäbisch Hall. Er selbst wäre lieber wieder nach Gran Canaria gefahren, aber seine Eltern hatten es für an der Zeit gehalten, dass er mal das Land ihrer Herkunft sah, wo sie selbst einst ihre Jugend verbracht hatten, bis sie nach Deutschland abhauten. Der Reformationsgottesdienst im alten Heimatdorf stellte für sie den Höhepunkt der Reise dar, die ihnen an verschiedenen Orten schon die Tränen in die Augen getrieben hatte.

Michaels Vater bemerkte, dass sein Sohn sich näherte. Er wandte sich ihm halb zu und rief: „Ah, Michi! Komm mal her und sag dem Herrn Pfarrer guten Tag!“

Der Pfarrer lächelte ein gütiges Lächeln, beugte sich zu Hendrik hinunter, deutete erst auf die linke Hand des Kindes mit der Stulle und streckte ihm dann seine eigene rechte entgegen. Dabei sagte er: „Na, mein Sohn, ich sehe, du hast den Evangelischen Speck schon gefunden. Schmeckt er dir denn?“

Michaels Schritt stockte. Die schleimige Masse in seiner Faust brannte plötzlich wie Feuer. Er musterte entsetzt die Pranke des Pfarrers, verbarg seine eigene rechte Hand hinter dem Rücken und schüttelte den Kopf.

Der Pfarrer runzelte die Brauen. Michaels Vater sagte ungehalten: „Nun gib dem Herrn Pfarrer schon die Hand. Wird’s bald?“. Michael blickte zum Pfarrer auf. Dieser nickte ihm aufmunternd zu. Michael schaute zu seinem Vater. Der neigte den Kopf in Richtung des Pfarrers und bedeutete seinem Sohn damit, nun endlich dessen Hand zu ergreifen.

Michael seufzte und griff zu. Der Pfarrer vergab, wie es seine Berufung ist.